Liebe TillyPNeovius, Tilly (eig. Mathilde), 1890–1975, Schwedin, die Carnap vermutlich 1911 auf Schloss Mainberg kennenlernte! FreiburgLFreiburg-GünterstalLFreiburg!Günterstal‚OFreiburg den 6. VI. 12.
Wenn Du nun wissen sollst, ob man mir drüben den Kopf abgeschlagen hat, oder ob ich wieder lebendig hier bin, so muss ich wohl mal wieder schreiben. Als Du mir aus UppsalaLUppsala schriebst, Du würdest wahrscheinlich in die SchweizLSchweiz reisen, habe ich mich sehr gefreut und gehofft, Dich dann vorher in FreiburgLFreiburg, oder wenn Du erst im Sommer führst, vielleicht in MainbergLMainbergIPflegestätte/Freistätte persönlichen Lebens, Schloss Mainberg/Schloss Elmau wiederzusehen. Als ich dann aber durch eine Mainberger Karte von FriedrichPRohden, Friedrich von, 1886–1973, Arzt, Sohn von Gustav von Rohden, Mitglied der Freischar Freiburg, heiratete 1914 Marianne von Rohden erfuhr, Du seiest auch da gewesen, schloss ich, Du würdest in LausanneLLausanne sein. Und da wollte ich Dich unangemeldet überraschend besuchen.
Den 18. Mai in LausanneLLausanne, es war gerade mein Geburtstag, werde ich nie vergessen. Wir, das heißt GarthePGarthe, Otto, 1890–1948, von 1919–1924 Schularzt und Biologielehrer in Wickersdorf, verh. mit Margarethe Garthe, Mesian und ich zogen da in frühester Morgenstunde in heiterster Stimmung durch die Straßen. Nun wirst Du Dir wohl kaum denken können, wer Mesian ist. Das ist nämlich ein junger Freund, den wir drüben erworben haben; er ist uns in seinem Herzen sehr zugetan, und wenn er auch manchmal zu beißen versucht, so ist das wegen seiner Jugend noch ganz harmlos. Aber bellen hat er gelernt, schon fast wie ein großer. Damals, als wir ihn aus dem Araberdorfe holten und ihn abwechselnd auf dem Arm trugen, um mit ihm zur Stadt zu reiten, war er noch so ganz ruhig, klein und niedlich. Und dann auf dem Schiff war er mit seinem entzückenden pummeligen weißen Pelz und seinen täppischen Bewegungen bald der Freund der ganzen Mannschaft. Wir fuhren nämlich nicht auf einem Passagierdampfer, weil ein solcher plötzlich nach einem anderen Ort, als fahrplanmäßig vorgesehen, geschickt wurde, und wir doch gern bald abfahren wollten. Zum Glück hat man uns erlaubt, auf einem norwegischen Frachtdampfer mitzufahren. Kabinen gab’s da nicht. Wir schlugen unsere Zeltbetten auf Deck auf, und man spannte uns ein Segeltuch darüber, sodass es bei ruhigem Wetter fast so bequem war, wie im Zelt. Auch mussten wir uns selbst verpflegen und kauften deshalb in der letzten Stunde noch eiligst Proviant für eine Woche ein. So lange hat’s nämlich gedauert, da der Dampfer arg \(_{81}\)🕮\(_{82}\) langsam fuhr. In TangerLTanger hielten wir noch mal, dann nicht mehr bis MarseilleLMarseille. Das war eine wunderbar feine Fahrt. Das Wetter war meist günstig, besonders zuerst. Da lagen wir auf dem Deck, sangen und spielten Okarina, schauten aus, ob nicht irgendwo Land zu sehen wäre (zeitweise war die spanische Küste in Sicht), lasen wenig und schrieben noch weniger, mussten dann auch wieder mal fürs Essen sorgen, was zuweilen nicht sehr schnell ging. Dann gingen wir auch mal hinab in die Laderäume und den Maschinenraum und unterhielten uns mit den Leuten, so gut es ging, GarthePGarthe, Otto, 1890–1948, von 1919–1924 Schularzt und Biologielehrer in Wickersdorf, verh. mit Margarethe Garthe auf Englisch und ich auf 106 Schwedisch. Die Leute waren sehr freundlich und besonders der Schiffskoch hat uns manchen guten Dienst erwiesen. Manchmal kochte er uns Grütze, oder er gab uns heißes Wasser, worin wir unseren Tee taten. Zuerst kochten wir immer alles selbst auf unserem Spirituskocher, Reis mit Pflaumen, Grütze, Tee, Kakao usw, schließlich aber war uns das zu unbequem und außerdem reichte der Spiritus bei weitem nicht. | So führten wir 7 Tage ein äußerst vergnügliches Leben, wir viere. Außer Mesian hatten wir nämlich einen jungen Esel mit, den wir Inschallah (wenn Allah will) nannten. Wäre er glücklich in GünterstalLGünterstal angekommen, so sollte er Hamdullah (gelobt sei Allah) heißen. Es gab da nämlich allerhand Schwierigkeiten. Erstens ein Verbot, Esel aus MarokkoLMarokko auszuführen. Aber da haben wir ihn glücklich durchgeschmuggelt. Auch das Einbooten in das weit draußen liegende Schiff glückte. Die Offiziere waren auch so freundlich, seine Mitfahrt zu erlauben, obwohl wir natürlich der Agentur der SchiffsgesellschaftLTanger!Agentur der Schiffsgesellschaft in der Stadt nichts hatten davon hatten sagen dürfen. Aber in MarseilleLMarseille stellten sich so viele Hindernisse in den Weg, dass wir unseren und Mesians guten Freund dort stehen lassen mussten. So fuhren also wir 3 allein an unserm lieben AvignonLAvignon vorbei, und dann durch das nächtlich unsichtbare RhonetalLRhonetal zu Dir, wie wir glaubten. Deine Karte vom 6. aus ParisLParis hatte ich natürlich noch lange nicht.
