3Tagebuch [Tilly-Briefe] 3. XI. 1911 – 23. XII. 1912 [Rudolf Carnap: Tagebücher], Eintrag Di 30. I. 1912

FreiburgLFreiburg, 30. I. 12.OFreiburg So, nun bin ich wieder eine Woche zu Hause und habe mich über unsere Niederlage in KonstanzLKonstanz und unseren Sieg hier in FreiburgLFreiburg genugsam getröstet und gefreut. Und die 3‑tägige „Ferien“-Reise war auch eine ganz nette Unterbrechung Abwechslung. Dann geht’s nachher um so lustiger in der Arbeitfvorwärts. Davon sollst Du jetzt auch was zu vonzu hören bekommen. Und zwar eine ganze Menge, zur 94 Strafe dafür, dass Du Dich einen Blaustrumpf26Spottwort für intellektuelle Frau. genannt hast. Außer einer 2‑stündigen Italienisch-Übung, wo wir einmal die Zeitung, das andre Mal ein Buch lesen, höre ich 3jetzt 3 5‑stündige Vorlesungen: Physik, Philosophie und Psychologie.27Vgl. den Anhang, S. .Also: von Montag bis Freitag täglich je eine Stunde In der Physik höre ich in diesem Semester die 2. Hälfte der Experimentalphysik. Die heißt so im Gegensatz zur theoretischen Physik, wo man keine Apparate hat, sondern immer bloß rechnet und denkt. Also in der experimentellen Physik trägt der Professor systematisch ein Gebiet nach dem andern vor und veranschaulicht alles durch Experimente mit Hilfe von Apparaten. diese zu klein sind, so macht erDie kleineren Experimente macht er, damit der ganze Saal sie sehen kann, vor dem Lichtbildapparat, und man sieht den ganzen Versuch sich in größerem Maßstab auf der weißen Wand abspielen. Ostern hoffe ich so viele Kenntnisse erworben zu haben, dass ich ein „Praktikum“ belegen kann, wo man selbst unter mit den Apparaten beobachtete Messungen anstellen kann, die der Professor dann kontrolliert. Unser PhysikerPHimstedt, Franz, 1852-1933, dt. Physiker, Prof. in Freiburg hier28Der Experimentalphysiker Franz Himstedt, bei dem Carnap in seiner Freiburger Studienzeit physikalische Vorlesungen besuchte. ist wegen seiner geschickten Experimente bekannt, und es laufen auch Leute aus anderen Fakultäten in sein Kolleg, besonders wenn er an interessanten Kapiteln istdran. Hoffentlich habe ich auch bald \(_{53}\)🕮\(_{54}\)Kenntnisse genug so viel gelernt, um theoretische Physik treiben zu können, wo die Mathematik dann zur Geltung kommt. Weißt Du, das ist ganz fein. Ich möchte wissen, ob Du auch Spaß an Physik hast. Es gehört doch wenigstens die experimentelle nicht zu dem „abstrakten Zeug“, was Du nicht leiden magst [und wo eigentlich der Spaß erst losgeht]. | Und dann die Philosophie. [Jetzt darfst Du nicht aufhören zu lesen; Du musst aufpassen! Du weißt ja, zur Strafe.] Da spricht RickertPRickert, Heinrich, 1863–1936, dt. Philosoph, bis 1915 Prof. in Freiburg, danach in Heidelberg, einer unserer bedeutendsten jetzigen Philosophen in DeutschlandLDeutschland‚ über die Philosophie von KantPKant, Immanuel, 1724–1804, dt. Philosoph bis NietzschePNietzsche, Friedrich, 1844–1900, dt. Philosoph (also etwa das 19. Jahrhundert).29Zum Einfluss Rickerts auf Carnap vgl. Carus, Carnap and Twentieth-Century Thought, 105–108; Damböck, \(⟨\)Deutscher Empirismus\(⟩\) 174 f. u. 181–183 sowie Mormann, „Carnap’s Aufbau in the Weimar Context“. Als er über KantPKant, Immanuel, 1724–1804, dt. Philosoph gesprochen hat, das war ganz großartig. Ich glaube nicht, dass irgendein anderer einem das so klar machen könnte. Er nahm nicht etwa den KantPKant, Immanuel, 1724–1804, dt. Philosoph her und kommentierte dann ein Buch nach dem anderen. Sondern umgekehrt: Er ging von den Problemen aus, machte uns die zuerst vollstän­95dig klar, und dann brachte er KantsPKant, Immanuel, 1724–1804, dt. Philosoph Lösung, und zwar möglichst unabhängig von der für uns schwer verständlichen Terminologie KantsPKant, Immanuel, 1724–1804, dt. Philosoph. So konnten wir verstehen, was es denn eigentlich überhaupt für einen Wert gehabt hat, dass da einmal vor 100 Jahren in KönigsbergLKönigsberg ein Mensch gesessen hat und sein Leben lang über Fragen nachgedacht und gearbeitet hat, deren Sinn und Wichtigkeit einem vorher wenig einleuchten will. | Und trotzdem hätte ich Dich damals nicht in die Vorlesung geschleppt, wenn Du