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3Tagebuch [Tilly-Briefe] 3. XI. 1911 – 23. XII. 1912 [Rudolf Carnap: Tagebücher]

🕮\(_{4}\)aAm Beginn des Dokuments stehen eine hier nicht wiedergegebene Seite mit der Überschrift Mainberg Adressen sowie zwei nicht von Carnap verfasste Briefe Tilly an Hedwig und Otti an Hedwig, die hier ebenfalls nicht wiedergegeben werden. Die meisten Kopfzeilen des Dokumentes enthalten den Eintrag >T, der darauf hindeutet, dass es sich um Briefe Carnaps an Tilly Neovius handelt. Andere Textteile sind Briefe von Tilly Neovius (Kopfzeile T\(\rightarrow \)) und Ottilie Ulmer (Kopfzeile O\(\rightarrow \)), die hier nicht wiedergegeben werden. Zum Status dieses Dokuments siehe auch unten, S.  f. XI / 1911OFreiburg Guten Morgen TillyPNeovius, Tilly (eig. Mathilde), 1890–1975, Schwedin, die Carnap vermutlich 1911 auf Schloss Mainberg kennenlernte! Du musst nämlich wissen, ich stehe unten im Hof und höre plötzlich was die Hölle runterklatschen.1Offenbar Reminiszenz an die gemeinsamen Tage auf Schloss Mainberg, wo der gewölbte, höhlenartige Eingang zum inneren Schlosshof „Hölle“ genannt wird (Tilly Neovius mag dort einmal die Hölle herunter gelaufen sein, als Carnap sich in diesem Hof befand). Vgl. auch die ähnliche Anspielung am 28. XI. 1911. Und wie ich mich umgucke, da bist Du das. Wollen wir etwas zusammen spazierengehen? Nein? Du hast jetzt keine Zeit? Aber Montag hast Du freien Tag? So, da werde ich auch Zeit haben, denk’ ich. Dann wollen wir jetzt mal jeder an seine Arbeit gehen.

Also jetzt wollen wir mal etwas in den WaldLFreiburg!Wald laufen. Ich will Dir dabei von unserer VogesenLVogesen-Fahrterzählen. Wenn Du aber heut’ keine Lust hast, können wir ja ein andermal gehen. Mit anderen Worten: Du kannst diese Seiten im Brief überschlagen, wenn’s Dich jetzt nicht interessiert, vielleicht liest Du’s dann ein andermal.

Vor einer Woche haben wir die FahrtO[Vogesenfahrt] gemacht; 5 Tage, von denen FriedrichPRohden, Friedrich von, 1886–1973, Arzt, Sohn von Gustav von Rohden, Mitglied der Freischar Freiburg, heiratete 1914 Marianne von Rohden leider nur einen mitmachen konnte, wegen der Anstrengung und des schlechten Wetters. Das fing nämlich schon gleich bei Beginn der Wanderung an. Von FreiburgLFreiburg fährt man hier quer durch die RheinebeneLRheinebene und ist in ein paar Stunden mitten in den VogesenLVogesen, deren südlichen Teil wir sehen wollten. Während des ersten Tags Dann gingen wir, d. h. noch 4 andere FreischärlerIFreischar, zuerst auf die deutsch-französische GrenzeLDeutsch-französische Grenze los, die dort gerade auf dem höchsten GebirgskammLGebirgskamm entlangläuft, und dann immer über den Kamm nach Süden, mit dem linken Bein im Vaterland, mit dem rechten im Ausland. Obwohl meist Regen und Nebel war, haben wir doch sehr viel Freude gehabt. Die Berge da sind ihrer Höhe und auch ihrer Gestalt nach großartiger, als im deutschen MittelgebirgeLDeutsches Mittelgebirge, das Du ja in an verschiedenen Stellen gesehen hast. Und dann trafen wir oft so herrlichen bunten Herbstwald. Manchmal hellte sich auch das Wetter für kurze Zeit auf, und 79 wir sahen die RheinebeneLRheinebene unten liegen und dahinter die Silhouette unseres SchwarzwaldesLSchwarzwald. Ein paar Mal war auch der Blick in die Alpen frei, und wir sahen \(_{4}\)🕮\(_{5}\) eine Reihe von hohen weißen Gipfeln, bis in die ZentralalpenLZentralalpen hinaus. Es war so fein, dass wir uns vorgenommen haben, im Winter bei schönem klarem Schneewetter wieder hinzugehen, um Ski zu laufen. – Die Häuser stehen da oben recht spärlich, sodass wir gegen 4 Uhr immer schon anfangen mussten, Quartier zu suchen, da es um 5 dunkel wurde. So hatten wir nur sehr wenig Zeit zum Wandern. Deshalb machten wir keine Mittagspausen, sondern aßen morgens reichlich warm und reichlich. Leute gibt’s da oben noch weniger als Häuser. Einmal haben wir 2 Tage und Nächte lang keinen Menschen gesehen. Wir übernachteten in den „Fermen“LVogesen!Fermen, das sind die Gehöfte, die aus großem Kuhstall mit Heuboden darüber und einigen kleinen Wohnräumen bestehen. Die hoch gelegenen FermenLVogesen!Fermen werden nämlich im Herbst von Mensch und Vieh verlassen. Die Wohnräume waren manchmal auf, oder es gelang uns, durch ein Fenster einzudringen; sonst mussten wir im Heuboden übernachten. Wenn wir dann in der einige Male hatten Gewöhnlich fanden wir Öfen dort und eine Menge Brennholz. Wenn wir dann in der Abenddämmerung nass und hungrig ankamen, hingen wir unsere nassen Sachen um den Ofen. Wer Lust hatte, nahm draußen noch ein kurzes Luftbad draußen. Dann holten wir aus unseren Rucksäcken trockene Sachen hervor und wärmten uns. Ferner hatten wir Sprituskocher bei uns und alle möglichen Sachen, um den Hunger zu stillen. Dann Das meiste Glück im Quartierfinden haben wir nach unserem schlimmsten Tag gehabt. Die Berge und Wälder sahen zwar gerade an dem Tag ganz herrlich aus. Aber bei dem Regen und Sturm hatten wir schon nach ein paar Stunden genug und kehrten wieder waren froh, ein gutes Obdach zu finden. Denk Dir nur, einer von den Studenten, er ist etwas älter und schon verheiratet‚2Gustav Franke. hatte statt Mantel oder so etwas einen Schirm mitgenommen. Doch an diesem Tage schnallte er ihn, bevor wir überhaupt ausrückten, auf den Rucksack. Wie nass er geworden ist, kannst Du Dir vorstellen. Nachher diktierte er mir ins \(_{5}\)🕮\(_{6}\) Freischar-„Fahrtenbuch“IFreischar als Wetterangabe für den Tag: „Starker Regen und welscher3Veraltet für französisch. Orkan, es fehlen die Worte.“ In der letzten Nacht bekam er auch etwas Schüttelfrost fühlte sich aber tagsüber immer äußerst wohl. Jetzt liegt der arme Kerl hier in der KlinikLFreiburg!Klinik; Influenza, Nierengeschichte. In ein paar Tagen will er aber wieder aufstehen. Was 80 wir an dem Tag für gewaltigen Spaß hatten, als wir da eine herrliche Bude fanden, musst Du Dir mal ausmalen. Wir fanden da einen großen Kamin, noch viel größer als in MainbergLMainbergIPflegestätte/Freistätte persönlichen Lebens, Schloss Mainberg/Schloss Elmau, in dem wir schließlich gewaltige Baumklötze zum Brennen kriegten. Da hausten wir dann während der Dämmerung den und das lange abends furchtbar gemütlich zusammen. Da saßen wir um das Feuer herum und schwatzten oder auch nicht; dann sangen wir mal was und ein guter Gitarrenspieler zupfte dazu (die Zupfgeige hatte das Wetter bewundernswert statthaft vertragen). Dazu schlemmten wir in kulinarischen Hochgenüssen, als da sind: Schokoladenreis oder Grieß mit Aprikosen, dann Butterbrote mit Tee oder Kakao. Währenddessen sorgten wir immer dafür, dass alle unsere Sachen der Reihe nach zum Trocknen kamen; dies gelang uns merkwürdigerweise so gut, dass in die meisten Sachen nicht einmal Löcher hineinbrannten (mit Ausnahme von 2 Mänteln und einem Hemd, das plötzlich in Flammen aufging, aber noch in zusammenhängender Gestalt gerettet wurde). Dazu lasen wir uns auch mal was vor; dann lernten wir von uns gegenseitig neue Lieder usw. Kurz, wir lebten da oben wie die Fürsten und kultivierten uns geradezu zu Genussmenschen. Am anderen Tage mussten wir leider zu Tale steigen, da uns die Lebensmittel ausgingen. Da sahen wir dann wieder Menschen, beeilten uns aber, vor Abend wieder in die unbewohnten Gegenden hinaufzukommen, was uns auch noch gerade gelang. Du kannst Dir denken, wie wir über jede Kuh schimpften, die vonuns die Nähe von bewohnten FermenLVogesen!Fermen ankündigte und uns zwang, immer höher hinaufzusteigen.

Als es schon dunkel war, hatten wir dann kurze Zeit klaren Ausblick und sahen unten \(_{6}\)🕮\(_{7}\) in der RheinebeneLRheinebene die Lichter von mehreren Ortschaften schimmern. Unser stiller Wunsch, auch noch auf den großen BelchenLBelchen zu kommen, ist infolge des schlechten Wetters nicht in Erfüllung gegangen. Vielleicht stehen wir nächstens auf Skiern oben und sehen die Berge, auf denen wir jetzt waren, und den Kamm, auf dem wir entlang gelaufen sind, und RheinebeneLRheinebene, SchwarzwaldLSchwarzwald und AlpenLAlpen! Ich kann’s schon kaum erwarten, dass der Schnee endlich kommt. Und es ist doch erst Anfang November.

Abends, als wir hier ankamen, schleppte uns FrankePFranke, Gustav, 1878-1959, Arzt, Mitglied der Akademischen Freischar Freiburg, so heißt der Verheiratete, gleich alle mit, wie wir waren, in seine Wohnung. Unterwegs holten wir noch FriedrichPRohden, Friedrich von, 1886–1973, Arzt, Sohn von Gustav von Rohden, Mitglied der Freischar Freiburg, heiratete 1914 Marianne von Rohden ab und hatten dann noch einen furchtbar netten Abend. Frau FrankePFranke, Mala, verh. mit Gustav Franke ist ein feiner Mensch. Ich mag sie sehr gerne. Wir erleichterten ihr unsere Bewirtung durch die unsere übergebliebenen „Fressalien“ und eine Menge unterwegs gefundener Pilze. Während FrankesPFranke, Gustav, 1878-1959, Arzt, Mitglied der Akademischen Freischar Freiburg Abwesenheit haben seine FrauPFranke, Mala, verh. mit Gustav Franke und FriedrichPRohden, Friedrich von, 1886–1973, Arzt, Sohn von Gustav von Rohden, Mitglied der Freischar Freiburg, heiratete 1914 Marianne von Rohden sich gegenseitig in ihrer 81 Einsamkeit getröstet. Er hat ihr viel von MainbergLMainbergIPflegestätte/Freistätte persönlichen Lebens, Schloss Mainberg/Schloss Elmau und MüllerPMüller, Johannes, 1864–1949, dt. Theologe und Lebensreformer, Vater von Maina Bachmann, gründete 1903 die Pflegestätte persönlichen Lebens auf Schloss Mainberg, ab 1916 Schloss Elmau, verh. mit Irene Müller erzählt.4Der Theologe und Lebensreformer Johannes Müller betrieb seine „Pflegestätte persönlichen Lebens“ bis 1915 auf Schloss Mainberg in Unterfranken, ab 1916 auf Schloss Elmau bei Garmisch. Carnap war an beiden Orten häufiger Gast. Siehe auch die Einleitung, S. . Ich glaube sie wird mal hingehen. Sie passt sehr gut dazu.

Am anderen Morgen fing natürlich das schönste Wetter an. Aber da wir uns in unserer Laune so unabhängig vom Wetter gezeigt hatten, ver­lach­ten wir diesen lachten wir es jetzt, wo es uns höhnen wollte, aus.

Jetzt hast Du gesehen, was für famose Wanderfahrten wir FreischärlerIFreischar unternehmen. – Holla, TillyPNeovius, Tilly (eig. Mathilde), 1890–1975, Schwedin, die Carnap vermutlich 1911 auf Schloss Mainberg kennenlernte, es ist gleich ½ 1. Wir wollen mal schleunigst hier den Berg runterrennen, damit uns ja nicht die Suppe entgeht!

Nun habe ich dieOFreiburgendlosen Seiten vollgeschrieben von der Fahrt und nun stehen sie da. Anstatt zu überlegen, was Dich wohl interessieren könnte, habe ich einfach hergenommen, „wes mir das Herze voll war“‚5Vgl. Matthäus 12‚34 (Lutherbibel): „Wes das Herz voll ist, des gehet der Mund über.“ nämlich die schöne Fahrt, und habe immer dr. drauflos geschrieben, weil ich noch in der Erinnerung \(_{7}\)🕮\(_{8}\) solche Freude dran habe. An sich ist Dir das alles ja wohl schnuppe, wie’s auf der Fahrt hergegangen ist und was für Wetter war usw. Aber Du magst es vielleicht doch lesen, weil ich bei der ganzen Geschichte solche Freude gehabt habe, nicht wahr? Ich schließe das einfach von mir. Ich würde mich furchtbar freuen, wenn Du mir schriebst, was Du alles tust usw., eben weil Du das erlebt hast, wenn’s auch an sich keine welterschütternden Ereignisse sind.

Diese Woche haben wir von Fräulein KetelsPKetels, Fräulein =? Antonie Ketels, Pianistin aus Hamburg einen furchtbar netten Brief bekommen. „Wir“ ist eigentlich gelogen, FriedrichPRohden, Friedrich von, 1886–1973, Arzt, Sohn von Gustav von Rohden, Mitglied der Freischar Freiburg, heiratete 1914 Marianne von Rohden hat ihn bekommen. Aber das tut nichts. Außerdem steht drin, dass sie mir auch bald einen schreiben wird. Da freue ich mich schon im Voraus darauf.

Freitag und Samstag haben wir endlich mal wieder gute Musik zu hören bekommen. Freitag war nämlich ein Symphoniekonzert im Theater. Wir saßen zwar, da wir uns zu spät Karten geholt hatten, ganz oben auf der Galerie, aber die Akustik ist da sehr gut. Den ganzen Abend BeethovenPBeethoven, Ludwig van, 1770–1827, dt.-öst. Komponist. Ich hörte andere Leute sagen, das wäre ihnen zu viel. Aber ich liebe solch einen einheitlichen Abend. Von manchen anderen Komponisten würde es mir allerdings auch zu viel werden. Man spielte auch die 7. Symphonie, aus der ich besonders den mittleren Satz, den sogenannten Trauermarsch, gerne habe, mit dem herrlichen Rhythmus: , der, wenn die Melodie sich emporschwingt, immer noch von den unteren Stimmen an­82gegeben wird und dem Ganzen so etwas schweres Dumpfes gibt. Unter anderem spielte dann ein Geiger noch die Romanze in G‑Dur. Ich kannte sie, weil ich sie schon mehrmals von HeinzPRohden, Heinz von, 1892–1916, Sohn von Gustav und Agnes von Rohden, Student der Theologie, Mitglied der AV Marburg gehört hatte. Ich glaube, er hat sie auch mal im Helferinnenzimmer gespielt. Sie fängt etwa an:

Samstagabend haben wir dann BurmesterPBurmester, Wilhelm, 1869-1933, dt. Violinist gehört. Er war früher in HelsingsforsLHelsingfors, ist aber Deutscher und wohl der beste Geiger, den wir haben. Er spielte unter anderem BeethovensPBeethoven, Ludwig van, 1770–1827, dt.-öst. Komponist Kreutzer-Sonate. \(_{8}\)🕮\(_{9}\) Er war so vollständig ohne jede Schauspielerei und Pose, wie man es selten sieht. Wir saßen auf dem Balkon, wo wir ihn ganz nah sehen konnten, weil FriedrichPRohden, Friedrich von, 1886–1973, Arzt, Sohn von Gustav von Rohden, Mitglied der Freischar Freiburg, heiratete 1914 Marianne von Rohden seine Hände, besonders die rechte, beobachten wollte. Da konnte ich sehen, dass auch sein Gesicht ganz kalt blieb. Wenn man ihn ansah, schien es fast, als stände er der Musik gleichgültig gegenüber. Nur wenn man nicht hinsah, wurde man ganz ergriffen und hatte unbedingt den Eindruck, als werde in diesem Moment Mom ein Kunstwerk geschaffen. Ich glaube man muss annehmen, dass die eigentliche schöpferische Tätigkeit (ich meine die BurmestersPBurmester, Wilhelm, 1869-1933, dt. Violinist, von der BeethovensPBeethoven, Ludwig van, 1770–1827, dt.-öst. Komponist spreche ich natürlich nicht) lange vorher geleistet worden ist, nämlich während der Geiger sich in das Stück einarbeitete und es übte. Jetzt bei seinem Spiel leistet er quasi nur eine (natürlich im höchsten Sinne) automatische Reproduktion, ist aber nicht mehr der „schaffende Künstler“. Es ist beinahe so, wie wenn ein Maler sein Gemälde, in das er sein Tiefstes hineingelegt hat, jetzt, lange nachdem er es fertiggestellt hat, mit kaltem Lächeln den Beschauern hinhält.