Also von unserem schönen Lausanner Tag wollte ich Dir erzählen. Das Wetter war so wunderschön sonnig, und dann diese AlpenLAlpen! Die herrlichen schneebedeckten DiableretsLAlpen!Diablerets und Dents du Midi \(_{82}\)🕮\(_{83}\) und den MuverantLAlpen!Muverant und wie sie alle heißen. Die Namen wusste ich noch von einem Ferienaufenthalt im oberen RhonetalLRhonetal her. Ich konnte sie nicht mehr genau unterscheiden, aber das tat dem Genuss keinen Abbruch. Also da spazierten wir nun durch die Stadt von einem Erkundigungs- oder Einwohner- oder Fremden- oder Postbüro zum andern, um Deine Adresse zu erfahren, in der sicheren Annahme, Du seiest da und in der Hoffnung, endlich was von Dir zu hören oder Dich zufällig auf der Straße zu treffen. Alle Leute auf der Straße freuten sich, wenn sie uns erblickten. Und es muss auch wirklich ein zu famoses Bild gewesen sein: GarthePGarthe, Otto, 1890–1948, von 1919–1924 Schularzt und Biologielehrer in Wickersdorf, verh. mit Margarethe Garthe mit dem kleinen, weißen Mesian, der um den Hals eine rote Schnur mit roter Quaste trug, in dem einen Arm; in der andern Hand einen großen Strauß der schönen blauen Schwertlilien (fleurs di lys), wie sie da überall zum Verkauf geboten wurden. Die hat nun das Schicksal in die Hand einer andern, als für die sie bestimmt waren, kommen lassen. Außerdem trugen unsere braunen Gesichter, eine marokkanische Ledertasche, die ich um die Schulter hängen hatte, und GarthesPGarthe, Otto, 1890–1948, von 1919–1924 Schularzt und Biologielehrer in Wickersdorf, verh. mit Margarethe Garthe weiße Reithose dazu bei, um unser exoti107sches Aussehen zu vervollständigen. GarthePGarthe, Otto, 1890–1948, von 1919–1924 Schularzt und Biologielehrer in Wickersdorf, verh. mit Margarethe Garthe ließ es sich auch gern von andern Leuten gefallen, wenn sie das schneeweiße Hundchen auf seinem Arm streichelten, besonders von liebenswürdigen jungen Damen Mädchen.
Als man mir schließlich sagte, es sei ausgeschlossen, dass Du in LausanneLLausanne wohntest, telegrafierte ich noch zur Sicherheit nach MainbergLMainbergIPflegestätte/Freistätte persönlichen Lebens, Schloss Mainberg/Schloss Elmau um Deine Adresse. Ich hielt es für wahrscheinlich, dass Du noch in DeutschlandLDeutschland wärst und kaufte eine Ansichtskarte von der KathedraleLLausanne!Kathedrale, um Dir von Deinem zukünftigen Aufenthaltsort einen Gruß zu schicken, sobald ich man mir aus MainbergLMainberg Deine Adresse telegrafierte. Inzwischen aßen wir unten in OuchyLOuchy am See zu Mittag und spazierten noch umher. Doch bekam ich das Antworttelegramm nicht mehr in LausanneLLausanne, weil wir um 2 Uhr wieder abfahren mussten. So bist Du auch um diese wunderschöne Karte gekommen; denn Du glaubst doch nicht etwa, dass ich Dir aus FreiburgLFreiburg eine Karte von LausanneLLausanne schicke.
