3Tagebuch [Tilly-Briefe] 3. XI. 1911 – 23. XII. 1912 [Rudolf Carnap: Tagebücher], Eintrag Sa 20. I. 1912

Liebe TillyPNeovius, Tilly (eig. Mathilde), 1890–1975, Schwedin, die Carnap vermutlich 1911 auf Schloss Mainberg kennenlernte! StockachLStockach, den 20. I. 12.OStockach

Über Deinen Brief habe ich mich sehr gefreut. Davon erzähle ich Dir nachher noch. Jetzt muss ich Dir mal erst auseinandersetzen, wie ich hierher nach StockachLStockach komme, in die Nähe des BodenseesLBodensee. Vorige Woche sind nämlich in DeutschlandLDeutschland die Reichstagswahlen gewesen‚22Bei den Wahlen zum Deutschen Reichstag am 12. I. 1912 erreichten die SPD 34‚8%, das katholische Zentrum 16‚4% und die von Carnap damals unterstützten Liberalen (NLP und FVP) zusammen 25‚9%. Im Wahlkreis Konstanz, Überlingen, Stockach setzte sich in der Stichwahl der Kandidat des Zentrums durch, im Wahlkreis Freiburg, Emmendingen der Kandidat der Liberalen Partei. die aber in vielen Wahlkreisen noch nicht entschieden sind, weil bei der Hauptwahl keiner der Kandidaten die absolute Mehrheit bekommen hat. In dem Falle finden dann „Stichwahlen“ statt zwischen den beiden Kandidaten, die die meisten Stimmen bekommen haben. Und diese Stichwahlen sind inBadenLBaden heute. Sowohl in im Wahlkreis FreiburgLFreiburg, als auch in dem von KonstanzLKonstanz ist das ZentrumIZentrum, Deutsche Zentrumspartei (die politisch-katholische, ultramontane Partei) in Stichwahl mit den LiberalenILiberale Partei gekommen. Das sind neben den KonservativenIDeutschkonservative Partei und den SozialdemokratenISPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands die 4 Hauptparteien des deutschen ReichtagsLBerlin!Reichstag. Wenn Du wüsstest, mit welchen Mitteln in dem katholischen SüddeutschlandLSüddeutschland die Geistlichkeit für das den Sieg der papistischen Partei kämpft, so würde es Dir auch nicht schwerfallen, zu entscheiden, welcher Seite Du Deine Sympathie schenken würdest, auch wenn Du sonst politisch noch so wenig eine feste Überzeugung hättest, wie ich. So habe ich mich denn der liberalen ParteiILiberale Partei in FreiburgLFreiburg zur Verfügung gestellt, um am Wahltage Handlangerdienste zu leisten, wie Wahlzettel abgeben, Aufrufe verteilen, säumige Wähler zur Urne schleppen und dergl.23Das Wahlalter lag in Deutschland bis 1918 bei 25 Jahren. Carnap war Anfang 1912 erst 21 und damit nicht wahlberechtigt. Zuerst wollte ich mit einem andern FreischärlerIFreischar in ein SchwarzwalddorfLSchwarzwalddorf hinauf, das zum Wahlkreis FreiburgLFreiburg gehört, um dort zu „arbeiten“. Doch wurde gestern mittag plötzlich telefoniert, dass im Konstanzer WahlkreisLKonstanz Hilfskräfte nötiger seien. So packte ich sofort den Rucksack und fuhr mit einigen andern FreischärlernIFreischar für 2–3 Tage in die schöne BodenseegegendLBodensee, wozu wir trotz der gar 91 nicht so großen geringen Entfernung 6 Stunden Bahnfahrt gebrauchten. Heute morgen wurden wir dann zu Fuß, mit Auto oder Wagen in die ganze Gegend zerstreut. Jetzt benutze ich einige ruhige Augenblicke zwischen dem „Mittagessen“ und der Beförderung Weiterbeförderung zum „Nachmittagsdienst“, um Dir mal schnell zu schreiben.

FriedrichPRohden, Friedrich von, 1886–1973, Arzt, Sohn von Gustav von Rohden, Mitglied der Freischar Freiburg, heiratete 1914 Marianne von Rohden konnte natürlich nicht mit, denn der ist ja schon 25 Jahre alt und muss deshalb selbst in FreiburgLFreiburg wählen. FfPBeindorff, Günther, 1890-1952, Freischar Freiburg, dt. Unternehmer hilft in FreiburgLFreiburg mit, indem er im Auto in der Stadt rumfährt, und die Herren, \(_{49}\)🕮\(_{50}\) von denen man vermutet, dass sie liberalILiberale Partei wählen, die aber zu faul sind, selbst zu kommen, im Wagen zum Wahllokal zu schleppen. Heute abend um 7 Uhr fällt dann die Entscheidung, sowohl in FreiburgLFreiburg, wo „wir“ wohl siegen werden, als auch hier im Konstanzer WahlkreisLKonstanz, wo die Sache schwieriger steht. Da wir nun einmal hier unten sind, werden wir morgen den Sonntag benutzen, um den BodenseeLBodensee zu besuchen, entweder um den Sieg zu feiern, oder zum Trost. Heimwärts fahren wir dann vielleicht über BaselLBasel, um uns die schöne Stadt und die BöcklinPBöcklin, Arnold, 1827-1901, schweiz. Maler- und FeuerbachPFeuerbach, Anselm, 1829–1880, dt. Maler-Bilder anzusehen. Übrigens schreibe ich hier nicht etwa den Brief selbst.Sondern stenografiere auf ein Papier Dazu hätte ich doch keine Zeit; sondern stenografiere mir auf ein Papier, und brauch’s dann in FreiburgLFreiburg nur abzuschreiben. Das kann ich Das geht fix. [Allerdings; trotzdem hoffentlich leserlich.] Nachmittags.