Zähringerstr. 50; Wir sind nämlich vorgestern umgezogen und wohnen jetzt 3 Treppen hoch, was uns gestern abend sehr zustatten kam. Da fing nämlich plötzlich, als ich schon im Bett lag, ein Erdbeben an, und unsere Etage wackelte dermaßen, dass ich dachte, es könnte mir die Zimmerdecke auf die Nase fallen.6Vgl. Freiburger Zeitung, 17. XI. 1911, 1. Morgenausgabe, 2: „Ein Erdbeben, wie es hier seit Menschengedenken nicht erlebt wurde, rief gestern abend kurz vor ½ 11 Uhr in der Bevölkerung ungeheure Bestürzung hervor.“ Daraus, dass ich jetzt hier schreibe, kannst Du aber ersehen, dass sie es nicht getan hat. – Ob Du Dich wundern wirst, dass ich Dir einen Brief schreibe? Und gleich noch eine ellenlange Epistel.

Hast Du den Aufsatz von MüllerPMüller, Johannes, 1864–1949, dt. Theologe und Lebensreformer, Vater von Maina Bachmann, gründete 1903 die Pflegestätte persönlichen Lebens auf Schloss Mainberg, ab 1916 Schloss Elmau, verh. mit Irene MüllerBMüller, Johannes!1911@„Nicht Zurückblicken+!“, Blätter zur Pflege persönlichen Lebens 14 (3), 1911, 144-152 im letzten HeftIBlätter zur Pflege persönlichen Lebens, Zeitschrift7Die von Johannes Müller herausgegebene Zeitschrift Grüne Blätter/Blätter zur Pflege persönlichen Lebens. gelesen? Ich weiß nicht 83 mehr, \(_{9}\)🕮\(_{10}\) wie er heißt; er handelt so ungefähr von dem „Schwamm darüber!“Ich glaube, es stand der Spruch darüber: Wer die Hand an den Pflug legt und sieht zurück …8Müller, „Nicht Zurückblicken!“. Das Zitat lautet vollständig: „Wer seine Hand an den Pflug legt und siehet zurück, der ist nicht geschickt zum Reiche Gottes.“

Nun musst Du wissen, dass es auf die Dauer nicht ausbleiben kann, dass Dein erinnertes Bild mir zur Salzsäule erstarrt. Und wer mag denn gerne mit toten Leichen Umgang haben? Darum ziehe ich es vor, mich alle paar Tage mit der lebendigen TillyPNeovius, Tilly (eig. Mathilde), 1890–1975, Schwedin, die Carnap vermutlich 1911 auf Schloss Mainberg kennenlernte zu unterhalten, wenn ich gerade etwas freie Zeit habe. Denn Du darfst nicht glauben, dass ich die wichtigen Stunden dazu nehme. Sondern während der Arbeitszeit freue ich mich manchmal, wenn ich daran denke, dass ich Dir nachher plötzlich begegnen kann, wenn ich will, und ein paar Minuten mit Dir gehen, um Dir was zu erzählen. Oder wenn ich von der UniversitätIUniversität Freiburg nach Hause gehe, denke ich, ob Du jetzt wohl schon auf meiner Bude sitzt, um mich zu besuchen. Und manchmal ist es dann so. Und dann setz’ ich mich an den Schreibtisch und erzähle darauf los. Und Du sitzt hinter mir am Fenster, wo man in die rot und gelben SchwarzwaldwälderLSchwarzwaldhinsieht hinsieht hinaufsieht, und musst wohl alles hören, was ich erzähle. Denn manchmal unterbrichst Du mich auch, und ich muss eine Pause im Schreiben machen und hören, was Du sagst.

Heute höre ich, wie Du mir erzählst, dass Du vielleicht nicht fertig wirst bis Weihnachten mit Deinen Studien.9Vgl. TBT 30. XI. 1912R. Gewiss wäre das schade, und ich würde mich ja sehr freuen, wenn Du noch in diesem Jahre das Ziel erreichtest. Aber so wichtig ist das doch nicht. Ich fürchte fast, dass Du jetzt zu viel arbeitest, um es doch noch zu erzwingen. Ich würde es noch mehr, als dass Du das Ziel nicht erreichst, bedauern, wenn Du jetzt immer hinter Deinem Schreibtisch säßest, bis Du ganz blass aussähest, statt in den Schnee hinauszulaufen, den ihr jetzt da wohl schon habt. Das wäre doch schrecklich! Darum musst Du auch nicht schimpfen, wenn ich Dir „gute Ratschläge“ gebe, als ob ich ob schon doppelt so alt wäre, als ich bin. \(_{10}\)🕮\(_{11}\)

Denk Dir nur, bei dem Erdbeben ist FriedrichPRohden, Friedrich von, 1886–1973, Arzt, Sohn von Gustav von Rohden, Mitglied der Freischar Freiburg, heiratete 1914 Marianne von Rohden, wie er mir erzählte, aus dem Bett gefallen. In FreiburgLFreiburg sind nur einige Ziegel von den Dächern gefallen und eine Mauer eingestürzt. Das MünsterLFreiburg!Münster ist zum Glück unbeschädigt, obwohl die Spitze furchtbar geschwankt haben soll. Man hat so ein ganz doll 84 hilfloses Gefühl, wenn man so samt Bett, Zimmer, und Haus gerüttelt wird und kann sich gar nicht dagegen wehren.

Jetzt schließ ich schnell, weil wir heute und morgen eine 2‑tägige Wan­de­rung in den SchwarzwaldLSchwarzwald machen. Gleich geht’s los. Lebe wohl!

Das war mal wieder fein da draußen. Samstagnachmittag so warm und schöner Sonnenschein, dass wir oben im TitiseeLTitisee gebadet haben (aber nur ganz kurz!) und gestern gingen wir oben im Schnee, und es schneite noch, und wir bekamen die Sonne fast gar nicht zu sehen. Nächsten Sonntag gehen wir hoffentlich mit Skiern auf den FeldbergLFeldberg. Samstagabend kehrten wir in einem kleinen Gasthause ein und saßen nach dem Essen um den schönen Kachelofen und lasen uns aus dem „Parzival“BEschenbach, Wolfram von!Parzival. Neu bearbeitet von Wilhelm Hertz, Stuttgart, 1898 vor, den einer mitgenommen hatte. Du kennst vielleicht dieses mittelhochdeutsche Epos, das Wolfram von EschenbachPEschenbach, Wolfram von, um 1170 bis nach 1216, dt. Dichter aus dem Sagenkreise von König Artus’ Tafelrunde und den Gralsagen gedichtet hat. Wir wollten eigentlich früh zu Bett gehen, aber wir hatten solche Freude daran, dass es schließlich fast 12 Uhr war, als wir aufhörten. Leider können wir’s nicht im Original lesen, da das zu langsam gehen würde, aber wir haben eine sehr gute neue deutsche Nachdichtung‚BEschenbach, Wolfram von!Parzival. Neu bearbeitet von Wilhelm Hertz, Stuttgart, 189810Vermutlich die Nachdichtung von Wilhelm Hertz. Siehe LL . die wir noch öfter mitnehmen wollen, wenn wir Zwei-Tage-Ausflüge machen.

Durch so eine Wanderung kommt man sich viel näher, als wenn man sonst eine Woche zusammen lebt, wenn wir FreischärlerIFreischar auch mittags immer zusammen essen. Auf der Wanderung hat man eben alle Anstrengungen und alle Genüsse, alles, was einem unangenehm ist \(_{11}\)🕮\(_{14}\)bEs folgt ein Brief Tilly an Friedrich, der hier nicht wiedergegeben wird. oder worüber man sich freut, gemeinsam. Es ist so furchtbar schade, dass FriedrichPRohden, Friedrich von, 1886–1973, Arzt, Sohn von Gustav von Rohden, Mitglied der Freischar Freiburg, heiratete 1914 Marianne von Rohden nicht mitkam. Aber wir haben zum Glück noch wöchentlich noch mehrere Abende, die wir FreischärlerIFreischar gemeinsam zubringen.

Gestern hörte ich, dass hier ein Medizinprofessor am Morgen nach dem Erdbeben zu einem Kollegen gesagt hat: „Seien sie froh, dass sie nicht verheiratet sind; ich habe gestern die halbe Nacht mit meiner Frau vor dem Hause spazieren gehen müssen, weil sie nicht wieder hineinwollte.“

Na, wenn alle Frauen so ängstlich sind, werde ich keine heiraten, wenn sie auch noch so schönen Apfelstrudel backen kann. –

In der FreischarIFreischar lesen wir jetzt an einem Abend in jeder Woche HerdersPHerder, Johann Gottfried, 1744-1803, dt. Dichter „Reisejournal“BHerder, Johann Gottfried!1904@„Journal meiner Reise im Jahr 1769“, ders., Ideen, Jena, 1904, das er auf seiner Fahrt von RigaLRiga nach ParisLParis (glaube ich) geschrieben hat. In RigaLRiga war er Pfarrer, Lehrer und ich weiß nicht alles85 was gewesen. Und nun sitzt er da auf dem Schiff, ist froh, dass er all den Krempel hinter sich gelassen hat, die ganze gewohnte Umgebung, Menschen, Bücher usw. und macht sich recht ordentlich Luft im Anblick des großen Himmels und der weiten OstseeLOstsee (Deiner OstseeLOstsee!). Man merkt es dem Buche auch an, dass es nicht am Schreibtisch entstanden ist, es weht so eine staubfreie Luft darin. Schon dem Stil merkt man es an, in welcher Stimmung HerderPHerder, Johann Gottfried, 1744-1803, dt. Dichter war, dass er sich den Teufel darum scherte, ob seine langen Sätze auch immer syntaktisch richtig beg gebaut waren. Und dann wirft er großzügige Ausblicke auf die Kultur und Wissenschaft usw., was man da nicht alles alles Neues noch würde entdecken und leisten können. Es ist fabelhaft, was HerderPHerder, Johann Gottfried, 1744-1803, dt. Dichter damals schon alles in seiner Fantasie vorausschauend geahnt hat. – Ich freue mich schon wieder auf nächsten Freitag, wo wir weiter \(_{14}\)🕮\(_{15}\) lesen und uns darüber unterhalten werden.

Dienstagabend, 21. XI. 11

Heute Abend haben wir in der FreischarIFreischar einen „Wissenschaftsabend“.11Vgl. zu Carnap und der Freiburger und Jenaer Freischar Werner, „Freundschaft| Briefe|Sera-Kreis“, 113–118. Aber vorher habe ich grade gerade noch etwas Zeit, um Dir zu erzählen, was das ist. Zum Unterschiede von den Leseabenden freitags, wo wir ganz unter uns sind und irgendwelche Werke bedeutender Männer im Zusammenhange durchlesen und uns gegenseitig zum Verständnis helfen, nachdem schon vor dem Abend jeder den betr. Abschnitt möglichst schon für sich durchgelesen hat‚ – laden wir zu den Wissenschaftsabenden einige Gäste ein, aber möglichst wenige, und meist nur solche Leute, mit denen wir uns schon gut verstehen, auch Damen. Solch ein Abend ist heute. Eigentlich wollten wir ihn im Anschluss an einen Abendspaziergang in einem Hause draußen im Walde machen, aber es regnet leider, und da nehmen wir Rücksicht auf die Gäste. An solch einem Dienstagabend strengen wir unsern Geist nicht sonderlich an, sondern sind nur gemütlich beisammen. Einer von uns sorgt dafür, dass außer dem Plaudern auch noch sonst Stoff vorhanden ist. Er sucht z. B. etwas aus, was er vorlesen will und passende Lieder, die wir singen wollen, usw; neulich wollte ich auch dabei draußen die Tänze machen, bei Vollmond; doch sagten leider fast alle Damen ab, da wir zu spät eingeladen hatten. Heute wird einer AndersensPAndersen, Hans Christian, 1805–1875, dän. Schriftsteller Märchen vorlesen, und vorhin bat er mich noch, Gösta BerlingBLagerlöf, Selma!1899@Gösta Berling, Leipzig, 1899 mitzubringen, damit er was in Reserve habe.

Außer diesen Abenden turnen wir noch zweimal in der Woche je 1 ½ Stunde. Es ist schändlich, dass die reiche Stadt FreiburgLFreiburg keine akademische 86 Turnhalle hat. Aber man hat uns die sehr schöne TurnhalleLFreiburg!Turnhalle eines GymnasiumsLFreiburg!Gymnasium für die 2 Nachmittage überlassen. Ich habe sehr große Freude am Turnen, obwohl ich fast der schlechteste Turner bin von den Sechsen, die mitmachen. Ich habe ja fast 2 Jahre nicht mehr geturnt und bin deshalb sehr ungeschickt, und die \(_{15}\)🕮\(_{16}\) Arm- und Brustmuskeln sind sehr schwach geworden. Umso größere Freude habe ich an den Fortschritten, die ich in der kurzen Zeit schon gemacht habe. Da wir nur 6 sind, so lernt man ordentlich was, besonders da ein paar gute Turner dabei sind. —

Nun kann ich Dir doch nicht verschweigen, dass ich gestern neidisch auf FriedrichPRohden, Friedrich von, 1886–1973, Arzt, Sohn von Gustav von Rohden, Mitglied der Freischar Freiburg, heiratete 1914 Marianne von Rohden war. Da kam nämlich Dein Brief. Dass ich meinen guten „ollen Friederich“PRohden, Friedrich von, 1886–1973, Arzt, Sohn von Gustav von Rohden, Mitglied der Freischar Freiburg, heiratete 1914 Marianne von Rohden nochmal neidisch ansehen könnte, hätte ich nicht gedacht. Zwar überwog doch die Freude, etwas von Dir zu hören, und die Freude an FriedrichsPRohden, Friedrich von, 1886–1973, Arzt, Sohn von Gustav von Rohden, Mitglied der Freischar Freiburg, heiratete 1914 Marianne von Rohden Freude, aber sie war doch nicht ganz rein; zu dumm, nicht wahr? Und ich habe Dir doch noch gar nicht geschrieben. Und wenn Du diesen Brief bekommen hast, so hoffe ich wirklich auf einen Brief von Dir. Jetzt habe ich genug gequatscht und muss schließen. Ich muss nämlich noch Frau FrankePFranke, Mala, verh. mit Gustav Franke in der KlinikLFreiburg!Klinik abholen, wo ihr MannPFranke, Gustav, 1878-1959, Arzt, Mitglied der Akademischen Freischar Freiburg leider immer noch liegt. Ich habe ihn heute besucht; da war er zum Glück wieder ganz heiter und will noch diese Woche nach Hause. Frau FrankePFranke, Mala, verh. mit Gustav Franke geht natürlich mit zu unserem Abend.

