3Tagebuch [Tilly-Briefe] 3. XI. 1911 – 23. XII. 1912 [Rudolf Carnap: Tagebücher], Eintrag Mo 5. II. 1912

Da Freitag mal wieder so ein katholischer Feiertag war, und ich Samstag kein Kolleg habe, so habe ich mal wieder 3 Tage Ferien gehabt. Da bin ich mit 2 andern FreischärlernIFreischar in die VogesenLVogesen hinausgefahren. Schon unten in dem DorfeLVogesen!Dorf, wo wir aus der BahnLVogesen!Bahn stiegen, konnten wir die Bretter unterschnallen, so schönen Schnee hatten wir. Und dann gingen wir wieder, wie damals im Oktober, auf den Kamm hinauf und fingen nun unsere Wanderung Skiwanderung nach Süden da an, wo wir damals mit der Fußwanderung aufgehört hatten. Und so kamen wir auch auf das Sulzer BelchenLSulzer Belchen, das wir damals schon zuweilen sehnsüchtig angeschaut hatten. Dort brachten wir die letzte Nacht zu. Der Rundblick vom Gipfel bei Sonnenuntergang, wie wir ihn hatten, \(_{55}\)🕮\(_{56}\) ist gar nicht zu beschreiben. Diese Farben auf den Schneefeldern und den Wäldern und den Bergen umher, und dann das dicke Nebelmeer nach der französischen Seite hin! Und dann der rot leuchtende Widerschein über dem ganzen deutschen Horizont! Ich wollte, Du könntest mal eine Skifahrt mit uns machen, damit Du sähest, wie ein deutsches Gebirge bei uns ein Gebirge im Winter aussieht. Ihr habt da zwar auch Berge und Schnee genug, aber es ist doch wieder ganz anders in einem anderen Lande; auch jedes Gebirge hat wieder seinen eigenen Charakter für sich.

Nächsten Samstag und Sonntag machen die FreischärlerIFreischar ein kleines Winterfest, indem wir mit einigen Gästen in diezu einem GasthausLVogesen!Gasthaus oben in die Berge wandern, wo wir mit allerlei Aufführungen und Spiel und Tanz den Abend verbringen. Am Sonntag wird dann Ski gelaufen. Hoffentlich bleibt so schöner Schnee. Jetzt liegt er nämlich bis hier unten in die Stadt hinein.

Eigentlich wollte ich Dir auch noch von unserer Weihnachtsfestfeier erzählen, die wir hier am Abend, bevor wir alle zu den Weihnachtsferien auseinanderstoben, mit unseren engsten Gästen feierten. Aber das wür­97de wieder zu lang. Ich muss Dir nur sagen, dass bei uns auch die Bescherung beinahe so lange dauerte wie bei Euch. Es kam nämlich der Weihnachtsmann mit langem Bart und pelzverhüllt herein und hatte für jeden allerlei kleine Überraschungen mit den nötigen Verslein dazu. Meist bezog sich das Ding neckisch auf irgendeine Eigenschaft des Empfängers. Nachher rief man den Weihnachtsmann wieder hinein, und Frau FrankePFranke, Mala, verh. mit Gustav Franke gab ihm ein feines Kissen, das sie selbst gemacht und höchst kunstvoll mit dem Bild einer Eule, dem Tier der Weisheit und des Phlegmas geschmückt hatte. Und ein langer Vers setzte noch zum deutlicheren Verständnis die Bedeutung des symbolischen Vogels auseinander. Jetzt lehnt die Eule hinten in seinem Schreibtischsitz, und wenn er sich zwischen dem Schreiben zurücklehnt, so stützt sie seinen Rücken und flüstert ihm Klug- und Faulheit zu. Also müsste der Brief doch offenbar ebenso weise als kurz werden.Weisheit und Kürze bekommen. Er scheint \(_{56}\)🕮\(_{57}\) mir aber beider Tugenden gar sehr zu ermangeln.

Hier die Entschuldigung: Erstens ist er gar nicht so lang; das Papier ist nur so furchtbar dick. Und zweitens macht’s mir nun einmal Spaß, immer zu erzählen, was mir gerade einfällt; und so geht’s denn zwischen Januar, Februar und Dezember durcheinander hin und her.

Die Weihnachtsfeier schlossen wir schon um 11 Uhr. Denn um Mitternacht reisten wir schon ab. Und am andern Morgen pilgerten die beiden Vettern32Carnap selbst und Friedrich von Rohden. von der BahnLVogesen!Bahn zu einem Dorfe hinaus Namen WeihenzellLWeihenzell Du sicher auch schonmal gehört hastnamens WeihenzellLWeihenzell. Dort fand nämlich ein Kochkursus statt. Sowas interessiert mich immer besonders, wie Duman weiß und aus meinen Handlinien lesen kann.33Zu Carnaps Auffassung vom Lesen von Handlinien vgl. TB 4. IV. 1930R. Die Lehrerin buk uns denn auch in ihrer Bude auf ihrem Kachelofen einen Eierkuchen und wir genossen noch anderen selbstgebackenen Kuchen und manche anderen schönen Dinge. Und von alledem packten wir je eine Probe sorgfältig ein und schickten das ganze Weihnachtspaket nebst einem poetischen Kommentar geschrieben, dass wirso da oben in die Eisländer, ich weiß nicht genau, so in die Gegend des NordpolsLNordpol. Da hat sie nämlich eine Freundin wohnen, die mir aber gänzlich unbekannt ist. Übrigens scheint sowohl das Begleitschreiben als auch das große Paket zwischen den Eisbergen versunken oder von Eisbären verschluckt worden zu sein. Und dabei hatte doch das Paket zwischen seiner Abreise von WeihenzellLWeihenzell und seiner Ankunft im NordlandLNordlandeinen so interessanten Ro­98man erlebt, den zu erzählen nun leider überflüssig geworden ist. Übrigens würde es Dich ja auch gar nichts angehen; oder kennst Du die Freundin da oben im Eis etwa auch?