Nun sitze ich hier in dem netten Dorfe MahlspürenLStockach!Mahlspüren, im Rathauszimmer, wo das Wahllokal ist. Die 3 Bauern, die da als Wahlvorsteher und ‑beisitzer um die Urne sitzen, sind zwar, wie ich gemerkt habe, Zentrums­leute, lassen mich aber ganz ruhig, obwohl ich nicht das gesetzliche Recht dazu habe, in dem geheizten Zimmer Platz nehmen, damit ich nicht auf dem kalten Flur zu stehen brauche. Denn jetzt nach 3 Uhr ist gerade eine schwache Zeit, wo kaum jede halbe Stunde ein Wähler kommt. Als diese 3 Leute das Propagandablatt sahen, das ich draußen den Wählern, bevor sie hereinkommen, außer dem liberalen StimmzettelILiberale Partei in die Hand drücke, sagten sie nicht viel, sondern gaben mir eine ZentrumszeitungIZentrum, Deutsche Zentrumspartei, die ich zu ihrer Genugtuung auch recht eifrig durchlas. Als ich sie fragte, ob sie als Wahlvorsteher selbst auch wählen dürften, sagten sie: „Ja gewiss, und gut.“ „Was heißt denn gut gewählt?“„Na, wenn man halt recht wählt.“ „Ja, aber der eine nennt dies gut, und der andre das.“ „Das muss auch so sein, sonst brauchte man ja überhaupt nichtzu wählen keine Wahlen zu machen.“ Leider sind hier draußen nicht Parteilisten geführt worden über die, die schon gewählt haben, wie das in den Städten gemacht wird. StockachLStockach gemacht worden ist; So da saß z. B. in StockachLStockach auf der „Stadt“ immer einer von der Partei mit im Wahllokal und schrieb jeden auf, der 92 kam. Die Zettel wurden dann immer\(_{50}\)🕮\(_{51}\)Aufs dem Parteisekretariat geschickt, wostrichen wir dann diese Namen in der gedruckten Wählerliste aus. Nun können sie da heute Nachmittag die, die noch nicht gewählt haben, besuchen.

Durch das Fenster Auf der Fensterbank schreibend sehe ich in die schöne Gegend unter dem klarblauen Frosthimmel, durch die ich hergefahren bin. Nicht sehr weit sieht man auf einem Berg ein altes SchlossLStockach!Schloss, das da eine wundervolle Lage hat. Wie ich mir erzählen lasse, gehört es zu SigmaringenLSigmaringen (HohenzollernLHohenzollern) und ist jetzt ein Bauerngut. Da oben möchte ich auch wohnen!

Während der ganzen Zeit, die ich hier schreibe, ist noch kein Wähler wieder gekommen. Die guten Leute hier sitzen da, schweigen meist und rauchen, und kucken mal zum Fenster hinaus. So habe ich denn wohl noch Zeit, Dir allerhand jetzt allerhand zu schreiben.