Es ist doch schade, dass der gute Ff12Günther Beindorff.PBeindorff, Günther, 1890-1952, Freischar Freiburg, dt. Unternehmer da noch in seiner „Bremer Gesellschaft“IBremer Gesellschaft, Freiburg13Freiburger Studentenverbindung. ist, aus der er ja austreten wollte, obwohl er zum 1. Vorsitzenden gewählt war. Wenn seine Hoffnungen berechtigt wären, so wäre es ja gut. Er hat nämlich den Vorsitz niedergelegt und sich zum inaktiven Mitglied machen lassen, und hofft so noch indirekt auf den Betrieb einen heilsamen Einfluss ausüben zu können. So sind wir dann nur selten mal zusammen. FfPBeindorff, Günther, 1890-1952, Freischar Freiburg, dt. Unternehmer ist sehr begabt und gewandt, aber ich habe immer den Eindruck, als kämen seine Fähigkeiten in der der Bremer GesellschaftIBremer Gesellschaft, Freiburg nicht richtig zur Geltung, besonders wenn er Inaktiver ist. An der FreischarIFreischar stößt ihn, glaube ich, ein wenig die zu geringe Achtung der äußeren konventionellen Formen ab, die ihm infolge seiner Herkunft und des Einflusses der sehr vornehmen Bremer GesellschaftIBremer Gesellschaft, Freiburg\(_{16}\)🕮\(_{17}\) sehr wertvoll erscheinen. Doch hat er soviel Interesse an der FreischarIFreischar, dass er uns einen geheimen Monatsbeitrag von 20 M angeboten hat. Wir können zwar für Miete von LokalLFreiburg!Lokal und TurnhalleLFreiburg!Turnhalle, für ein größeres Winterfest und die Anlage einer Bücherei ganz gut Geld gebrauchen, haben aber abgelehnt, da wir 87 Menschen und nicht Geld brauchen, um eine Reform des Studentenlebens durchzuführen, und um unserer Unabhängigkeit willen. So wird er mit der FreischarIFreischar wohl nur wenig in Berührung kommen, und da im Winter ja die Abende so kolossal besetzt sind, mit uns beiden persönlich wohl auch nicht so oft, wie wir möchten. Doch treffe ich ihn öfter kurz zwischen den Vorlesungen.

Weißt Du noch, was Du kurz vor unserem Abschied zu mir sagtest? Ich soll nett zuIch glaube: BeindorffFfPBeindorff, Günther, 1890-1952, Freischar Freiburg, dt. Unternehmer sein. Dasselbe möchte ich Dir jetzt auch sagen, wenn Du auch 2000 km von ihm weg bist. Ich kann mir nicht denken, dass ein paar Samenkörner, die Du ausstreust, unfruchtbar bleiben können. –

Als ich hier gar keinen SchwedenLSchweden fand, habe ich angefangen, in einem Selbstunterrichtskursus zu arbeiten, aber die Aussprache kann man vom Papier ja doch nicht lernen. Endlich habe ich jetzt zu meiner großen Freude eine nette junge Schwedin gefunden, die zwar nicht Sprach‑, sondern Turnlehrerin ist, uns (das heißt noch einem Bekannten von mir) aber doch Stunden geben will. Übermorgen geht’s los. Unterdessen kann ich aber wenigstens schon einen Brief lesen, wenn auch mit Anstrengung und Lexikon. Aber wenn ich Deinen Brief so ganz fein verstehen soll, so schreibe lieber doch noch Deutsch. Aber willst Du nicht mal Deine Schwester fragen, ob sie mir nicht auch mal noch einen netten schwedischen Brief schreiben wollte, wie Dir nach MainbergLMainbergIPflegestätte/Freistätte persönlichen Lebens, Schloss Mainberg/Schloss Elmau? Damals habe ich leider kein Wort davon verstehen können, aber jetzt würde ich mich sehr darüber \(_{17}\)🕮\(_{20}\)cEs folgt ein Brieffragment Guten Tag Lisi!, das hier nicht wiedergegeben wird. freuen. Ob sie das wohl tut? Om du säger henne det, visst.14Schwedisch für „Wenn Du ihr das sagst, gewiß.“

Donnerstag Mittwochabend, 23. XI.

Nun bin ich so oft zu Dir gekommen und habe Dir viel erzählt von dem, was mir Freude macht. Jetzt ist mir aber gar nicht recht freudig zumute. Und doch komme ich zu Dir. Oder vielmehr gerade deshalb. Ich Du sollst mir jetzt was erzählen, wie David, der vor Saul spielen musste, wenn ihn „der böse Geist plagte“. Oder richtiger wie Frau Musika vor Gösta, denn von dem, was Du mir jetzt erzählst, hört mein Ohr ja gerade so viel, wie Gösta von der BeethovenPBeethoven, Ludwig van, 1770–1827, dt.-öst. Komponist-Sonate des alten Kavaliers.BLagerlöf, Selma!1899@Gösta Berling, Leipzig, 189915Anspielung auf Lagerlöf, Gösta Berling. Es ist zu dumm, dass auch heute gerade weder FriedrichPRohden, Friedrich von, 1886–1973, Arzt, Sohn von Gustav von Rohden, Mitglied der Freischar Freiburg, heiratete 1914 Marianne von Rohden hier ist, noch ich ein Konzert oder so etwas habe, um mich zu zerstreuen. Oder vielleicht ist es auch gut, 88 dass man sich nicht künstlich zerstreut, sondern sich mit sich selbst allein abfindet. Nun habe ich mir überlegt, worauf ich mich alles freue für die Zukunft. Morgen früh mache ich Experimente im psychologischen LaboratoriumLFreiburg!Psychologisches Laboratorium, woran ich große Freude habe. Morgen Abend haben wir dann den Herder-LeseabendPHerder, Johann Gottfried, 1744-1803, dt. Dichter. Übermorgen früh die 1. Schwedischstunde, abends sind wir bei einer MainbergerinLMainbergIPflegestätte/Freistätte persönlichen Lebens, Schloss Mainberg/Schloss Elmau eingeladen, die mit Fräulein KetelsPKetels, Fräulein =? Antonie Ketels, Pianistin aus Hamburg befreundet ist. Sonntag Skilaufen, oder wenn kein Schnee ist, Spazierengehen mit FriedrichPRohden, Friedrich von, 1886–1973, Arzt, Sohn von Gustav von Rohden, Mitglied der Freischar Freiburg, heiratete 1914 Marianne von Rohden und FfPBeindorff, Günther, 1890-1952, Freischar Freiburg, dt. Unternehmer. Und so geht das weiter. Nächste Woche ein Konzert, wo unser bester CellistPBecker, Hugo, 1864–1941, dt. Cellist herkommt.16Hugo Becker. Vgl. Carnap an seine Mutter, 29. XI. 1911 (RC 025‑05‑25).KG Und dann der Dezember mit Schnee und Skilaufen. Und die Weihnachtsferien, wo ich nach Hause fahre. Und dann wieder hier den schönen Winter mit Arbeit und Genuss. Und dann schon alle möglichen Pläne für nächsten Frühjahr Sommer. Bin ich so ein undankbares Gemüt? All die schönen Vorfreuden helfen mir nichts. \(_{20}\)🕮\(_{21}\)Als kleiner Junge wurde mir mal Als ich noch ein ganz kleiner Junge war und mich in den Finger geschnitten hatte, erzählte mir einer, dass ein Soldat noch nicht einmal schreie, wenn ihm die Nase abgehauen würde (das schien mir nämlich am schrecklichsten). Das imponierte mir sehr, sodass ich mein Schmerzlein vergaß. Ebenso geht es mir jetzt mit meinem Kümmerlein, wenn ich mir vorstelle, dass es auch wirkliches Leid gibt, dass einem geschehen kann. Dass Du z. B. Deinen Großvater verlieren musstest. Ich glaube, ich kann das ein wenig nachempfinden. Wenn ich auch meine Großväter fast gar nicht mehr gekannt habe, so war es doch etwas Ähnliches, als im vorigen Jahr der beste Freund meines Vaters17Wahrscheinlich Peter Siebel.PSiebel, Peter (1843-1909), genannt Ohm Siebel, Volksschulrektor in Barmen, Carnaps Patenonkel starb, ein einfacher Volksschullehrer, bei dem wir auch zuerst in die Schule gegangen sind, aber ein Mann von reinem Gold. Dass ich jetzt gerade an das Unglück denke, das Dir gerade geschehen ist, musst Du mir nicht verdenken. Das hilft mir über den Graben hinwegzuspringen, der mir jetzt gerade vor die Füße kommt. – Ich will jetzt etwas von LagerlöfPLagerlöf, Selma, 1858-1940, schwed. Schriftstellerin lesen, was ich mir neulich gekauft habe.18Vgl. die Leselisten, Einträge , , .Es hat immer Wenn die LagerlöfPLagerlöf, Selma, 1858-1940, schwed. Schriftstellerin erzählt, das übt immer so eine wunderbare Wirkung auf mich aus. —

11 Uhr.

Soeben habe ich meinen Zimmernachbarn zum ersten Mal besucht. Ich wollte ihn eigentlich nur fragen, ob es ihn stören würde, wenn wir morgen den Leseabend auf meinem Zimmer machten. Aber es war ist so ein netter, junger Student, da bin ich etwas bei ihm geblieben. Er musste mir von 89 KielLKiel erzählen, wo er im Sommer war, vom Rudern und Segeln, und von seiner Reise durch SchwedenLSchweden. Jetzt, wo ich wiederkomme, ist meine Lampe ausgebrannt, so schreibe ich bei Kerzenschein. Vorher habe \(_{21}\)🕮\(_{22}\) ich nämlich noch „das Mädchen vom Moorhof“BLagerlöf, Selma!1909@Das Mädchen vom Moorhof, Der Spielmann, München, 1909 gelesen.19Siehe LL .Das hat mich ganz gewaltig gepackt. Da vergisst man wahrhaftig seine Kleinigkeiten. Nun denke ich noch einen fröhlichen Gute-Nach-Gruß an Dich und gehe getrost zu Bett.

Man ist doch zum Glück noch ein gutes Stück Kind; zum Glück. Warum „man“? Ich.

Man hat mir schon manchmal Schreibfaulheit vorgeworfen. Na, darüber kannst Du Dich nun wirklich nicht beklagen. Ich hätte auch noch so viel Dir zu erzählen, z. B. von einem furchtbar netten Menschen, einem jungen StudentenGarthePGarthe, Otto, 1890–1948, von 1919–1924 Schularzt und Biologielehrer in Wickersdorf, verh. mit Margarethe Garthe, der sich in einem DorfLFreiburg!Dorf in der Nähe eine alte HütteLFreiburg!Hütte wohnlich eingerichtet hat, wo wir ihn am Sonntag mit FfPBeindorff, Günther, 1890-1952, Freischar Freiburg, dt. Unternehmer besucht haben. Oder von meinen Studien, wo ich aber nicht genau weiß, ob Dich das nicht langweilt. Und noch viele andere Dinge. Aber dieser Bandwurm, der immer mehr in die Länge wächst, flößt mir selbst allmählich Grauen ein. Darum will ich jetzt Abschied nehmen. Mit den allerherzlichsten Glückwünschen für das Neue Jahr‚20Die Post nach Schweden war damals wohl lange unterwegs, was das frühe Datum erklären könnte.in das Du jetzt hineinrennen willst, als ob Du durch die „Hölle“ in den unteren Hof liefest.21Anspielung auf den Eingang zu Schloss Mainberg. Vgl. TBT 3. XI. 1911R. Noch siehst Du erst ein kleines Stückchen durch den TorbogenLFreiburg!Torbogen schimmern und weißt noch nicht, was Du da alles sehen und erleben wirst. Einen recht erfolgreichen Abschluss Deiner Universitätsstudien; das wünsche ich Dir. Aber das ist ja nur äußerlich. Das andere kann man nicht so sagen, aber doch empfinden und wünschen. Man muss noch manchmal durch einen dunklen GewölbegangLFreiburg!Gewölbegang. Und wenn man durch ist, steht man vielleicht im hellsten Sonnenglanz. Das muss man immer hoffen. Ich glaube, wir beide kommen sind beide so, dass wir nicht leicht in eine Lage kommen, wo wir diese Hoffnung verlieren. Das ist eine schöne Gabe. Die mögest Du recht behalten. Das ist mein spezieller Geburtstagswunsch. Nun lebe wohl, auf Wiedersehen. Hej! Dein Rudi Carnap. 90

FreiburgLFreiburg i. B.LBreisgau Zähringerstr.LFreiburg!Zähringerstraße 50.

Eingeschriebener Brief.

28. XI. 11. \(_{22}\)🕮\(_{49}\)dIn der Paginierung des Manuskripts fehlen 22 Seiten. Dann folgen zwei Briefe von Tilly Neovius an Carnap, die hier nicht wiedergegeben werden.

I / 1912 Liebe TillyPNeovius, Tilly (eig. Mathilde), 1890–1975, Schwedin, die Carnap vermutlich 1911 auf Schloss Mainberg kennenlernte! StockachLStockach, den 20. I. 12.OStockach

Über Deinen Brief habe ich mich sehr gefreut. Davon erzähle ich Dir nachher noch. Jetzt muss ich Dir mal erst auseinandersetzen, wie ich hierher nach StockachLStockach komme, in die Nähe des BodenseesLBodensee. Vorige Woche sind nämlich in DeutschlandLDeutschland die Reichstagswahlen gewesen‚22Bei den Wahlen zum Deutschen Reichstag am 12. I. 1912 erreichten die SPD 34‚8%, das katholische Zentrum 16‚4% und die von Carnap damals unterstützten Liberalen (NLP und FVP) zusammen 25‚9%. Im Wahlkreis Konstanz, Überlingen, Stockach setzte sich in der Stichwahl der Kandidat des Zentrums durch, im Wahlkreis Freiburg, Emmendingen der Kandidat der Liberalen Partei. die aber in vielen Wahlkreisen noch nicht entschieden sind, weil bei der Hauptwahl keiner der Kandidaten die absolute Mehrheit bekommen hat. In dem Falle finden dann „Stichwahlen“ statt zwischen den beiden Kandidaten, die die meisten Stimmen bekommen haben. Und diese Stichwahlen sind inBadenLBaden heute. Sowohl in im Wahlkreis FreiburgLFreiburg, als auch in dem von KonstanzLKonstanz ist das ZentrumIZentrum, Deutsche Zentrumspartei (die politisch-katholische, ultramontane Partei) in Stichwahl mit den LiberalenILiberale Partei gekommen. Das sind neben den KonservativenIDeutschkonservative Partei und den SozialdemokratenISPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands die 4 Hauptparteien des deutschen ReichtagsLBerlin!Reichstag. Wenn Du wüsstest, mit welchen Mitteln in dem katholischen SüddeutschlandLSüddeutschland die Geistlichkeit für das den Sieg der papistischen Partei kämpft, so würde es Dir auch nicht schwerfallen, zu entscheiden, welcher Seite Du Deine Sympathie schenken würdest, auch wenn Du sonst politisch noch so wenig eine feste Überzeugung hättest, wie ich. So habe ich mich denn der liberalen ParteiILiberale Partei in FreiburgLFreiburg zur Verfügung gestellt, um am Wahltage Handlangerdienste zu leisten, wie Wahlzettel abgeben, Aufrufe verteilen, säumige Wähler zur Urne schleppen und dergl.23Das Wahlalter lag in Deutschland bis 1918 bei 25 Jahren. Carnap war Anfang 1912 erst 21 und damit nicht wahlberechtigt. Zuerst wollte ich mit einem andern FreischärlerIFreischar in ein SchwarzwalddorfLSchwarzwalddorf hinauf, das zum Wahlkreis FreiburgLFreiburg gehört, um dort zu „arbeiten“. Doch wurde gestern mittag plötzlich telefoniert, dass im Konstanzer WahlkreisLKonstanz Hilfskräfte nötiger seien. So packte ich sofort den Rucksack und fuhr mit einigen andern FreischärlernIFreischar für 2–3 Tage in die schöne BodenseegegendLBodensee, wozu wir trotz der gar 91 nicht so großen geringen Entfernung 6 Stunden Bahnfahrt gebrauchten. Heute morgen wurden wir dann zu Fuß, mit Auto oder Wagen in die ganze Gegend zerstreut. Jetzt benutze ich einige ruhige Augenblicke zwischen dem „Mittagessen“ und der Beförderung Weiterbeförderung zum „Nachmittagsdienst“, um Dir mal schnell zu schreiben.

