3Tagebuch [Tilly-Briefe] 3. XI. 1911 – 23. XII. 1912 [Rudolf Carnap: Tagebücher], Eintrag Do 23. XI. 1911

Weißt Du noch, was Du kurz vor unserem Abschied zu mir sagtest? Ich soll nett zuIch glaube: BeindorffFfPBeindorff, Günther, 1890-1952, Freischar Freiburg, dt. Unternehmer sein. Dasselbe möchte ich Dir jetzt auch sagen, wenn Du auch 2000 km von ihm weg bist. Ich kann mir nicht denken, dass ein paar Samenkörner, die Du ausstreust, unfruchtbar bleiben können. –

Als ich hier gar keinen SchwedenLSchweden fand, habe ich angefangen, in einem Selbstunterrichtskursus zu arbeiten, aber die Aussprache kann man vom Papier ja doch nicht lernen. Endlich habe ich jetzt zu meiner großen Freude eine nette junge Schwedin gefunden, die zwar nicht Sprach‑, sondern Turnlehrerin ist, uns (das heißt noch einem Bekannten von mir) aber doch Stunden geben will. Übermorgen geht’s los. Unterdessen kann ich aber wenigstens schon einen Brief lesen, wenn auch mit Anstrengung und Lexikon. Aber wenn ich Deinen Brief so ganz fein verstehen soll, so schreibe lieber doch noch Deutsch. Aber willst Du nicht mal Deine Schwester fragen, ob sie mir nicht auch mal noch einen netten schwedischen Brief schreiben wollte, wie Dir nach MainbergLMainbergIPflegestätte/Freistätte persönlichen Lebens, Schloss Mainberg/Schloss Elmau? Damals habe ich leider kein Wort davon verstehen können, aber jetzt würde ich mich sehr darüber \(_{17}\)🕮\(_{20}\)cEs folgt ein Brieffragment Guten Tag Lisi!, das hier nicht wiedergegeben wird. freuen. Ob sie das wohl tut? Om du säger henne det, visst.14Schwedisch für „Wenn Du ihr das sagst, gewiß.“

Donnerstag Mittwochabend, 23. XI.