Zuerst mal von Deinem Brief. bevorBevor ich ihn bekam, machte ich die verschiedensten Entwürfe zu Briefen an Dich. Übrigens wollte FriedrichPRohden, Friedrich von, 1886–1973, Arzt, Sohn von Gustav von Rohden, Mitglied der Freischar Freiburg, heiratete 1914 Marianne von Rohden mir überhaupt nicht glauben, dass ich seit MainbergLMainbergIPflegestätte/Freistätte persönlichen Lebens, Schloss Mainberg/Schloss Elmau noch nichts von Dir bekommen hätte. Er wusste, dass ich Dir einen langen Brief geschrieben, und meinte nun, das wäre Dir sicher zu aufdringlich vorgekommen, worauf ich zuerst einen großen Schreck bekam, doch konnte ich mir’s nicht recht denken. Meinen ersten Entwurf verwarf ich als zu sentimental, der 2. verfiel ins Gegenteil und wäre ganz bös’ geworden. Wie ich’s gar nicht meinte. Schließlich dachte ich: Wenn Schluss ist, ist Schluss, und wenn sie nicht will, brauch’ ich auch nicht zu schreiben. Dann fuhr ich Samstag auf die Skitour los, ganz wundervoll, oben in die Berge. Da kam’s mir plötzlich, es hätte doch gar keinen Sinn, mich zu beunruhigen darüber zu beunruhigen, dass BeindorffPBeindorff, Günther, 1890-1952, Freischar Freiburg, dt. UnternehmerFfPBeindorff, Günther, 1890-1952, Freischar Freiburg, dt. Unternehmer einen langen Brief bekommen hätte (den er mich am Abend vorher hatte sehen lassen, wenigstens von außen), und ich keinen nicht. Du würdest wohl denken, das sei nicht nötig, wir würden auch trotzdem gute Freunde bleiben. Ich wurde ganz sicher und froh und dachte: Dann will ich ihr nächstens mal wieder was erzählen, wenn sie auch keine Zeit hat zu antworten. Und als ich dann Sonntagabend nach \(_{51}\)🕮\(_{52}\) Hause kam und FriedrichPRohden, Friedrich von, 1886–1973, Arzt, Sohn von Gustav von Rohden, Mitglied der Freischar Freiburg, heiratete 1914 Marianne von Rohden von unserer schönen Fahrt erzählt hatte, sagte er: So, nun darfst du dir zur Belohnung auch mal wünschen, was du willst. Und wirklich kam zog er mit der Miene eines beglückenden Zauberers die Erfüllung des Wunsches aus seiner Tasche.

Als ich zuerst las, Du bekämst Herzklopfen, wenn du an den Unterricht mit der Französin dächtest, da dachte ich, Du meintest den Französisch­93unterricht bei ihr, nicht die Schwedischstunde, die Du ihr geben willst. Denn ich traue Dir doch zu, dass Du ihr guten Unterricht geben wirst, zumal in Deiner Muttersprache (oder vielmehr Vatersprache). Meine Schwe­disch­stunde macht mir viel Freude, wenn ich auch kaum jede Woche eine Stunde nehmen kann. Wie nett und vernünftig meine Lehrerin ist, kannst Du schon daran sehen, dass sie, als ich kaum das Notwendigste der Grammatik wusste, mit Lektüre anfing. Dass Du schreibst, ich möchte versuchen, LagerlöfPLagerlöf, Selma, 1858-1940, schwed. Schriftstellerin zu lesen, hat mich sehr gefreut, weil ich mir das nämlich auch ausgesucht habe. Die Lehrerin schlug mir nämlich StrindbergPStrindberg, August, 1849-1912, schwed. Schriftsteller oder GeijerstamPGeijerstam, Gustaf af, 1858-1909, schwed. Schriftsteller vor. Doch haben wir dann angefangen „herrgårdssägen“BLagerlöf, Selma!1899@En herrgårdssägen, Stockholm, 1899 zu lesen.24Lagerlöf, En herrgårdssägen. Siehe LL . Jetzt lese ich meist allein, nur ab und zu mal wieder ein Kapitel in der Stunde, um die richtige Aussprache zu lernen. Jetzt habe ich das Buch schon fast durch. Es hat mir sehr viel Freude gemacht. Auch gerade der Stil, der mir schon in den deutschen LagerlöfPLagerlöf, Selma, 1858-1940, schwed. Schriftstellerin-Büchern so gefiel. Für ein Buch, um in einer neuen Sprache ist es auch ferner sehr angenehm, dass LagerlöfPLagerlöf, Selma, 1858-1940, schwed. Schriftstellerin mit einem so kleinen Wortschatz so schön schreiben kann. Z. B. kommen im „Fenrik Stål“BRuneberg, Johan Ludvig!1848@Fänrik Ståls sägner, Helsingfors, 1848-186025Runeberg, Fänrik Ståls sägner. Siehe LL . in dem ich mich mal ein wenig versucht habe, furchtbar viel Wörter vor im Vergleich zu LagerlöfPLagerlöf, Selma, 1858-1940, schwed. Schriftstellerin furchtbar viel Wörter vor, die ich noch nicht kenne. Weißt Du, wenn Du mir nochmal schreibst, so tu’s bitte auf Schwedisch. Jetzt verstehe ich sicher schon genug; wenn ich auch noch nicht einen solchen schwedischen Brief schreiben kann, dass Du Dich nicht darüber ärgern müsstest. Aber Du musst \(_{52}\)🕮\(_{53}\) Dein Gewissen nicht beunruhigt fühlen, wenn Du jetzt wegen Deiner vielen Arbeit nicht gut schreiben kannst. Ich will auch wirklich nicht wieder so dumm sein zu denken, Du wolltest mir überhaupt nicht mehr schreiben. Vielleicht kommt dann mal eine Karte von Dir. —

So, da kommt ein Wähler herein. Nun will ichmuss ich doch wiederNun will ich lieber wieder „Posten stehen“. Jetzt werden wohl noch mehr Leute kommen. —