FriedrichPRohden, Friedrich von, 1886–1973, Arzt, Sohn von Gustav von Rohden, Mitglied der Freischar Freiburg, heiratete 1914 Marianne von Rohden konnte natürlich nicht mit, denn der ist ja schon 25 Jahre alt und muss deshalb selbst in FreiburgLFreiburg wählen. FfPBeindorff, Günther, 1890-1952, Freischar Freiburg, dt. Unternehmer hilft in FreiburgLFreiburg mit, indem er im Auto in der Stadt rumfährt, und die Herren, \(_{49}\)🕮\(_{50}\) von denen man vermutet, dass sie liberalILiberale Partei wählen, die aber zu faul sind, selbst zu kommen, im Wagen zum Wahllokal zu schleppen. Heute abend um 7 Uhr fällt dann die Entscheidung, sowohl in FreiburgLFreiburg, wo „wir“ wohl siegen werden, als auch hier im Konstanzer WahlkreisLKonstanz, wo die Sache schwieriger steht. Da wir nun einmal hier unten sind, werden wir morgen den Sonntag benutzen, um den BodenseeLBodensee zu besuchen, entweder um den Sieg zu feiern, oder zum Trost. Heimwärts fahren wir dann vielleicht über BaselLBasel, um uns die schöne Stadt und die BöcklinPBöcklin, Arnold, 1827-1901, schweiz. Maler- und FeuerbachPFeuerbach, Anselm, 1829–1880, dt. Maler-Bilder anzusehen. Übrigens schreibe ich hier nicht etwa den Brief selbst.Sondern stenografiere auf ein Papier Dazu hätte ich doch keine Zeit; sondern stenografiere mir auf ein Papier, und brauch’s dann in FreiburgLFreiburg nur abzuschreiben. Das kann ich Das geht fix. [Allerdings; trotzdem hoffentlich leserlich.] Nachmittags.

Nun sitze ich hier in dem netten Dorfe MahlspürenLStockach!Mahlspüren, im Rathauszimmer, wo das Wahllokal ist. Die 3 Bauern, die da als Wahlvorsteher und ‑beisitzer um die Urne sitzen, sind zwar, wie ich gemerkt habe, Zentrums­leute, lassen mich aber ganz ruhig, obwohl ich nicht das gesetzliche Recht dazu habe, in dem geheizten Zimmer Platz nehmen, damit ich nicht auf dem kalten Flur zu stehen brauche. Denn jetzt nach 3 Uhr ist gerade eine schwache Zeit, wo kaum jede halbe Stunde ein Wähler kommt. Als diese 3 Leute das Propagandablatt sahen, das ich draußen den Wählern, bevor sie hereinkommen, außer dem liberalen StimmzettelILiberale Partei in die Hand drücke, sagten sie nicht viel, sondern gaben mir eine ZentrumszeitungIZentrum, Deutsche Zentrumspartei, die ich zu ihrer Genugtuung auch recht eifrig durchlas. Als ich sie fragte, ob sie als Wahlvorsteher selbst auch wählen dürften, sagten sie: „Ja gewiss, und gut.“ „Was heißt denn gut gewählt?“„Na, wenn man halt recht wählt.“ „Ja, aber der eine nennt dies gut, und der andre das.“ „Das muss auch so sein, sonst brauchte man ja überhaupt nichtzu wählen keine Wahlen zu machen.“ Leider sind hier draußen nicht Parteilisten geführt worden über die, die schon gewählt haben, wie das in den Städten gemacht wird. StockachLStockach gemacht worden ist; So da saß z. B. in StockachLStockach auf der „Stadt“ immer einer von der Partei mit im Wahllokal und schrieb jeden auf, der 92 kam. Die Zettel wurden dann immer\(_{50}\)🕮\(_{51}\)Aufs dem Parteisekretariat geschickt, wostrichen wir dann diese Namen in der gedruckten Wählerliste aus. Nun können sie da heute Nachmittag die, die noch nicht gewählt haben, besuchen.

Durch das Fenster Auf der Fensterbank schreibend sehe ich in die schöne Gegend unter dem klarblauen Frosthimmel, durch die ich hergefahren bin. Nicht sehr weit sieht man auf einem Berg ein altes SchlossLStockach!Schloss, das da eine wundervolle Lage hat. Wie ich mir erzählen lasse, gehört es zu SigmaringenLSigmaringen (HohenzollernLHohenzollern) und ist jetzt ein Bauerngut. Da oben möchte ich auch wohnen!

Während der ganzen Zeit, die ich hier schreibe, ist noch kein Wähler wieder gekommen. Die guten Leute hier sitzen da, schweigen meist und rauchen, und kucken mal zum Fenster hinaus. So habe ich denn wohl noch Zeit, Dir allerhand jetzt allerhand zu schreiben.

Zuerst mal von Deinem Brief. bevorBevor ich ihn bekam, machte ich die verschiedensten Entwürfe zu Briefen an Dich. Übrigens wollte FriedrichPRohden, Friedrich von, 1886–1973, Arzt, Sohn von Gustav von Rohden, Mitglied der Freischar Freiburg, heiratete 1914 Marianne von Rohden mir überhaupt nicht glauben, dass ich seit MainbergLMainbergIPflegestätte/Freistätte persönlichen Lebens, Schloss Mainberg/Schloss Elmau noch nichts von Dir bekommen hätte. Er wusste, dass ich Dir einen langen Brief geschrieben, und meinte nun, das wäre Dir sicher zu aufdringlich vorgekommen, worauf ich zuerst einen großen Schreck bekam, doch konnte ich mir’s nicht recht denken. Meinen ersten Entwurf verwarf ich als zu sentimental, der 2. verfiel ins Gegenteil und wäre ganz bös’ geworden. Wie ich’s gar nicht meinte. Schließlich dachte ich: Wenn Schluss ist, ist Schluss, und wenn sie nicht will, brauch’ ich auch nicht zu schreiben. Dann fuhr ich Samstag auf die Skitour los, ganz wundervoll, oben in die Berge. Da kam’s mir plötzlich, es hätte doch gar keinen Sinn, mich zu beunruhigen darüber zu beunruhigen, dass BeindorffPBeindorff, Günther, 1890-1952, Freischar Freiburg, dt. UnternehmerFfPBeindorff, Günther, 1890-1952, Freischar Freiburg, dt. Unternehmer einen langen Brief bekommen hätte (den er mich am Abend vorher hatte sehen lassen, wenigstens von außen), und ich keinen nicht. Du würdest wohl denken, das sei nicht nötig, wir würden auch trotzdem gute Freunde bleiben. Ich wurde ganz sicher und froh und dachte: Dann will ich ihr nächstens mal wieder was erzählen, wenn sie auch keine Zeit hat zu antworten. Und als ich dann Sonntagabend nach \(_{51}\)🕮\(_{52}\) Hause kam und FriedrichPRohden, Friedrich von, 1886–1973, Arzt, Sohn von Gustav von Rohden, Mitglied der Freischar Freiburg, heiratete 1914 Marianne von Rohden von unserer schönen Fahrt erzählt hatte, sagte er: So, nun darfst du dir zur Belohnung auch mal wünschen, was du willst. Und wirklich kam zog er mit der Miene eines beglückenden Zauberers die Erfüllung des Wunsches aus seiner Tasche.

Als ich zuerst las, Du bekämst Herzklopfen, wenn du an den Unterricht mit der Französin dächtest, da dachte ich, Du meintest den Französisch­93unterricht bei ihr, nicht die Schwedischstunde, die Du ihr geben willst. Denn ich traue Dir doch zu, dass Du ihr guten Unterricht geben wirst, zumal in Deiner Muttersprache (oder vielmehr Vatersprache). Meine Schwe­disch­stunde macht mir viel Freude, wenn ich auch kaum jede Woche eine Stunde nehmen kann. Wie nett und vernünftig meine Lehrerin ist, kannst Du schon daran sehen, dass sie, als ich kaum das Notwendigste der Grammatik wusste, mit Lektüre anfing. Dass Du schreibst, ich möchte versuchen, LagerlöfPLagerlöf, Selma, 1858-1940, schwed. Schriftstellerin zu lesen, hat mich sehr gefreut, weil ich mir das nämlich auch ausgesucht habe. Die Lehrerin schlug mir nämlich StrindbergPStrindberg, August, 1849-1912, schwed. Schriftsteller oder GeijerstamPGeijerstam, Gustaf af, 1858-1909, schwed. Schriftsteller vor. Doch haben wir dann angefangen „herrgårdssägen“BLagerlöf, Selma!1899@En herrgårdssägen, Stockholm, 1899 zu lesen.24Lagerlöf, En herrgårdssägen. Siehe LL . Jetzt lese ich meist allein, nur ab und zu mal wieder ein Kapitel in der Stunde, um die richtige Aussprache zu lernen. Jetzt habe ich das Buch schon fast durch. Es hat mir sehr viel Freude gemacht. Auch gerade der Stil, der mir schon in den deutschen LagerlöfPLagerlöf, Selma, 1858-1940, schwed. Schriftstellerin-Büchern so gefiel. Für ein Buch, um in einer neuen Sprache ist es auch ferner sehr angenehm, dass LagerlöfPLagerlöf, Selma, 1858-1940, schwed. Schriftstellerin mit einem so kleinen Wortschatz so schön schreiben kann. Z. B. kommen im „Fenrik Stål“BRuneberg, Johan Ludvig!1848@Fänrik Ståls sägner, Helsingfors, 1848-186025Runeberg, Fänrik Ståls sägner. Siehe LL . in dem ich mich mal ein wenig versucht habe, furchtbar viel Wörter vor im Vergleich zu LagerlöfPLagerlöf, Selma, 1858-1940, schwed. Schriftstellerin furchtbar viel Wörter vor, die ich noch nicht kenne. Weißt Du, wenn Du mir nochmal schreibst, so tu’s bitte auf Schwedisch. Jetzt verstehe ich sicher schon genug; wenn ich auch noch nicht einen solchen schwedischen Brief schreiben kann, dass Du Dich nicht darüber ärgern müsstest. Aber Du musst \(_{52}\)🕮\(_{53}\) Dein Gewissen nicht beunruhigt fühlen, wenn Du jetzt wegen Deiner vielen Arbeit nicht gut schreiben kannst. Ich will auch wirklich nicht wieder so dumm sein zu denken, Du wolltest mir überhaupt nicht mehr schreiben. Vielleicht kommt dann mal eine Karte von Dir. —

So, da kommt ein Wähler herein. Nun will ichmuss ich doch wiederNun will ich lieber wieder „Posten stehen“. Jetzt werden wohl noch mehr Leute kommen. —

FreiburgLFreiburg, 30. I. 12.OFreiburg So, nun bin ich wieder eine Woche zu Hause und habe mich über unsere Niederlage in KonstanzLKonstanz und unseren Sieg hier in FreiburgLFreiburg genugsam getröstet und gefreut. Und die 3‑tägige „Ferien“-Reise war auch eine ganz nette Unterbrechung Abwechslung. Dann geht’s nachher um so lustiger in der Arbeitfvorwärts. Davon sollst Du jetzt auch was zu vonzu hören bekommen. Und zwar eine ganze Menge, zur 94 Strafe dafür, dass Du Dich einen Blaustrumpf26Spottwort für intellektuelle Frau. genannt hast. Außer einer 2‑stündigen Italienisch-Übung, wo wir einmal die Zeitung, das andre Mal ein Buch lesen, höre ich 3jetzt 3 5‑stündige Vorlesungen: Physik, Philosophie und Psychologie.27Vgl. den Anhang, S. .Also: von Montag bis Freitag täglich je eine Stunde In der Physik höre ich in diesem Semester die 2. Hälfte der Experimentalphysik. Die heißt so im Gegensatz zur theoretischen Physik, wo man keine Apparate hat, sondern immer bloß rechnet und denkt. Also in der experimentellen Physik trägt der Professor systematisch ein Gebiet nach dem andern vor und veranschaulicht alles durch Experimente mit Hilfe von Apparaten. diese zu klein sind, so macht erDie kleineren Experimente macht er, damit der ganze Saal sie sehen kann, vor dem Lichtbildapparat, und man sieht den ganzen Versuch sich in größerem Maßstab auf der weißen Wand abspielen. Ostern hoffe ich so viele Kenntnisse erworben zu haben, dass ich ein „Praktikum“ belegen kann, wo man selbst unter mit den Apparaten beobachtete Messungen anstellen kann, die der Professor dann kontrolliert. Unser PhysikerPHimstedt, Franz, 1852-1933, dt. Physiker, Prof. in Freiburg hier28Der Experimentalphysiker Franz Himstedt, bei dem Carnap in seiner Freiburger Studienzeit physikalische Vorlesungen besuchte. ist wegen seiner geschickten Experimente bekannt, und es laufen auch Leute aus anderen Fakultäten in sein Kolleg, besonders wenn er an interessanten Kapiteln istdran. Hoffentlich habe ich auch bald \(_{53}\)🕮\(_{54}\)Kenntnisse genug so viel gelernt, um theoretische Physik treiben zu können, wo die Mathematik dann zur Geltung kommt. Weißt Du, das ist ganz fein. Ich möchte wissen, ob Du auch Spaß an Physik hast. Es gehört doch wenigstens die experimentelle nicht zu dem „abstrakten Zeug“, was Du nicht leiden magst [und wo eigentlich der Spaß erst losgeht]. | Und dann die Philosophie. [Jetzt darfst Du nicht aufhören zu lesen; Du musst aufpassen! Du weißt ja, zur Strafe.] Da spricht RickertPRickert, Heinrich, 1863–1936, dt. Philosoph, bis 1915 Prof. in Freiburg, danach in Heidelberg, einer unserer bedeutendsten jetzigen Philosophen in DeutschlandLDeutschland‚ über die Philosophie von KantPKant, Immanuel, 1724–1804, dt. Philosoph bis NietzschePNietzsche, Friedrich, 1844–1900, dt. Philosoph (also etwa das 19. Jahrhundert).29Zum Einfluss Rickerts auf Carnap vgl. Carus, Carnap and Twentieth-Century Thought, 105–108; Damböck, \(⟨\)Deutscher Empirismus\(⟩\) 174 f. u. 181–183 sowie Mormann, „Carnap’s Aufbau in the Weimar Context“. Als er über KantPKant, Immanuel, 1724–1804, dt. Philosoph gesprochen hat, das war ganz großartig. Ich glaube nicht, dass irgendein anderer einem das so klar machen könnte. Er nahm nicht etwa den KantPKant, Immanuel, 1724–1804, dt. Philosoph her und kommentierte dann ein Buch nach dem anderen. Sondern umgekehrt: Er ging von den Problemen aus, machte uns die zuerst vollstän­95dig klar, und dann brachte er KantsPKant, Immanuel, 1724–1804, dt. Philosoph Lösung, und zwar möglichst unabhängig von der für uns schwer verständlichen Terminologie KantsPKant, Immanuel, 1724–1804, dt. Philosoph. So konnten wir verstehen, was es denn eigentlich überhaupt für einen Wert gehabt hat, dass da einmal vor 100 Jahren in KönigsbergLKönigsberg ein Mensch gesessen hat und sein Leben lang über Fragen nachgedacht und gearbeitet hat, deren Sinn und Wichtigkeit einem vorher wenig einleuchten will. | Und trotzdem hätte ich Dich damals nicht in die Vorlesung geschleppt, wenn Du hier gewesen wärest; wohl aber jetzt in die letzte Stunde, wo er über GoethePGoethe, Johann Wolfgang von, 1749–1832, dt. Dichter gesprochen hat. Nicht über den Dichter GoethePGoethe, Johann Wolfgang von, 1749–1832, dt. Dichter. Über den hast Du schon genug gehört. Sondern über den Philosophen. Und doch hätte Dich’s interessiert! Wie er GoethePGoethe, Johann Wolfgang von, 1749–1832, dt. Dichter KantPKant, Immanuel, 1724–1804, dt. Philosoph an die Seite stellte alsMitkämpfer gegendieStrömungen der „Aufklärung“, die Du durch Deine Studien wohl besser kennst als ich. An der Hand des „Urfaust“BGoethe, Johann Wolfgang von!1910@Urfaust, Leipzig, 1910 (der ältesten Fassung der Tragödie) stellte er GoethePGoethe, Johann Wolfgang von, 1749–1832, dt. Dichter in der „Sturm und Drang“-Periode dar. Wie der Renaissancemensch Faust sich gegen die Scholastik aufbäumt kämpft, so GoethePGoethe, Johann Wolfgang von, 1749–1832, dt. Dichter gegen die Strömungen der „Aufklärung“ (die Du wohl durch Deine Französischstudien besser kennst als ich), ebenso wie KantPKant, Immanuel, 1724–1804, dt. Philosoph, nur auf anderen Wegen. Und wie dann GoethePGoethe, Johann Wolfgang von, 1749–1832, dt. Dichter sein Ideal der ursprünglichen, unverfälschten Natur im Gegensatz zu der gekünstelten Aufklärungskultur bei dem damals verachteten ShakespearePShakespeare, William, 1564–1616, brit. Schriftsteller findet: „Natur, Natur! \(_{54}\)🕮\(_{55}\) (ruft GoethePGoethe, Johann Wolfgang von, 1749–1832, dt. Dichter) oder vielmehr shakespearische Menschen! Denn woher sollten wir Natur kennen? Wo bei uns alles geziert und geschnürt.“30Das Zitat konnte nicht nachgewiesen werden. Möglicherweise handelt es sich um eine lediglich sinngemäße Wiedergabe des Inhalts von Rickerts Vorlesung über Goethe. Vgl. den Mephistopheles in Faust I (Vers 1910) „Mein teurer Freund, ich rat Euch drum / Zuerst Collegium Logicum. Da wird der Geist Euch wohl dressiert‚ / In spanische Stiefel eingeschnürt […]“ Also kurz 2-seitig ausgedrückt: Negativ  – gegen die Verstandeskultur der Aufklärung; positiv – für ursprüngliche, echte Natürlichkeit. Es fehlte nur noch, dass er die Ausdrücke Bewusstseins- und Wesenskultur gebraucht hätte, um deutlich zu zeigen, wie nahe diese Darstellungenvon GoethePGoethe, Johann Wolfgang von, 1749–1832, dt. Dichterdenen Johannes MüllersPMüller, Johannes, 1864–1949, dt. Theologe und Lebensreformer, Vater von Maina Bachmann, gründete 1903 die Pflegestätte persönlichen Lebens auf Schloss Mainberg, ab 1916 Schloss Elmau, verh. mit Irene Müller stehen.31Vgl. Reinhard Grohrock, Der Kampf der Wesenskultur gegen die Bewusstseinskultur bei Johannes Müller, Heidelberg, 1937 sowie Johannes Müller, Vom Geheimnis des Lebens. Erinnerungen, Bd. 2 (Schicksal und Werk), Stuttgart, 1938, S. 240–257.Dann die Stellung GoethesPGoethe, Johann Wolfgang von, 1749–1832, dt. Dichter in der Wissenschaft gegenüber der Natur, im Gegensatz zu KantPKant, Immanuel, 1724–1804, dt. Philosoph, dessen Schriften für ihn infolgedessen auch unverdaulich waren, aber doch indirekt durch SchillersPSchiller, Friedrich von, 1759–1805, dt. Dichter Vermittlung auf ihn wirkten. GoethePGoethe, Johann Wolfgang von, 1749–1832, dt. Dichter stand seinem wissenschaftlichen Objekt nie analytisch zergliedernd, son­96dern immer umfassend-anschauend gegenüber als etwas Konkretem. Daher auch seine Auffassung von der Natur, die er nicht wie KantPKant, Immanuel, 1724–1804, dt. Philosoph als Objekt dem erkennenden Menschen gegenüberstehend ansah, sondern als etwas, was das ihn selbst vollständig mit umfasste. nicht wie KantPKant, Immanuel, 1724–1804, dt. Philosophseinem Objekte gegenüber stand, sondern sie umfasste ihn vollständig. Sie war für ihn eben Schöpferin und Trägerin alles Materiellen und Geistigen zugleich. Ach Du, ich verstehe das nicht alles so auszudrücken, wie ich’s meine, geschweige wie der Professor RickertPRickert, Heinrich, 1863–1936, dt. Philosoph, bis 1915 Prof. in Freiburg, danach in Heidelberg es könnte. Ich wollte, Du wärest dabei gewesen‚ hättest ihn selbst gehört. In mir hat er einen schlechten Anwalt.