Nun bin ich so oft zu Dir gekommen und habe Dir viel erzählt von dem, was mir Freude macht. Jetzt ist mir aber gar nicht recht freudig zumute. Und doch komme ich zu Dir. Oder vielmehr gerade deshalb. Ich Du sollst mir jetzt was erzählen, wie David, der vor Saul spielen musste, wenn ihn „der böse Geist plagte“. Oder richtiger wie Frau Musika vor Gösta, denn von dem, was Du mir jetzt erzählst, hört mein Ohr ja gerade so viel, wie Gösta von der BeethovenPBeethoven, Ludwig van, 1770–1827, dt.-öst. Komponist-Sonate des alten Kavaliers.BLagerlöf, Selma!1899@Gösta Berling, Leipzig, 189915Anspielung auf Lagerlöf, Gösta Berling. Es ist zu dumm, dass auch heute gerade weder FriedrichPRohden, Friedrich von, 1886–1973, Arzt, Sohn von Gustav von Rohden, Mitglied der Freischar Freiburg, heiratete 1914 Marianne von Rohden hier ist, noch ich ein Konzert oder so etwas habe, um mich zu zerstreuen. Oder vielleicht ist es auch gut, 88 dass man sich nicht künstlich zerstreut, sondern sich mit sich selbst allein abfindet. Nun habe ich mir überlegt, worauf ich mich alles freue für die Zukunft. Morgen früh mache ich Experimente im psychologischen LaboratoriumLFreiburg!Psychologisches Laboratorium, woran ich große Freude habe. Morgen Abend haben wir dann den Herder-LeseabendPHerder, Johann Gottfried, 1744-1803, dt. Dichter. Übermorgen früh die 1. Schwedischstunde, abends sind wir bei einer MainbergerinLMainbergIPflegestätte/Freistätte persönlichen Lebens, Schloss Mainberg/Schloss Elmau eingeladen, die mit Fräulein KetelsPKetels, Fräulein =? Antonie Ketels, Pianistin aus Hamburg befreundet ist. Sonntag Skilaufen, oder wenn kein Schnee ist, Spazierengehen mit FriedrichPRohden, Friedrich von, 1886–1973, Arzt, Sohn von Gustav von Rohden, Mitglied der Freischar Freiburg, heiratete 1914 Marianne von Rohden und FfPBeindorff, Günther, 1890-1952, Freischar Freiburg, dt. Unternehmer. Und so geht das weiter. Nächste Woche ein Konzert, wo unser bester CellistPBecker, Hugo, 1864–1941, dt. Cellist herkommt.16Hugo Becker. Vgl. Carnap an seine Mutter, 29. XI. 1911 (RC 025‑05‑25).KG Und dann der Dezember mit Schnee und Skilaufen. Und die Weihnachtsferien, wo ich nach Hause fahre. Und dann wieder hier den schönen Winter mit Arbeit und Genuss. Und dann schon alle möglichen Pläne für nächsten Frühjahr Sommer. Bin ich so ein undankbares Gemüt? All die schönen Vorfreuden helfen mir nichts. \(_{20}\)🕮\(_{21}\)Als kleiner Junge wurde mir mal Als ich noch ein ganz kleiner Junge war und mich in den Finger geschnitten hatte, erzählte mir einer, dass ein Soldat noch nicht einmal schreie, wenn ihm die Nase abgehauen würde (das schien mir nämlich am schrecklichsten). Das imponierte mir sehr, sodass ich mein Schmerzlein vergaß. Ebenso geht es mir jetzt mit meinem Kümmerlein, wenn ich mir vorstelle, dass es auch wirkliches Leid gibt, dass einem geschehen kann. Dass Du z. B. Deinen Großvater verlieren musstest. Ich glaube, ich kann das ein wenig nachempfinden. Wenn ich auch meine Großväter fast gar nicht mehr gekannt habe, so war es doch etwas Ähnliches, als im vorigen Jahr der beste Freund meines Vaters17Wahrscheinlich Peter Siebel.PSiebel, Peter (1843-1909), genannt Ohm Siebel, Volksschulrektor in Barmen, Carnaps Patenonkel starb, ein einfacher Volksschullehrer, bei dem wir auch zuerst in die Schule gegangen sind, aber ein Mann von reinem Gold. Dass ich jetzt gerade an das Unglück denke, das Dir gerade geschehen ist, musst Du mir nicht verdenken. Das hilft mir über den Graben hinwegzuspringen, der mir jetzt gerade vor die Füße kommt. – Ich will jetzt etwas von LagerlöfPLagerlöf, Selma, 1858-1940, schwed. Schriftstellerin lesen, was ich mir neulich gekauft habe.18Vgl. die Leselisten, Einträge , , .Es hat immer Wenn die LagerlöfPLagerlöf, Selma, 1858-1940, schwed. Schriftstellerin erzählt, das übt immer so eine wunderbare Wirkung auf mich aus. —

11 Uhr.

Soeben habe ich meinen Zimmernachbarn zum ersten Mal besucht. Ich wollte ihn eigentlich nur fragen, ob es ihn stören würde, wenn wir morgen den Leseabend auf meinem Zimmer machten. Aber es war ist so ein netter, junger Student, da bin ich etwas bei ihm geblieben. Er musste mir von 89 KielLKiel erzählen, wo er im Sommer war, vom Rudern und Segeln, und von seiner Reise durch SchwedenLSchweden. Jetzt, wo ich wiederkomme, ist meine Lampe ausgebrannt, so schreibe ich bei Kerzenschein. Vorher habe \(_{21}\)🕮\(_{22}\) ich nämlich noch „das Mädchen vom Moorhof“BLagerlöf, Selma!1909@Das Mädchen vom Moorhof, Der Spielmann, München, 1909 gelesen.19Siehe LL .Das hat mich ganz gewaltig gepackt. Da vergisst man wahrhaftig seine Kleinigkeiten. Nun denke ich noch einen fröhlichen Gute-Nach-Gruß an Dich und gehe getrost zu Bett.

Man ist doch zum Glück noch ein gutes Stück Kind; zum Glück. Warum „man“? Ich.