hier gewesen wärest; wohl aber jetzt in die letzte Stunde, wo er über GoethePGoethe, Johann Wolfgang von, 1749–1832, dt. Dichter gesprochen hat. Nicht über den Dichter GoethePGoethe, Johann Wolfgang von, 1749–1832, dt. Dichter. Über den hast Du schon genug gehört. Sondern über den Philosophen. Und doch hätte Dich’s interessiert! Wie er GoethePGoethe, Johann Wolfgang von, 1749–1832, dt. Dichter KantPKant, Immanuel, 1724–1804, dt. Philosoph an die Seite stellte alsMitkämpfer gegendieStrömungen der „Aufklärung“, die Du durch Deine Studien wohl besser kennst als ich. An der Hand des „Urfaust“BGoethe, Johann Wolfgang von!1910@Urfaust, Leipzig, 1910 (der ältesten Fassung der Tragödie) stellte er GoethePGoethe, Johann Wolfgang von, 1749–1832, dt. Dichter in der „Sturm und Drang“-Periode dar. Wie der Renaissancemensch Faust sich gegen die Scholastik aufbäumt kämpft, so GoethePGoethe, Johann Wolfgang von, 1749–1832, dt. Dichter gegen die Strömungen der „Aufklärung“ (die Du wohl durch Deine Französischstudien besser kennst als ich), ebenso wie KantPKant, Immanuel, 1724–1804, dt. Philosoph, nur auf anderen Wegen. Und wie dann GoethePGoethe, Johann Wolfgang von, 1749–1832, dt. Dichter sein Ideal der ursprünglichen, unverfälschten Natur im Gegensatz zu der gekünstelten Aufklärungskultur bei dem damals verachteten ShakespearePShakespeare, William, 1564–1616, brit. Schriftsteller findet: „Natur, Natur! \(_{54}\)🕮\(_{55}\) (ruft GoethePGoethe, Johann Wolfgang von, 1749–1832, dt. Dichter) oder vielmehr shakespearische Menschen! Denn woher sollten wir Natur kennen? Wo bei uns alles geziert und geschnürt.“30Das Zitat konnte nicht nachgewiesen werden. Möglicherweise handelt es sich um eine lediglich sinngemäße Wiedergabe des Inhalts von Rickerts Vorlesung über Goethe. Vgl. den Mephistopheles in Faust I (Vers 1910) „Mein teurer Freund, ich rat Euch drum / Zuerst Collegium Logicum. Da wird der Geist Euch wohl dressiert‚ / In spanische Stiefel eingeschnürt […]“ Also kurz 2-seitig ausgedrückt: Negativ  – gegen die Verstandeskultur der Aufklärung; positiv – für ursprüngliche, echte Natürlichkeit. Es fehlte nur noch, dass er die Ausdrücke Bewusstseins- und Wesenskultur gebraucht hätte, um deutlich zu zeigen, wie nahe diese Darstellungenvon GoethePGoethe, Johann Wolfgang von, 1749–1832, dt. Dichterdenen Johannes MüllersPMüller, Johannes, 1864–1949, dt. Theologe und Lebensreformer, Vater von Maina Bachmann, gründete 1903 die Pflegestätte persönlichen Lebens auf Schloss Mainberg, ab 1916 Schloss Elmau, verh. mit Irene Müller stehen.31Vgl. Reinhard Grohrock, Der Kampf der Wesenskultur gegen die Bewusstseinskultur bei Johannes Müller, Heidelberg, 1937 sowie Johannes Müller, Vom Geheimnis des Lebens. Erinnerungen, Bd. 2 (Schicksal und Werk), Stuttgart, 1938, S. 240–257.Dann die Stellung GoethesPGoethe, Johann Wolfgang von, 1749–1832, dt. Dichter in der Wissenschaft gegenüber der Natur, im Gegensatz zu KantPKant, Immanuel, 1724–1804, dt. Philosoph, dessen Schriften für ihn infolgedessen auch unverdaulich waren, aber doch indirekt durch SchillersPSchiller, Friedrich von, 1759–1805, dt. Dichter Vermittlung auf ihn wirkten. GoethePGoethe, Johann Wolfgang von, 1749–1832, dt. Dichter stand seinem wissenschaftlichen Objekt nie analytisch zergliedernd, son­96dern immer umfassend-anschauend gegenüber als etwas Konkretem. Daher auch seine Auffassung von der Natur, die er nicht wie KantPKant, Immanuel, 1724–1804, dt. Philosoph als Objekt dem erkennenden Menschen gegenüberstehend ansah, sondern als etwas, was das ihn selbst vollständig mit umfasste. nicht wie KantPKant, Immanuel, 1724–1804, dt. Philosophseinem Objekte gegenüber stand, sondern sie umfasste ihn vollständig. Sie war für ihn eben Schöpferin und Trägerin alles Materiellen und Geistigen zugleich. Ach Du, ich verstehe das nicht alles so auszudrücken, wie ich’s meine, geschweige wie der Professor RickertPRickert, Heinrich, 1863–1936, dt. Philosoph, bis 1915 Prof. in Freiburg, danach in Heidelberg es könnte. Ich wollte, Du wärest dabei gewesen‚ hättest ihn selbst gehört. In mir hat er einen schlechten Anwalt.

II / 1912