II / 1912 Da Freitag mal wieder so ein katholischer Feiertag war, und ich Samstag kein Kolleg habe, so habe ich mal wieder 3 Tage Ferien gehabt. Da bin ich mit 2 andern FreischärlernIFreischar in die VogesenLVogesen hinausgefahren. Schon unten in dem DorfeLVogesen!Dorf, wo wir aus der BahnLVogesen!Bahn stiegen, konnten wir die Bretter unterschnallen, so schönen Schnee hatten wir. Und dann gingen wir wieder, wie damals im Oktober, auf den Kamm hinauf und fingen nun unsere Wanderung Skiwanderung nach Süden da an, wo wir damals mit der Fußwanderung aufgehört hatten. Und so kamen wir auch auf das Sulzer BelchenLSulzer Belchen, das wir damals schon zuweilen sehnsüchtig angeschaut hatten. Dort brachten wir die letzte Nacht zu. Der Rundblick vom Gipfel bei Sonnenuntergang, wie wir ihn hatten, \(_{55}\)🕮\(_{56}\) ist gar nicht zu beschreiben. Diese Farben auf den Schneefeldern und den Wäldern und den Bergen umher, und dann das dicke Nebelmeer nach der französischen Seite hin! Und dann der rot leuchtende Widerschein über dem ganzen deutschen Horizont! Ich wollte, Du könntest mal eine Skifahrt mit uns machen, damit Du sähest, wie ein deutsches Gebirge bei uns ein Gebirge im Winter aussieht. Ihr habt da zwar auch Berge und Schnee genug, aber es ist doch wieder ganz anders in einem anderen Lande; auch jedes Gebirge hat wieder seinen eigenen Charakter für sich.

Nächsten Samstag und Sonntag machen die FreischärlerIFreischar ein kleines Winterfest, indem wir mit einigen Gästen in diezu einem GasthausLVogesen!Gasthaus oben in die Berge wandern, wo wir mit allerlei Aufführungen und Spiel und Tanz den Abend verbringen. Am Sonntag wird dann Ski gelaufen. Hoffentlich bleibt so schöner Schnee. Jetzt liegt er nämlich bis hier unten in die Stadt hinein.

Eigentlich wollte ich Dir auch noch von unserer Weihnachtsfestfeier erzählen, die wir hier am Abend, bevor wir alle zu den Weihnachtsferien auseinanderstoben, mit unseren engsten Gästen feierten. Aber das wür­97de wieder zu lang. Ich muss Dir nur sagen, dass bei uns auch die Bescherung beinahe so lange dauerte wie bei Euch. Es kam nämlich der Weihnachtsmann mit langem Bart und pelzverhüllt herein und hatte für jeden allerlei kleine Überraschungen mit den nötigen Verslein dazu. Meist bezog sich das Ding neckisch auf irgendeine Eigenschaft des Empfängers. Nachher rief man den Weihnachtsmann wieder hinein, und Frau FrankePFranke, Mala, verh. mit Gustav Franke gab ihm ein feines Kissen, das sie selbst gemacht und höchst kunstvoll mit dem Bild einer Eule, dem Tier der Weisheit und des Phlegmas geschmückt hatte. Und ein langer Vers setzte noch zum deutlicheren Verständnis die Bedeutung des symbolischen Vogels auseinander. Jetzt lehnt die Eule hinten in seinem Schreibtischsitz, und wenn er sich zwischen dem Schreiben zurücklehnt, so stützt sie seinen Rücken und flüstert ihm Klug- und Faulheit zu. Also müsste der Brief doch offenbar ebenso weise als kurz werden.Weisheit und Kürze bekommen. Er scheint \(_{56}\)🕮\(_{57}\) mir aber beider Tugenden gar sehr zu ermangeln.

Hier die Entschuldigung: Erstens ist er gar nicht so lang; das Papier ist nur so furchtbar dick. Und zweitens macht’s mir nun einmal Spaß, immer zu erzählen, was mir gerade einfällt; und so geht’s denn zwischen Januar, Februar und Dezember durcheinander hin und her.

Die Weihnachtsfeier schlossen wir schon um 11 Uhr. Denn um Mitternacht reisten wir schon ab. Und am andern Morgen pilgerten die beiden Vettern32Carnap selbst und Friedrich von Rohden. von der BahnLVogesen!Bahn zu einem Dorfe hinaus Namen WeihenzellLWeihenzell Du sicher auch schonmal gehört hastnamens WeihenzellLWeihenzell. Dort fand nämlich ein Kochkursus statt. Sowas interessiert mich immer besonders, wie Duman weiß und aus meinen Handlinien lesen kann.33Zu Carnaps Auffassung vom Lesen von Handlinien vgl. TB 4. IV. 1930R. Die Lehrerin buk uns denn auch in ihrer Bude auf ihrem Kachelofen einen Eierkuchen und wir genossen noch anderen selbstgebackenen Kuchen und manche anderen schönen Dinge. Und von alledem packten wir je eine Probe sorgfältig ein und schickten das ganze Weihnachtspaket nebst einem poetischen Kommentar geschrieben, dass wirso da oben in die Eisländer, ich weiß nicht genau, so in die Gegend des NordpolsLNordpol. Da hat sie nämlich eine Freundin wohnen, die mir aber gänzlich unbekannt ist. Übrigens scheint sowohl das Begleitschreiben als auch das große Paket zwischen den Eisbergen versunken oder von Eisbären verschluckt worden zu sein. Und dabei hatte doch das Paket zwischen seiner Abreise von WeihenzellLWeihenzell und seiner Ankunft im NordlandLNordlandeinen so interessanten Ro­98man erlebt, den zu erzählen nun leider überflüssig geworden ist. Übrigens würde es Dich ja auch gar nichts angehen; oder kennst Du die Freundin da oben im Eis etwa auch?

Nun wollte ich Dir ja noch von den psychologischen Versuchen erzählen, die wir machen.34Bezieht sich wohl auf die psychologischen Lehrveranstaltungen, die Carnap in Freiburg bei Jonas Cohn besucht hat. Aber jetzt nur kurz, vielleicht ein andermal ausführlicher. Wir machen noch nicht hypnotische Experimente, wie Dein gewesener Vormund, sondern untersuchen die wichtigeren und näherliegenden normalen psychischen \(_{57}\)🕮\(_{58}\) Zustände. Der Hypnotismus und die verwandten Erscheinungen interessieren mich sehr, aber sie sind mir noch zu schwierig, um da wissenschaftliche Beobachtungen anstellen zu können. So lerne ich zunächst das Verhältnis der Sinnesempfindungen zu den sie hervorrufenden physikalischen Reizen untersuchen. Und dann macht man Gedächtnis- und Assoziationsversuche, indem man nicht nur die Bedingungen, unter denen der betreffende psychische Vorgang stattfindet, sondern auch, was am schwersten ist, quantitative Bestimmungen aufzufinden sucht. – Wenn Du mir schreibst, so vergiss ja nicht, mir von den Schwedisch-Stunden zu erzählen, die Du gibst! – Nun lebe wohl!

Es grüßt Dich vielmals Rudi CP.

Eingeschrieben 6. II. als Einschreibebrief. \(_{58}\)🕮\(_{63}\)eIn der Paginierung des Manuskripts fehlen vier Seiten.

Liebe TillyPNeovius, Tilly (eig. Mathilde), 1890–1975, Schwedin, die Carnap vermutlich 1911 auf Schloss Mainberg kennenlernte! FreiburgLFreiburg, i. B.LBreisgau 25. II. 12.

Habe vielen Dank für Deine Karte, mit der Du mir eine große Freude gemacht hast. Ich war ganz stolz, dass ich sie ohne Lexikon verstanden. Aber ich habe Dich im Verdachte, dass Du Dir Mühe gegeben hast, möglichst einfach und verständlich zu schreiben. – Es hat mir solche Freude gemacht; ich möchte Dich bitten, immer auf Schwedisch zu schreiben.

Nun höre einmal, was man mir für die 2 Monate Osterferien, die bei uns 2 Monate dauern, für eine große Freude gemacht hat. Du weißt wohl, dass ich furchtbar gern Reisen mache. Aber nicht möglichst bequem; im Gegenteil, je interessanter und abenteuerlicher, um so besser . Ich hatte nun geplant, im März mit einem Freund aus der FreischarIFreischar den NeckarLNeckar und dann den RheinLRhein bis BonnLBonn, wo der Freund wohnt, oder KölnLKöln hinabzufahren. Und zwar in einem kanadischen „Canoe“. Vielleicht kennst Du die aus EnglandLEngland. Es sind ganz lange, schmale Boote, so leicht, dass man sie tragen kann, die einseitig gerudert werden. Die sind sehr fein für längere 99 Wanderfahrten. Im RheinlandLRheinland wollte ich dann meine Verwandten besuchen und um Ostern 2 Wochen nach MainbergLMainbergIPflegestätte/Freistätte persönlichen Lebens, Schloss Mainberg/Schloss Elmau gehen. Das Boot hätte ich vielleicht vom RheinLRhein nach BambergLBamberg geschickt, um dann im April noch eine MainfahrtLMain zu machen. Zum Glück habe ich das Boot einstweilen noch nicht bestellt. Denn diese Pläne sind, wenigstens für diese Ferien, plötzlich umgestürzt worden. Ich bekam nämlich plötzlich einen Brief von MutterPCarnap, Anna, 1852-1924, Tochter von Friedrich Wilhelm Dörpfeld, heiratete 1887 Johannes Sebulon Carnap, Mutter von Rudolf Carnap und Agnes Kaufmann, dass mein älterer Bruder mit Frau und TochterPCarnap, Joseph Johannes, 1863–1936, Johannes genannt, dt. Bandfabrikant, Halbbruder von Rudolf Carnap, in zweiter Ehe verh. mit Gertrud CarnapPCarnap, Gertrud, 1870-1947, geb. Mannesmann, zweite Frau von Joseph Johannes Carnap, Tochter von Reinhard Mannesmann (1814-1894, dt. Fabrikant)PWiebalck, Elisabeth, 1889-1970, geb. Carnap, Lies genannt, Konzertsängerin, Tochter aus erster Ehe von Joseph Johannes Carnap, heiratete 1914 Otto Wiebalck für 2 Monate nach MarokkoLMarokko reist und sie gefragt hat, ob ich nicht mitdürfte.35Vgl. Anna Carnap an Carnap, 9. II. 1912 (RC 025‑11‑05) sowie TB 6. III. 1912R. Sie schrieb mir die Gründe für und gegen, sagte aber, sie wolle ihre mütterlichen Besorgnisse ganz zurückstellen und mich entscheiden lassen. Infolge meiner Schlingen in in der Leitung dauerte das nun einen ganzen Tag; dann hatte ich mich endlich alle Bedenken überwunden und mich entschlossen, mitzureisen. Nun denke Dir nur, wie fein das werden wird, da durchs Land zu reisen! Auch auf die Seefahrt freue ich mich schon mächtig. Und mein Freund GarthePGarthe, Otto, 1890–1948, von 1919–1924 Schularzt und Biologielehrer in Wickersdorf, verh. mit Margarethe Garthe von hier, der kein FreischärlerIFreischar ist, es aber vielleicht mal wird, reist auch mit. Ist das nicht fein? Ich glaube, ich habe Dir noch nicht von ihm erzählt. Er wohnt in GünterstalLGünterstal, einem reizend gelegenen \(_{63}\)🕮\(_{64}\) Dorf in der Nähe, wo ich im Sommer auch hinziehen werde, und FriedrichPRohden, Friedrich von, 1886–1973, Arzt, Sohn von Gustav von Rohden, Mitglied der Freischar Freiburg, heiratete 1914 Marianne von Rohden auch. Da hat GarthePGarthe, Otto, 1890–1948, von 1919–1924 Schularzt und Biologielehrer in Wickersdorf, verh. mit Margarethe Garthe aber nicht ein möbliertes Zimmer gemietet, sondern eine alte HolzhütteLGünterstal!Holzhütte, die Waldarbeitern zum Unterschlupf diente. Sie besteht nur aus einem großen Raum und dem Heuboden darüber, und war schmutzig und in entsetzlichem Zustande, einfach unbewohnbar. Da hat er sie im vorigen Sommer gründlich gereinigt, selbst angestrichen und etwas bemalt, einen Balkon davor bauen lassen und ganz famos eingerichtet. Sehr einfach, aber sehr geschmackvoll. Z. B. alte Schwarzwälder Stühle, die er bei einem Bauern gefunden hat; Schwarzwälder Porzellan mit den bunten Bauernmustern bemalt usw. Als es nun Winter wurde, waren die Bretterwände natürlich zu dünn. Da hat er innen eine zweite Bretterwand in handbreitem Abstand vor alle Wände gezimmert und den Zwischenraum mit Sägespänen ausgefüllt. In der Freiburger Brockensammlung36Offenbar eine Art Flohmarkt. hat er billig einen schönen alten eisernen Ofen erstanden und hat’s jetzt immer sehr warm und gemütlich. Man fühlt sich überhaupt immer so wohl in seiner Hütte, wenn man ihn besucht. Er hatte auch einen schönen, tüchtigen Wolfshund, dessen Hütte draußen neben der Haustür stand. Für ihn hatte GarthePGarthe, Otto, 1890–1948, von 1919–1924 Schularzt und Biologielehrer in Wickersdorf, verh. mit Margarethe Garthe ein Verbindungsloch in die aneinanderstoßenden Wände von seiner und des Hundes Hütte gesägt, sodass „Hünning“ 100 immer frei heraus- und hereinspazieren konnte. Nun hat er ihn leider neulich wegen Krankheit erschießen lassen müssen. –eine Krankheit des Hundes
par Etwas Genaueres über die Reise weiß ich nun noch gar nicht. Ich habe nur gehört, dass wir zuerst die Brüder meiner SchwägerinPCarnap, Gertrud, 1870-1947, geb. Mannesmann, zweite Frau von Joseph Johannes Carnap, Tochter von Reinhard Mannesmann (1814-1894, dt. Fabrikant)37Gertrud Helene Carnap. („Schwippschwäger“ nennt man das bei uns) besuchen wollen, die bei CasablancaLCasablanca, also an der atlantischen KüsteLAtlantische Küste, ein Gut haben.38Vgl. TB 7. IV. 1912R. Sie haben auch sonst noch Besitzungen im Lande und kennen da die Verhältnisse, wie man da reisen muss usw. Da bleiben wir, bis wir mit ihrer Hülfe eine Karawane ausgerüstet haben; dann soll’s wohl ein wenig ins Innere gehen. Ich hoffe das sehr, denn das wird erst recht interessant. Jetzt mache ich mit GarthePGarthe, Otto, 1890–1948, von 1919–1924 Schularzt und Biologielehrer in Wickersdorf, verh. mit Margarethe Garthe zusammen die Reisevorbereitungen. Dazu gehört auch der Zahnarzt, damit einem unterwegs nichts passiert. Und dann trainieren wir uns noch im Reiten. Denn in MarokkoLMarokko reitet man in den Karawanen nicht auf Kamelen, \(_{64}\)🕮\(_{65}\) wie wir des Interesses wegen wünschten, sondern auf Pferden. und dann besprechen wir immer zusammen, wasund ich weiß nicht was alles mitnehmen.

