3Tagebuch [Tilly-Briefe] 3. XI. 1911 – 23. XII. 1912 [Rudolf Carnap: Tagebücher], Eintrag Di 21. XI. 1911

Gestern hörte ich, dass hier ein Medizinprofessor am Morgen nach dem Erdbeben zu einem Kollegen gesagt hat: „Seien sie froh, dass sie nicht verheiratet sind; ich habe gestern die halbe Nacht mit meiner Frau vor dem Hause spazieren gehen müssen, weil sie nicht wieder hineinwollte.“

Na, wenn alle Frauen so ängstlich sind, werde ich keine heiraten, wenn sie auch noch so schönen Apfelstrudel backen kann. –

In der FreischarIFreischar lesen wir jetzt an einem Abend in jeder Woche HerdersPHerder, Johann Gottfried, 1744-1803, dt. Dichter „Reisejournal“BHerder, Johann Gottfried!1904@„Journal meiner Reise im Jahr 1769“, ders., Ideen, Jena, 1904, das er auf seiner Fahrt von RigaLRiga nach ParisLParis (glaube ich) geschrieben hat. In RigaLRiga war er Pfarrer, Lehrer und ich weiß nicht alles85 was gewesen. Und nun sitzt er da auf dem Schiff, ist froh, dass er all den Krempel hinter sich gelassen hat, die ganze gewohnte Umgebung, Menschen, Bücher usw. und macht sich recht ordentlich Luft im Anblick des großen Himmels und der weiten OstseeLOstsee (Deiner OstseeLOstsee!). Man merkt es dem Buche auch an, dass es nicht am Schreibtisch entstanden ist, es weht so eine staubfreie Luft darin. Schon dem Stil merkt man es an, in welcher Stimmung HerderPHerder, Johann Gottfried, 1744-1803, dt. Dichter war, dass er sich den Teufel darum scherte, ob seine langen Sätze auch immer syntaktisch richtig beg gebaut waren. Und dann wirft er großzügige Ausblicke auf die Kultur und Wissenschaft usw., was man da nicht alles alles Neues noch würde entdecken und leisten können. Es ist fabelhaft, was HerderPHerder, Johann Gottfried, 1744-1803, dt. Dichter damals schon alles in seiner Fantasie vorausschauend geahnt hat. – Ich freue mich schon wieder auf nächsten Freitag, wo wir weiter \(_{14}\)🕮\(_{15}\) lesen und uns darüber unterhalten werden.

Dienstagabend, 21. XI. 11

Heute Abend haben wir in der FreischarIFreischar einen „Wissenschaftsabend“.11Vgl. zu Carnap und der Freiburger und Jenaer Freischar Werner, „Freundschaft| Briefe|Sera-Kreis“, 113–118. Aber vorher habe ich grade gerade noch etwas Zeit, um Dir zu erzählen, was das ist. Zum Unterschiede von den Leseabenden freitags, wo wir ganz unter uns sind und irgendwelche Werke bedeutender Männer im Zusammenhange durchlesen und uns gegenseitig zum Verständnis helfen, nachdem schon vor dem Abend jeder den betr. Abschnitt möglichst schon für sich durchgelesen hat‚ – laden wir zu den Wissenschaftsabenden einige Gäste ein, aber möglichst wenige, und meist nur solche Leute, mit denen wir uns schon gut verstehen, auch Damen. Solch ein Abend ist heute. Eigentlich wollten wir ihn im Anschluss an einen Abendspaziergang in einem Hause draußen im Walde machen, aber es regnet leider, und da nehmen wir Rücksicht auf die Gäste. An solch einem Dienstagabend strengen wir unsern Geist nicht sonderlich an, sondern sind nur gemütlich beisammen. Einer von uns sorgt dafür, dass außer dem Plaudern auch noch sonst Stoff vorhanden ist. Er sucht z. B. etwas aus, was er vorlesen will und passende Lieder, die wir singen wollen, usw; neulich wollte ich auch dabei draußen die Tänze machen, bei Vollmond; doch sagten leider fast alle Damen ab, da wir zu spät eingeladen hatten. Heute wird einer AndersensPAndersen, Hans Christian, 1805–1875, dän. Schriftsteller Märchen vorlesen, und vorhin bat er mich noch, Gösta BerlingBLagerlöf, Selma!1899@Gösta Berling, Leipzig, 1899 mitzubringen, damit er was in Reserve habe.

Außer diesen Abenden turnen wir noch zweimal in der Woche je 1 ½ Stunde. Es ist schändlich, dass die reiche Stadt FreiburgLFreiburg keine akademische 86 Turnhalle hat. Aber man hat uns die sehr schöne TurnhalleLFreiburg!Turnhalle eines GymnasiumsLFreiburg!Gymnasium für die 2 Nachmittage überlassen. Ich habe sehr große Freude am Turnen, obwohl ich fast der schlechteste Turner bin von den Sechsen, die mitmachen. Ich habe ja fast 2 Jahre nicht mehr geturnt und bin deshalb sehr ungeschickt, und die \(_{15}\)🕮\(_{16}\) Arm- und Brustmuskeln sind sehr schwach geworden. Umso größere Freude habe ich an den Fortschritten, die ich in der kurzen Zeit schon gemacht habe. Da wir nur 6 sind, so lernt man ordentlich was, besonders da ein paar gute Turner dabei sind. —

Nun kann ich Dir doch nicht verschweigen, dass ich gestern neidisch auf FriedrichPRohden, Friedrich von, 1886–1973, Arzt, Sohn von Gustav von Rohden, Mitglied der Freischar Freiburg, heiratete 1914 Marianne von Rohden war. Da kam nämlich Dein Brief. Dass ich meinen guten „ollen Friederich“PRohden, Friedrich von, 1886–1973, Arzt, Sohn von Gustav von Rohden, Mitglied der Freischar Freiburg, heiratete 1914 Marianne von Rohden nochmal neidisch ansehen könnte, hätte ich nicht gedacht. Zwar überwog doch die Freude, etwas von Dir zu hören, und die Freude an FriedrichsPRohden, Friedrich von, 1886–1973, Arzt, Sohn von Gustav von Rohden, Mitglied der Freischar Freiburg, heiratete 1914 Marianne von Rohden Freude, aber sie war doch nicht ganz rein; zu dumm, nicht wahr? Und ich habe Dir doch noch gar nicht geschrieben. Und wenn Du diesen Brief bekommen hast, so hoffe ich wirklich auf einen Brief von Dir. Jetzt habe ich genug gequatscht und muss schließen. Ich muss nämlich noch Frau FrankePFranke, Mala, verh. mit Gustav Franke in der KlinikLFreiburg!Klinik abholen, wo ihr MannPFranke, Gustav, 1878-1959, Arzt, Mitglied der Akademischen Freischar Freiburg leider immer noch liegt. Ich habe ihn heute besucht; da war er zum Glück wieder ganz heiter und will noch diese Woche nach Hause. Frau FrankePFranke, Mala, verh. mit Gustav Franke geht natürlich mit zu unserem Abend.