Abends spät kamen wir in FreiburgLFreiburg an und wurden von FriedrichPRohden, Friedrich von, 1886–1973, Arzt, Sohn von Gustav von Rohden, Mitglied der Freischar Freiburg, heiratete 1914 Marianne von Rohden und andern FreischärlernIFreischar abgeholt. \(_{83}\)🕮\(_{84}\)
Draußen in GünterstalLGünterstal, wo in diesem Semester außer FriedrichPRohden, Friedrich von, 1886–1973, Arzt, Sohn von Gustav von Rohden, Mitglied der Freischar Freiburg, heiratete 1914 Marianne von Rohden, GarthePGarthe, Otto, 1890–1948, von 1919–1924 Schularzt und Biologielehrer in Wickersdorf, verh. mit Margarethe Garthe und mir noch 4 andre FreischärlerIFreischar wohnen, saßen wir dann noch etwas auf in GarthesPGarthe, Otto, 1890–1948, von 1919–1924 Schularzt und Biologielehrer in Wickersdorf, verh. mit Margarethe Garthe Häuschen zusammen. Der ereignisreiche Tag, an dem ich außerdem noch mündig geworden bin‚49Carnap wurde am 18. V. 1912 21 Jahre alt. schloss so. Das Wiedersehen mit den Freunden und die Verkündigung von FriedrichsPRohden, Friedrich von, 1886–1973, Arzt, Sohn von Gustav von Rohden, Mitglied der Freischar Freiburg, heiratete 1914 Marianne von Rohden Verlobung Tag.50Mit Marianne Klien, die er 1914 heiratete. Kennst Du nicht vielleicht Mutter KlienPKlien, Mutter von Marianne von Rohden? Ich habe sie leider noch nicht gesehen und bin gespannt darauf, sie mal kennenzulernen.
Am andren Morgen kam von LausanneLLausanne das MainbergerLMainbergIPflegestätte/Freistätte persönlichen Lebens, Schloss Mainberg/Schloss Elmau Telegramm mit Deiner Lausanner AdresseLLausanne. Was, Du bist also doch in LausanneLLausannegewesen?! dachte ich. Ich ärgere mich nicht leicht; aber sowas!
Es war mir ordentlich ein Trost, als ich Deine Karte vom EiffelturmLParis!Eiffelturm bekam. Und noch später bekam ich Deine erste Karte aus ParisLParis, die endlich Gewissheit brachte, dass Du jetzt da drüben steckst. Aber wem gibst Du denn da eigentlich Französischstunden? Die Leute in ParisLParis können doch hoffentlich besser Französisch als Du? Oder ist die „Familie Mote“ ein Mädchenpensionat? Oder hast Du Dich verschrieben, und es soll statt franska heißen tyska?51Schwedisch: franska = französisch, tyska = deutsch.108
Nun danke ich Dir noch sehr für Deinen Brief aus UppsalaLUppsala. Dass ich ihn verstanden habe, musst Du mir glauben, da ich mich im Schwedisch lesen geübt habe: Ich habe unterwegs den 1. Band von LagerlöfsPLagerlöf, Selma, 1858-1940, schwed. Schriftstellerin Jerusalem „Das Dalarne“BLagerlöf, Selma!1901@Jerusalem I: I Dalarne, Stockholm, 1901 gelesen.52Siehe LL . Ich hatte ihn früher einmal in Deutsch gelesen, und da hatte er mir so gut gefallen, dass ich ihn mir noch schnell vor der Abreise als Reiselektüre habe kommenlassen gekauft habe. Sag’ mal, kannst Du mir nicht die Adresse einer Buchhandlung (also nicht eines Verlages) in UppsalaLUppsala oder StockholmLStockholm angeben, von der ich mir Bücherkataloge, die nicht nur einen Verlag umfassen, kommen lassen erbitten und dann auch direkt die Bücher direkt kommen lassen kann?
Mit gesträubtem Haar habe ich gelesen, dass Du Dir eine so trostlose Beschäftigung, wie das Markensammeln zur Freundin erkoren hast. Triffst Du in der Wahl Deiner Freundschaften immer so daneben? Und wenn ich Dir jetzt einige Marken schicke, die ich noch von MarokkoLMarokko habe, so kann ich es nur mit bösem Gewissen, wobei mich aber der Gedanke beruhigt, mich nurder Gedanke, dass der Zeitmangel Deiner Sammelwut Zügel anlegen wird. Die Karte, die ich wegen ihresiDer Text bricht hier ab. In der Paginierung des Manuskripts fehlen dann vier Seiten.\(_{84}\)🕮\(_{89}\)