Da nun mein BruderPCarnap, Joseph Johannes, 1863–1936, Johannes genannt, dt. Bandfabrikant, Halbbruder von Rudolf Carnap, in zweiter Ehe verh. mit Gertrud Carnap leider an Influenza erkrankt ist, werden wir auf keinen Fall vor Anfang März abreisen können. Mein Zimmer hier habe ich nur bis zum 29. II. gemietet. Von da ab werde ich dann draußen bei GarthePGarthe, Otto, 1890–1948, von 1919–1924 Schularzt und Biologielehrer in Wickersdorf, verh. mit Margarethe Garthe wohnen, in seinem „Spatzennest“, so hat er sein Heim getauft.

Anfang Mai werden wir dann mit einiger Verspätung das Semester beginnen.39Das Sommersemester 1912 begann an der Universität Freiburg am 15. April, die Vorlesungen begannen in der Regel eine Woche später. Carnap reiste am 6. 3. 1912 von Freiburg ab und kehrte erst am 18. 5. 1912 von seiner Marokkoreise nach Freiburg zurück, versäumte also den Beginn des Sommersemesters. – Aber nach MainbergLMainbergIPflegestätte/Freistätte persönlichen Lebens, Schloss Mainberg/Schloss Elmau muss ich doch noch mal in diesem Jahr. – Den Gedanken werde ich nicht los. Seit ich es verlassen habe, übt es eine solche Anziehungskraft auf mich aus.40Carnap war vermutlich im Sommer 1911 in Mainberg. Als ich da war, hast Du davon bei mir wohl nichts gemerkt; denn ich glaube, damals habe ich es selbst nicht so gemerkt. Aber jetzt denk’ ich immer: Wann kann ich wohl mal wieder hin? Vielleicht Pfingsten, oder in unseren Sommerferien , die von August bis Okt. dauern. Wirst Du auch in diesem Jahr wieder einmal hingehen? —101

Sieh mal, was da in der Zeitung stand. [Gedruckt dazu gesteckt MarokkoLMarokko. ParisLParis, 22. Februar. Zwischen MetinesLMetines und RabatLRabat ist das Land wieder in vollem Aufruhr. Die Stämme der Sejans und der Semurs stehen im Felde, hindern jeden Verkehr und haben erst vor 2 Tagen 3 Europäer auf der LandstraßeLMarokko!Landstraße beraubt und ermordet. Ein Senegalschütze, der am Tor von Souk el ArbaLSouk el Arba Wache stand, wurde angegriffen und schwer verwundet. Die Aufständischen scheinen einen Angriff auf die Stadt zu planen. Oberst BrulardPBrulard, Jean-Marie, 1856-1923, fr. General setzte sich denn auch mit 2 Bataillonen von CasablancaLCasablanca in Bewegung, um die Besatzung von Souk el ArbaLSouk el Arba zu verstärken.] Das kann ja lustig werden. Hoffentlich lassen sich meine Verwandten nicht durch „Vorsicht“ bestimmen, die Reiseroute durch harmlose Gebiete zu nehmen. Ich bin sehr begierig, etwas zu erleben. –

Einen herzlichen Gruß sendet Dir Dein Rudi.

FriedrichPRohden, Friedrich von, 1886–1973, Arzt, Sohn von Gustav von Rohden, Mitglied der Freischar Freiburg, heiratete 1914 Marianne von Rohden lässt auch bestens grüßen.

Snart ska föjla ett vykort av vår domkyrka.41Schwedisch: „Bald wird eine Postkarte von unserer Domkirche folgen.“

Einschreiben 26. II. \(_{65}\)🕮\(_{66}\)

III / 1912GünterstalLGünterstal bei FreiburgLFreiburg i. B.LBreisgau, Spatzennest 4. III. 12.

Liebe TillyPNeovius, Tilly (eig. Mathilde), 1890–1975, Schwedin, die Carnap vermutlich 1911 auf Schloss Mainberg kennenlernte! Da ich doch nicht alles auf eine Karte krieg’, sollst Du gleich 2 vom MünsterLFreiburg!Münster haben, und wenn das nicht langt, noch andre dazu. Durch die Erkrankung meines BrudersPCarnap, Joseph Johannes, 1863–1936, Johannes genannt, dt. Bandfabrikant, Halbbruder von Rudolf Carnap, in zweiter Ehe verh. mit Gertrud Carnap ist unsere Abreise etwas hinausgeschoben worden. Inzwischen wohne ich hier draußen bei GarthePGarthe, Otto, 1890–1948, von 1919–1924 Schularzt und Biologielehrer in Wickersdorf, verh. mit Margarethe Garthe. Die andren FreischärlerIFreischar sind zum Teil schon heimgefahren, zum Teil sind sie Samstag auf eine 5‑tägige VogesenLVogesen-Wanderung gegangen. Ich hatte dazu leider keine Zeit; GarthePGarthe, Otto, 1890–1948, von 1919–1924 Schularzt und Biologielehrer in Wickersdorf, verh. mit Margarethe Garthe wollte wenigstens 2 Tage mit. Es scheint ihm dort aber gut zu gefallen. Er ist bis jetzt (Montagabend) noch nicht zurück, obwohl ich ihn sehnlichst erwarte. Nur nachts ist mir seine Abwesenheit ganz angenehm, weil ich dann in seinem Bett schlafen kann, statt auf der Holzbank. Aber das Leben ganz für sich hier in der Hütte ist doch fein. Gerade hat es geklopft. Ich mache auf, hereinkommt – GarthePGarthe, Otto, 1890–1948, von 1919–1924 Schularzt und Biologielehrer in Wickersdorf, verh. mit Margarethe Garthe. Na, da gibt’s gegenseitig genug zu erzählen. Da will ich morgen weiterschreiben.

BaselLBasel, im Zug, 6. III. 12. abends.42Zur Marokkoreise vgl. TB 4, 6. III.-18. V. 1912 sowie Otto Garthe, „Tagebuch der Marokkoreise“ (RC 025‑95‑02).OBasel

Gestern haben wir uns entschlossen, weil meine Verwandten erst Mitte März fahren können, sie erst in GibraltarLGibraltar zu treffen, wohin sie zu Schiff fahren, und vorher noch SüdspanienLSüdspanien zu besuchen. Da gab’s dann gestern 102 und heut viel zu kramen. Jetzt sind wir auf der Fahrt nach MarseilleLMarseille, wo wir morgen abend sein werden. Wahrscheinlich steigen wir ein paar Stationen vorher aus, vielleicht in AvignonLAvignon, wir möchten so gern mal ein wenig von der ProvenceLProvence sehen. Die Bauwerke und die ganze Gegend dort werde ich zwar mehr mit Kunst- als Wissenschaftsverständnis besehen, ich meine, mehr mit dichterischer Einfühlung in die Zeit der Troubadoure und all dieser famosen Kerle, auch der verbannten Päpste, als mit getreuer historisch-geographischer Kenntnis. GarthefUnterstreichung mit Verbindungslinie zur nächsten Unterstreichung.PGarthe, Otto, 1890–1948, von 1919–1924 Schularzt und Biologielehrer in Wickersdorf, verh. mit Margarethe Garthe sagt, er möchte auch solch eine TillyPNeovius, Tilly (eig. Mathilde), 1890–1975, Schwedin, die Carnap vermutlich 1911 auf Schloss Mainberg kennenlernte haben, der er alles erzählen kann was erimmer alle Reise­erlebnisse schreiben könnte. Nun fahren wir weiter, wie Du siehst.

BernLBernOBern 3 Uhr nachts. Bisher sehen wir noch keine hohen Berge, nur Hügel­land, aber wundervoll im Mondschein. Zwischendurch schlafen wir auch, oder tun wenigstens so, als ob. GarthePGarthe, Otto, 1890–1948, von 1919–1924 Schularzt und Biologielehrer in Wickersdorf, verh. mit Margarethe Garthe liest zuweilen in IrvingsPIrving, Washington, 1783-1895, am. Schriftsteller „Al­ham­bra“BIrving, Washington!Die Alhambra, Stuttgart, 188243Siehe LL .die wir infolge des geänderten Reiseplanes noch gerade gekauft haben. Aber irgendein Reisehandbuch oder sonst irgendein \(_{66}\)🕮\(_{67}\) Buch, aus dem man etwas über SüdspanienLSüdspanien schöpfen könnte, war nicht aufzutreiben. So wissen wir noch gar nicht, wohin’s da eigentlich gehen wird.

LyonLLyonOLyon 7. III. 10 Uhr morgens, nach westeuropäischer Zeit; denn in GenfLGenf mussten wir unsere Uhren um 1 Stunde zurückstellen und haben so das Vergnügen genossen, eine Stunde unseres Lebens zweimal zu erleben. Die Strecke am Genfer SeeLGenfer See entlang von LausanneLLausanne bis GenfLGenf, heute ganz früh bei Mondschein, war herrlich. Der SeeLGenfer See sah ganz ruhig aus und spiegelte den Mond, der über der gegenüberliegenden Silhouette von Bergen lag stand. Und später das prachtvolle RhonetalLRhonetal. Ich hatte es mir gar nicht so schön vorgestellt. Man fährt meist unten dicht neben dem FlussLRhone her. An beiden Ufern gehen die BergeLRhonetal!Berge mit steilen, zerklüfteten Felswänden in die Höhe. Da sieht man viele Höhlen und hohe, enge Schluchten, durch die die Bäche herunterstürzen. Es ist ganz herrlich, da herzufahren. Ich habe wirklich Lust bekommen, auch mal im Canoe die RhoneLRhone hinab zu fahren. Aber vielleicht ist sie wegen ihrer Klippen und Strudel und Untiefen dazu nicht geeignet.

AvignonLAvignonOAvignon 8. III. 12. Gestern sind wir hier ausgestiegen; eigentlich hauptsächlich aus Zufall, weil es die einzige Station unserer Strecke in der ProvenceLProvence war, von der wir wenigstens eine kleine historische Ahnung hatten. Und da haben wir es so herrlich hier getroffen. Gestern abend gingen 103 wir noch zur Kathedrale Cathedrale de notre dameLAvignon!Cathedrale de notre dame (links auf dem Bild) und sahen davor Christus am Kreuze mit den trauernden Frauen, gerade in den Strahlen der untergehenden Sonne. In der Kirche ist das Grabmal des Papstes Johannes XXII.PJohannes XXII., Papst, um 1244 bis 1334 Der hat den PalastLAvignon!Palast (rechts davon) begründet. Und jeder folgende baute ihn noch weiter aus. So ist es eine gewaltige Burg geworden. Wenn man auf dem PlatzLAvignon!Palast-Platz davor steht, so macht sie einen kolossal kräftigen, fast bösartig strengen Eindruck. Das Innere enttäuscht dagegen. Heute sind wir auf der anderen RhoneseiteLRhone gewesen. Da steht die schön erhaltene alte Burg der französischen KönigeLAvignon!Burg der französischen Könige, die von da den Papst in Schach hielten. Und besonders hat mir der „Turm Philipps des Schönen“LAvignon!Turm Philipps des Schönen gefallen, der in der Nähe der noch halb vorhandenen BrückeLAvignon!Burg-Brücke steht und sie bewachen sollte. Er besteht aus 3–4 übereinander gebauten, schön gewölbten Säulen, hat oben eine \(_{67}\)🕮\(_{68}\) Terrasse und darauf noch einen kleinen WachtturmLAvignon!Wachtturm. Von da sieht man ganz herrlich die französische BurgLAvignon!Burg der französischen Könige, die fast einen orientalischen Eindruck macht, und drüben die Stadt mit dem Papstsitz, und dann die mächtig stark strömende RhoneLRhone und ein weites Stück ihres TalesLRhonetal, und darüber noch den hohen Mont VentouxLMont Ventoux mit Schnee. Wenn Du später nach FrankreichLFrankreich gehst, wirst Du wohl auch mal AvignonLAvignon besuchen. Dann musst Du mir ganz besonders diesen TurmLAvignon!Wachtturm grüßen. – Inzwischen darf man Dir wohl schon zur „Meisterin der Weisheit“ gratulieren, oder wie weit ist’s jetzt damit? Jetzt fahren wir nach MarseilleLMarseille. Wann und wohin von da mit dem Schiff, wissen wir noch nicht. Wenn Du mal schreibst, (naturligtvis på svenska!)44Schwedisch: „natürlich auf Schwedisch“. dann bitte nach: JenaLJena, LindenhöheLJena!Lindenhöhe, dann wird’s nachgeschickt. Sei vielmals gegrüßt! Dein Rudi.

[4 Ansichtskarten von FreiburgLFreiburg: 1) MünsterLFreiburg!Münstervom SchlossbergLFreiburg!Schlossberg (No 6, Stermann) 2) MünsterLFreiburg!Münster vom SchlossbergLFreiburg!Schlossberg gesehen, (7324 Glaser), 3) Martins­torLFreiburg!Martinstor, Stadtseite („Här går jag ur staden hem till GünterstalLGünterstal“)‚45Schwedisch: „Hier gehe ich aus der Stadt heraus nach Hause zum GünterstalLGünterstal“. 4) Der FeldseeLFeldsee am FeldbergLFeldberg, SchwarzwaldLSchwarzwald. („På det här berget åker vi skidor.“)46Schwedisch: „Auf diesem Berg fahren wir Ski“.

Und eine 3‑fache Karte: 5307 AvignonLAvignon, vue prise de l’Île de la Barthelasse.47Französisch: „Blick auf Avignon von der Île de la Barthelasse“. (KathedraleLAvignon!Kathedrale und PapstpalastLAvignon!Papstpalast.)]

Einschreibebrief.

9. III. MarseilleLMarseille.

1912\(_{68}\)🕮\(_{69}\)104

IV / 1912 TangerLTanger, 4. IV.OTanger

Liebe TillyPNeovius, Tilly (eig. Mathilde), 1890–1975, Schwedin, die Carnap vermutlich 1911 auf Schloss Mainberg kennenlernte! Nun habe ich so viel Schönes gesehen und Merkwürdiges erlebt, dass ich Dir unbedingt mal wieder schreiben muss, um Dir wenigstens einen Teil davon zu erzählen. Nämlich von der wunderbaren Märchenstadt TetuanLTetuan, die wir vorige Woche von hier aus für 3–4 Tage besucht haben.

Von SpanienLSpanien will ich Dir nur kurz berichten, dass wir da eine sehr nette Küstenfahrt gemacht haben. Nachts fuhr gewöhnlich der Dampfer weiter und bei Tage sahen wir uns die Stadt an, während er ein- und auslud, manchmal auch 2 Tage lang. Gewöhnlich gingen wir in den Hafenorten zuerst auf einen Berg in der Nähe, um einen Überblick über die ganze Gegend und die Stadt und das Meer zu bekommen. Und dann trieben wir uns führer- und planlos in der Stadt umher, leider auch ohne Sprachkenntnisse, da wir uns erst so spät entschlossen hatten, auch SpanienLSpanien zu besuchen. Aber trotzdem gefiel es uns sehr, die ganze Art der Stadt und das Leben und Treiben der Leute auf den Straßen und in öffentlichen Lokalitäten zu beobachten. Auf diese Weise haben wir BarcelonaLBarcelona, ValenciaLValencia, AlikanteLAlikante, CartagenaLCartagena und AlmeriaLAlmeria gesehen. Von da fuhren wir mit der Bahn nach GranadaLGranada. Aber ich will mich nicht damit aufhalten, Dir von den Bauten der AlhambraLGranada!Alhambra und den herrlichen Bergen der Sierra NevadaLSierra Nevada dahinter zu erzählen. Und auch nicht von den Stierkämpfen in AlikanteLAlikante, im Beisein des spanischen KönigspaaresPKönigspaar, spanisches, König Alfonso XIII., 1886-1941, und Victoria Eugénie Prinzessin von Battenberg, 1887-1969, oder vom Besuch der spanischen FestungLCartagena!Spanische Festung auf den Bergen bei CartagenaLCartagena.

Sondern diesmal nur von der Stadt TetuanLTetuan. Geographisch-objektiv: 70 km von hier, 20 km vom Meere entfernt, 30.000 Einwohner. Persönlich-subjek­tiv: Lässt sich gar nicht beschreiben, man kann es nur selbst erleben. Aber es lässt sich doch eine ganze Menge davon erzählen. Zu sieben ritten wir hin: mein BruderPCarnap, Joseph Johannes, 1863–1936, Johannes genannt, dt. Bandfabrikant, Halbbruder von Rudolf Carnap, in zweiter Ehe verh. mit Gertrud Carnap mit seiner FrauPCarnap, Gertrud, 1870-1947, geb. Mannesmann, zweite Frau von Joseph Johannes Carnap, Tochter von Reinhard Mannesmann (1814-1894, dt. Fabrikant) und einer Tochter Deines AltersPWiebalck, Elisabeth, 1889-1970, geb. Carnap, Lies genannt, Konzertsängerin, Tochter aus erster Ehe von Joseph Johannes Carnap, heiratete 1914 Otto Wiebalck48Joseph Johannes Carnap, Gertrud Carnap und Elisabeth Wiebalck. noch 2 Damen von hier, GarthePGarthe, Otto, 1890–1948, von 1919–1924 Schularzt und Biologielehrer in Wickersdorf, verh. mit Margarethe Garthe und ich. Wir wohnten dort bei einem Deutschen, Herrn HessePHesse, Herr =? Kurt Hesse, 1880-1914, dt. Bergassessor, der durch seinen Beruf Beziehungen zu den besten Familien der StadtgDer Text bricht hier ab.\(_{69}\)🕮\(_{81}\)hEs folgt eine hier nicht wiedergegebene Seite mit einem Index der gesamten von Carnap in diesem Manuskript dokumentierten Korrespondenz. Dann fehlen 10 Seiten in der Paginierung des Manuskripts.

\1912\105

VI / 1912 Liebe TillyPNeovius, Tilly (eig. Mathilde), 1890–1975, Schwedin, die Carnap vermutlich 1911 auf Schloss Mainberg kennenlernte! FreiburgLFreiburg-GünterstalLFreiburg!GünterstalOFreiburg den 6. VI. 12.

Wenn Du nun wissen sollst, ob man mir drüben den Kopf abgeschlagen hat, oder ob ich wieder lebendig hier bin, so muss ich wohl mal wieder schreiben. Als Du mir aus UppsalaLUppsala schriebst, Du würdest wahrscheinlich in die SchweizLSchweiz reisen, habe ich mich sehr gefreut und gehofft, Dich dann vorher in FreiburgLFreiburg, oder wenn Du erst im Sommer führst, vielleicht in MainbergLMainbergIPflegestätte/Freistätte persönlichen Lebens, Schloss Mainberg/Schloss Elmau wiederzusehen. Als ich dann aber durch eine Mainberger Karte von FriedrichPRohden, Friedrich von, 1886–1973, Arzt, Sohn von Gustav von Rohden, Mitglied der Freischar Freiburg, heiratete 1914 Marianne von Rohden erfuhr, Du seiest auch da gewesen, schloss ich, Du würdest in LausanneLLausanne sein. Und da wollte ich Dich unangemeldet überraschend besuchen.

Den 18. Mai in LausanneLLausanne, es war gerade mein Geburtstag, werde ich nie vergessen. Wir, das heißt GarthePGarthe, Otto, 1890–1948, von 1919–1924 Schularzt und Biologielehrer in Wickersdorf, verh. mit Margarethe Garthe, Mesian und ich zogen da in frühester Morgenstunde in heiterster Stimmung durch die Straßen. Nun wirst Du Dir wohl kaum denken können, wer Mesian ist. Das ist nämlich ein junger Freund, den wir drüben erworben haben; er ist uns in seinem Herzen sehr zugetan, und wenn er auch manchmal zu beißen versucht, so ist das wegen seiner Jugend noch ganz harmlos. Aber bellen hat er gelernt, schon fast wie ein großer. Damals, als wir ihn aus dem Araberdorfe holten und ihn abwechselnd auf dem Arm trugen, um mit ihm zur Stadt zu reiten, war er noch so ganz ruhig, klein und niedlich. Und dann auf dem Schiff war er mit seinem entzückenden pummeligen weißen Pelz und seinen täppischen Bewegungen bald der Freund der ganzen Mannschaft. Wir fuhren nämlich nicht auf einem Passagierdampfer, weil ein solcher plötzlich nach einem anderen Ort, als fahrplanmäßig vorgesehen, geschickt wurde, und wir doch gern bald abfahren wollten. Zum Glück hat man uns erlaubt, auf einem norwegischen Frachtdampfer mitzufahren. Kabinen gab’s da nicht. Wir schlugen unsere Zeltbetten auf Deck auf, und man spannte uns ein Segeltuch darüber, sodass es bei ruhigem Wetter fast so bequem war, wie im Zelt. Auch mussten wir uns selbst verpflegen und kauften deshalb in der letzten Stunde noch eiligst Proviant für eine Woche ein. So lange hat’s nämlich gedauert, da der Dampfer arg \(_{81}\)🕮\(_{82}\) langsam fuhr. In TangerLTanger hielten wir noch mal, dann nicht mehr bis MarseilleLMarseille. Das war eine wunderbar feine Fahrt. Das Wetter war meist günstig, besonders zuerst. Da lagen wir auf dem Deck, sangen und spielten Okarina, schauten aus, ob nicht irgendwo Land zu sehen wäre (zeitweise war die spanische Küste in Sicht), lasen wenig und schrieben noch weniger, mussten dann auch wieder mal fürs Essen sorgen, was zuweilen nicht sehr schnell ging. Dann gingen wir auch mal hinab in die Laderäume und den Maschinenraum und unterhielten uns mit den Leuten, so gut es ging, GarthePGarthe, Otto, 1890–1948, von 1919–1924 Schularzt und Biologielehrer in Wickersdorf, verh. mit Margarethe Garthe auf Englisch und ich auf 106 Schwedisch. Die Leute waren sehr freundlich und besonders der Schiffskoch hat uns manchen guten Dienst erwiesen. Manchmal kochte er uns Grütze, oder er gab uns heißes Wasser, worin wir unseren Tee taten. Zuerst kochten wir immer alles selbst auf unserem Spirituskocher, Reis mit Pflaumen, Grütze, Tee, Kakao usw, schließlich aber war uns das zu unbequem und außerdem reichte der Spiritus bei weitem nicht. | So führten wir 7 Tage ein äußerst vergnügliches Leben, wir viere. Außer Mesian hatten wir nämlich einen jungen Esel mit, den wir Inschallah (wenn Allah will) nannten. Wäre er glücklich in GünterstalLGünterstal angekommen, so sollte er Hamdullah (gelobt sei Allah) heißen. Es gab da nämlich allerhand Schwierigkeiten. Erstens ein Verbot, Esel aus MarokkoLMarokko auszuführen. Aber da haben wir ihn glücklich durchgeschmuggelt. Auch das Einbooten in das weit draußen liegende Schiff glückte. Die Offiziere waren auch so freundlich, seine Mitfahrt zu erlauben, obwohl wir natürlich der Agentur der SchiffsgesellschaftLTanger!Agentur der Schiffsgesellschaft in der Stadt nichts hatten davon hatten sagen dürfen. Aber in MarseilleLMarseille stellten sich so viele Hindernisse in den Weg, dass wir unseren und Mesians guten Freund dort stehen lassen mussten. So fuhren also wir 3 allein an unserm lieben AvignonLAvignon vorbei, und dann durch das nächtlich unsichtbare RhonetalLRhonetal zu Dir, wie wir glaubten. Deine Karte vom 6. aus ParisLParis hatte ich natürlich noch lange nicht.

Also von unserem schönen Lausanner Tag wollte ich Dir erzählen. Das Wetter war so wunderschön sonnig, und dann diese AlpenLAlpen! Die herrlichen schneebedeckten DiableretsLAlpen!Diablerets und Dents du Midi \(_{82}\)🕮\(_{83}\) und den MuverantLAlpen!Muverant und wie sie alle heißen. Die Namen wusste ich noch von einem Ferienaufenthalt im oberen RhonetalLRhonetal her. Ich konnte sie nicht mehr genau unterscheiden, aber das tat dem Genuss keinen Abbruch. Also da spazierten wir nun durch die Stadt von einem Erkundigungs- oder Einwohner- oder Fremden- oder Postbüro zum andern, um Deine Adresse zu erfahren, in der sicheren Annahme, Du seiest da und in der Hoffnung, endlich was von Dir zu hören oder Dich zufällig auf der Straße zu treffen. Alle Leute auf der Straße freuten sich, wenn sie uns erblickten. Und es muss auch wirklich ein zu famoses Bild gewesen sein: GarthePGarthe, Otto, 1890–1948, von 1919–1924 Schularzt und Biologielehrer in Wickersdorf, verh. mit Margarethe Garthe mit dem kleinen, weißen Mesian, der um den Hals eine rote Schnur mit roter Quaste trug, in dem einen Arm; in der andern Hand einen großen Strauß der schönen blauen Schwertlilien (fleurs di lys), wie sie da überall zum Verkauf geboten wurden. Die hat nun das Schicksal in die Hand einer andern, als für die sie bestimmt waren, kommen lassen. Außerdem trugen unsere braunen Gesichter, eine marokkanische Ledertasche, die ich um die Schulter hängen hatte, und GarthesPGarthe, Otto, 1890–1948, von 1919–1924 Schularzt und Biologielehrer in Wickersdorf, verh. mit Margarethe Garthe weiße Reithose dazu bei, um unser exoti­107sches Aussehen zu vervollständigen. GarthePGarthe, Otto, 1890–1948, von 1919–1924 Schularzt und Biologielehrer in Wickersdorf, verh. mit Margarethe Garthe ließ es sich auch gern von andern Leuten gefallen, wenn sie das schneeweiße Hundchen auf seinem Arm streichelten, besonders von liebenswürdigen jungen Damen Mädchen.

Als man mir schließlich sagte, es sei ausgeschlossen, dass Du in LausanneLLausanne wohntest, telegrafierte ich noch zur Sicherheit nach MainbergLMainbergIPflegestätte/Freistätte persönlichen Lebens, Schloss Mainberg/Schloss Elmau um Deine Adresse. Ich hielt es für wahrscheinlich, dass Du noch in DeutschlandLDeutschland wärst und kaufte eine Ansichtskarte von der KathedraleLLausanne!Kathedrale, um Dir von Deinem zukünftigen Aufenthaltsort einen Gruß zu schicken, sobald ich man mir aus MainbergLMainberg Deine Adresse telegrafierte. Inzwischen aßen wir unten in OuchyLOuchy am See zu Mittag und spazierten noch umher. Doch bekam ich das Antworttelegramm nicht mehr in LausanneLLausanne, weil wir um 2 Uhr wieder abfahren mussten. So bist Du auch um diese wunderschöne Karte gekommen; denn Du glaubst doch nicht etwa, dass ich Dir aus FreiburgLFreiburg eine Karte von LausanneLLausanne schicke.

Abends spät kamen wir in FreiburgLFreiburg an und wurden von FriedrichPRohden, Friedrich von, 1886–1973, Arzt, Sohn von Gustav von Rohden, Mitglied der Freischar Freiburg, heiratete 1914 Marianne von Rohden und andern FreischärlernIFreischar abgeholt. \(_{83}\)🕮\(_{84}\)

Draußen in GünterstalLGünterstal, wo in diesem Semester außer FriedrichPRohden, Friedrich von, 1886–1973, Arzt, Sohn von Gustav von Rohden, Mitglied der Freischar Freiburg, heiratete 1914 Marianne von Rohden, GarthePGarthe, Otto, 1890–1948, von 1919–1924 Schularzt und Biologielehrer in Wickersdorf, verh. mit Margarethe Garthe und mir noch 4 andre FreischärlerIFreischar wohnen, saßen wir dann noch etwas auf in GarthesPGarthe, Otto, 1890–1948, von 1919–1924 Schularzt und Biologielehrer in Wickersdorf, verh. mit Margarethe Garthe Häuschen zusammen. Der ereignisreiche Tag, an dem ich außerdem noch mündig geworden bin‚49Carnap wurde am 18. V. 1912 21 Jahre alt. schloss so. Das Wiedersehen mit den Freunden und die Verkündigung von FriedrichsPRohden, Friedrich von, 1886–1973, Arzt, Sohn von Gustav von Rohden, Mitglied der Freischar Freiburg, heiratete 1914 Marianne von Rohden Verlobung Tag.50Mit Marianne Klien, die er 1914 heiratete. Kennst Du nicht vielleicht Mutter KlienPKlien, Mutter von Marianne von Rohden? Ich habe sie leider noch nicht gesehen und bin gespannt darauf, sie mal kennenzulernen.

Am andren Morgen kam von LausanneLLausanne das MainbergerLMainbergIPflegestätte/Freistätte persönlichen Lebens, Schloss Mainberg/Schloss Elmau Telegramm mit Deiner Lausanner AdresseLLausanne. Was, Du bist also doch in LausanneLLausannegewesen?! dachte ich. Ich ärgere mich nicht leicht; aber sowas!

Es war mir ordentlich ein Trost, als ich Deine Karte vom EiffelturmLParis!Eiffelturm bekam. Und noch später bekam ich Deine erste Karte aus ParisLParis, die endlich Gewissheit brachte, dass Du jetzt da drüben steckst. Aber wem gibst Du denn da eigentlich Französischstunden? Die Leute in ParisLParis können doch hoffentlich besser Französisch als Du? Oder ist die „Familie Mote“ ein Mädchenpensionat? Oder hast Du Dich verschrieben, und es soll statt franska heißen tyska?51Schwedisch: franska = französisch, tyska = deutsch.108

Nun danke ich Dir noch sehr für Deinen Brief aus UppsalaLUppsala. Dass ich ihn verstanden habe, musst Du mir glauben, da ich mich im Schwedisch lesen geübt habe: Ich habe unterwegs den 1. Band von LagerlöfsPLagerlöf, Selma, 1858-1940, schwed. Schriftstellerin Jerusalem „Das Dalarne“BLagerlöf, Selma!1901@Jerusalem I: I Dalarne, Stockholm, 1901 gelesen.52Siehe LL . Ich hatte ihn früher einmal in Deutsch gelesen, und da hatte er mir so gut gefallen, dass ich ihn mir noch schnell vor der Abreise als Reiselektüre habe kommenlassen gekauft habe. Sag’ mal, kannst Du mir nicht die Adresse einer Buchhandlung (also nicht eines Verlages) in UppsalaLUppsala oder StockholmLStockholm angeben, von der ich mir Bücher­kataloge, die nicht nur einen Verlag umfassen, kommen lassen erbitten und dann auch direkt die Bücher direkt kommen lassen kann?

Mit gesträubtem Haar habe ich gelesen, dass Du Dir eine so trostlose Beschäftigung, wie das Markensammeln zur Freundin erkoren hast. Triffst Du in der Wahl Deiner Freundschaften immer so daneben? Und wenn ich Dir jetzt einige Marken schicke, die ich noch von MarokkoLMarokko habe, so kann ich es nur mit bösem Gewissen, wobei mich aber der Gedanke beruhigt,  mich nurder Gedanke, dass der Zeitmangel Deiner Sammelwut Zügel anlegen wird. Die Karte, die ich wegen ihresiDer Text bricht hier ab. In der Paginierung des Manuskripts fehlen dann vier Seiten.\(_{84}\)🕮\(_{89}\)

X / 1912 Liebe TillyPNeovius, Tilly (eig. Mathilde), 1890–1975, Schwedin, die Carnap vermutlich 1911 auf Schloss Mainberg kennenlernte! JenaLJenaOJena LindenhöheLJena!Lindenhöhe, 20. X. 12. Das würde mich sehr freuen, wenn wir uns mal wiedersehen könnten. Ich habe immer gehofft, es würde noch in MainbergLMainbergIPflegestätte/Freistätte persönlichen Lebens, Schloss Mainberg/Schloss Elmau sein. Eure Karte bekam ich an der NordseeLNordsee. Da antwortete ich nicht, sondern dachte, eine Woche nach MainbergLMainbergIPflegestätte/Freistätte persönlichen Lebens, Schloss Mainberg/Schloss Elmau gehen ist besser als antworten. Auf der Reise bekam ich dann in EisenachLEisenach Nachricht, dass es nicht ging. Nun freue ich mich, wenn wir uns hier noch treffen können.

Aber eine Minute nur, das lohnt sich doch gar nicht. Da schlag’ ich Dir vor: Steig’ hier 124 aus und fahr’ dann 315 weiter, da können wir 2 Stunden spazierengehen. Dann bist Du 642 statt 449 in BerlinLBerlin (oder wo willst Du hin: In HalleLHalle 438 statt 239, in LeipzigLLeipzig 500 statt 307). Wenn Du aber unbedingt mit Deinem Zug weiterfahren musst, dann werd’ ich in SaalfeldLSaalfeld hineinsteigen (da kommst Du 1236 an) und in JenaLJena wieder raus. Du musst mir aber sofort schreiben, denn die Postbestellung zu uns heraus ist manchmal arg bummelig. –

Der letzte Sommer in FreiburgLFreiburg war zwar nur 2 Monate lang, aber sehr schön. Und dann kamen sehr lustige Ferien. Da bin ich mit 3 anderen FreischärlernIFreischar in einem großen Fischerkahn den RheinLRhein hinuntergefahren, 109 von BaselLBasel bis BonnLBonn.53Siehe TB 8. VIII.-13. VIII. 1912. Das Wetter war zwar manchmal scheußlich, aber wir haben’s doch fein gehabt. Nur konnten wir wegen des Regens leider nie nachts im Boot schlafen, was wir vorhatten. Dann war ich noch in RheinlandLRheinland und WestfalenLWestfalen, und an der Nord-LNordsee und OstseeLOstsee, und in ThüringenLThüringen, zum Schluss auch in BambergLBamberg. Und dann war ich die Rumreiserei leid, und bin endlich nach Haus’ gefahren. Im Wintersemester werde ich hier in JenaLJena bleiben.

Fährst Du denn eigentlich jetzt nach SchwedenLSchweden und kommst gar nicht wieder nach EuropaLEuropa? Oder was hast Du vor? Na, ich hoffe, Du steigst hier aus und erzählst mir alles mündlich. ZachowsPZachows kenne ich nicht, aber OttiPUlmer, Ottilie, auch Otti, Wirtschafterin auf Schloß Mainberg und später in Elmau, verh. mit Josef Ulmer wirst Du wohl auch noch mal sehen. Dann grüß’ sie bitte. Dir selbst viele herzliche Grüße! Rudi CP. \(_{89}\)🕮\(_{91}\)jEs folgen eineinhalb Seiten mit hier nicht reproduzierten Briefen: zwei kurzschriftliche Abschriften von Briefen von Ottilie Ulmer und Tilly Neovius sowie zwei lang­schrift­liche Briefe, offensichtlich in der schwedischen Handschrift von Tilly Neovius. Auf der zweiten Hälfte von Seite 91 setzt der Text tagebuchartig wieder ein.

XI / 1912 Liebe TillyPNeovius, Tilly (eig. Mathilde), 1890–1975, Schwedin, die Carnap vermutlich 1911 auf Schloss Mainberg kennenlernte! JenaLJena, 27. XI. 12. Er kommt, er kommt, hurra, er kommt wirklich! Nämlich der Geburtstagsbrief. Er beginnt schon mit löblichem Eifer so früh, weil ich Angst habe, er kommt sonst nicht rechtzeitig zu Ende. Hier habe ich nämlich nicht mehr so viel Zeit, wie in FreiburgLFreiburg. Du aber anscheinend um so mehr, denn bisher habe ich noch gar nicht gehört, was du eigentlich zu tun hättest.

Siehst Du, viel komme ich nicht zum Schreiben. An den Vor­le­sun­gen liegt’s zwar nicht. Oder meinst Du, dass 6 Stunden in der Woche viel sei? Aber da ist das physikalische Praktikum; dann Seminare, und hauptsächlich das Arbeiten zu Hause. \(_{91}\)🕮\(_{92}\)

Leider kann ich auch sonntags nicht immer raus, wie ich gern möchte. So oft ist da in der Stadt irgendwas los. Und es soll doch schon seit mehreren Wochen Schnee liegen auf dem Thüringer WaldLThüringer Wald; wie man behauptet, genug zum Skilaufen. Übermorgen werd’ ich nun wieder nicht hinfahren können. Und am folgenden Sonntag ist noch die Hochzeit meiner Schwe­sterPKaufmann, Agnes, 1890–1976, geb. Carnap, Schwester von Rudolf Carnap, heiratete 1912 Reinhard Kaufmann. Aber dann am 3. Advent: Wenn ich da nicht endlich rauskomme, nagle ich die Skier zu einem Galgen zusammen und häng’ mich auf. Und so herrliches Wetter jetzt draußen. Klare Frostluft und Sonne. Na, umso mehr freue ich mich auf die Weihnachtsferien. An Vergnügen fehlt’s ja auch jetzt nicht. Z. B. hatte vorgestern AgnesPKaufmann, Agnes, 1890–1976, geb. Carnap, Schwester von Rudolf Carnap, heiratete 1912 Reinhard Kaufmann zum letzten Mal ihr 110 FräuleinPKaufmann, Agnes, 1890–1976, geb. Carnap, Schwester von Rudolf Carnap, heiratete 1912 Reinhard Kaufmann da, und einige Bekannte; da haben wir musiziert und getanzt; der SepplPUlmer, Josef, *1887, auch Seppl, Theologe und Pädagoge, verh. mit Ottilie Ulmer war auch dabei. Auch spielen HeinzPRohden, Heinz von, 1892–1916, Sohn von Gustav und Agnes von Rohden, Student der Theologie, Mitglied der AV Marburg, ich und noch 2 andere Freunde spielen auch jede Woche an einem Abend Streichquartett.

Bei der seltsamen und undurchschaubaren politischen Lage jetzt denkt man hier noch immer an die Möglichkeit eines Krieges, wenn man ihn auch nicht gerade für wahrscheinlich hält.HIST Wenn ich dem ganzen Land auch nicht den Schaden wünsche, den es durch einen Krieg in jedem Falle auf materiellem und kulturellem Gebiet haben würde‚ – mir persönlich wär’s schon recht, wenn’s losginge. Ich habe manchmal so wahnsinnige Sehnsucht, aus dem stillen Sitzen rauszukommen. Es kommt mir auch manchmal so vor, als würde ich es mal erleben können, für eine Zeit lang auf Abenteuer in die weite Welt zu ziehen, und mal alle liebgewohnten alten Fäden heimlich loszuknüpfen und in EuropaLEuropa zurückzulassen. Aber solche „kindischen“ Gedanken darf man ja nicht laut sagen. Ja, wenn man mir nur das Dienstjahr frei geben wollte‚54Bezieht sich auf das Dienstjahr als Einjährig-Freiwilliger, die auf ein Jahr begrenzte Wehrpflicht bei höherem Schulabschluss, das Carnap zu Kriegsbeginn noch nicht absolviert hatte (vgl. TB 2. VIII. 1914R). das elende, stumpfsinnige, das einem einen solchen Menge Zeit gewaltigen Zeitraum wegnimmt, und nichts gerade aus dem frischesten und beweglichsten Alter. Man kann Dich beinahe beneiden, dass Du nicht zu dienen brauchst, und 2.) Deinen Magistergrad schon mit Fleiß und Ehre erreicht hast.55Vgl. TBT 18. XI. 1911R. Ja Du, wenn ich das Jahr frei und schon den Doktor hätte! Aber‚trotz dieser . Aber mal aus \(_{92}\)🕮\(_{93}\) allem rauszurennen, wo man bisher drin gesteckt hat, das kannst Du ja trotz dieser glücklichen Vorzüge nicht, weil Du 1. ein Mädchen, und 2. zu zahm bist. Aber das muss wohl bei Mädchen so sein. 
par XII / 1912 Zu Deinem Geburtstag übermorgen meine besten Glück­wün­sche für das ganze beginnende Jahr, und einen je eiligeren, desto herz­licheren Gruß Rudi CP. [Wenn Du über die eilige Abfertigung schimpfst, so tu’s wenigstens bitte schriftlich, damit ich wenigstens etwas davon zu merken bekomme].kRechts neben dem Absatz eine schräge Linie, unter der sich der Eintrag [4 Seiten] befindet. Vielleicht hat Carnap hier, bei der Abschrift des Briefwechsels, vier Seiten übersprungen. Vgl. auch den gleichlautenden Eintrag gegen Ende des Briefes vom 23. XII. 1912.111

Liebe TillyPNeovius, Tilly (eig. Mathilde), 1890–1975, Schwedin, die Carnap vermutlich 1911 auf Schloss Mainberg kennenlernte! JenaLJena, den 23. XII. 12. Warum lässt Du denn gar nichts von Dir hören? Das ist ja schrecklich mit Deiner Schreibfaulheit! Wenn Du auch jetzt zu Weihnachten nicht geschrieben hast, dann will ich Dir dringend raten, das mal Neujahr nachzuholen, sonst fang’ ich mal gehörig an zu schimpfen. Und Neujahr ist doch überhaupt eine so passende Gelegenheit wie nur möglich. Also los! Wenn’s Dich interessiert, ob ich schon Ski gelaufen bin: Ich bin nämlich schon zweimal je 2 Tage oben im Thüringer WaldLThüringer Wald gewesen. Am 1. Advent war ich so böse darüber, dass ich nicht raus konnte, dass ich dann in der Woche Dienstag und Mittwoch weggelaufen bin. Zu meiner Freude bemerkte ich nämlich, dass ich an diesen Tagen nur eine Stunde Kolleg habe, und deshalb doch viel besser raus kann, als samstags und sonntags. Aber da in der Woche kein andrer mittut, war ich da ganz allein. Das war mir aber gerade recht. Und ich freue mich, dass ich da mal für mich so durch die Schneewälder rennen konnte und mich von der feinen Luft da frisch blasen lassen. Ich konnt’s gebrauchen. Zu Agnes’PKaufmann, Agnes, 1890–1976, geb. Carnap, Schwester von Rudolf Carnap, heiratete 1912 Reinhard Kaufmann Hochzeit, die am 2. Advent war‚56Agnes Carnaps/Kaufmanns kirchliche Trauung fand am 8. XII. 1912 statt. kam auch GarthePGarthe, Otto, 1890–1948, von 1919–1924 Schularzt und Biologielehrer in Wickersdorf, verh. mit Margarethe Garthe; der ist dann den folgenden Di und Mi mit mir oben gewesen. Schade, dass Du den Thüringer WaldLThüringer Wald nicht kennst, dass ich Dir erzählen könnte, wo wir waren. Seitdem bin ich dann hier unten geblieben, um nicht zu faul zu sein. Vielleicht rück’ ich aber in der 2. Hälfte der Ferien (die sind bis zum 8. I.) \(_{93}\)🕮\(_{94}\) nochmal aus. Hab’ ich Dir schon erzählt, dass wir hier einen „A. V.IAkademische Vereinigung Jena, Ableger der Deutschen Akademischen Freischar gegründet haben?57Die Akademische Vereinigung Jena war im November 1912 von Mitgliedern des Sera-Kreises gegründet worden. Vgl. Werner, Moderne in der Provinz, 299–307. Das ist eine neue Korporation, die der FreischarIFreischar verwandt ist, da sie auch Mensur und Biertrinken nicht schätzt und lieber Sachen treibt, die nicht so stumpfsinnig sind. Vor 3 Tagen haben wir in der AVIAkademische Vereinigung Jena, Ableger der Deutschen Akademischen Freischar eine Weihnachtsfeier gehabt. Da haben wir ein altes deutsches Weihnachtsspiel aufgeführt, also die Weihnachtsgeschichte mit den Hirten, 3 Königen und allem, was noch dazu gehört, und Gesang dazu, so wie es zu früheren Zeiten hier in den Kirchen gespielt wurde. Als Einleitung spielten wir im Streichtrio eine Weihnachtspastorale von PasquiniPPasquini, Bernardo, 1637-1710, ital. Komponist, später noch ein Trio mit Klavier von PergolesiPPergolesi, Giovanni Battista, 1710–1736, italien. Komponist, also vor-Bach’schePBach, Johann Sebastian, 1685–1750, dt. Komponist italienische Musik, die im Stil zu dem Stück passt. Unsre Gäste haben anscheinend viel Freude dabei gehabt. Dann hinterher, als die älteren Leute weg waren, haben wir noch gesungen und getanzt und unsern Spaß gehabt. Nun sind die Studenten natürlich schon alle weggereist, auch HeinzPRohden, Heinz von, 1892–1916, Sohn von Gustav und Agnes von Rohden, Student der Theologie, Mitglied der AV Marburg, der als Kassierer eifrig zur AVIAkademische Vereinigung Jena, Ableger der Deutschen Akademischen Freischar gehört. – Als Rache dafür, dass Du gar nicht geschrieben 112 hast, will ich Dich doch mal ärgern: Im Gedanken daran, dass Du mal sagtest, Du möchtest keine Gedichte, schick’ ich Dir ein Buch voll Gedichte.58Siehe den untenstehenden Hinweis auf Matthes, Volksballaden. Ich kann ja nicht dafür, wenn Dir trotzdem das eine oder andre gefällt (es sind nämlich wirklich feine darunter, kräftig und un­ge­künstelt).

Einen Gruß für Weihnachten und einen Glückwunsch zum neuen Jahr [wirst Du es ganz in der Eiswüste verbringen?]

Rudi CP. (2:lEs folgt eine waagrechte Linie über die gesamte Seitenbreite, über der rechtsbündig der Eintrag [4 Seiten] steht.

[In: „Alte deutsche Volksballaden“ (MatthesPMatthes, Erich, 1888-1970, dt. Verleger, Hofmeister):]BMatthes, Erich!Alte deutsche Volksballaden. Gesammelt von einem Wandervogel, Leipzig, 191259Matthes, Alte deutsche Volksballaden. Siehe LL . Der untenstehende Text ist offenbar die von Carnap in dem Buch eingetragene Widmung.

Dir, Verächterin der Gedichte, auf dass Du Dich bekehrst!

Weihnachten 1912. Rudi RC.mDoppelte waagrechte Linie über die gesamte Seitenbreite


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