Rudolf Carnap (1891–1970) war einer der wichtigsten Vertreter des Wiener Kreises und des Logischen Empirismus und damit Schlüsselfigur sowohl der europäischen Philosophie der Zwischenkriegszeit als auch der amerikanischen analytischen Philosophie der Nachkriegszeit. Dies, obwohl seine Schriften vor allem an ein akademisches Fachpublikum gerichtet waren. Mit dem Fokus auf streng wissenschaftliche Bearbeitung philosophischer Probleme, in seinem Fall unter Verwendung der mathematischen Logik, steht Carnap für eine Professionalisierung der Philosophie, die für die analytische Philosophietradition insgesamt charakteristisch ist. Dabei verliert die Philosophie zwar ihre Rolle in der Öffentlichkeit, sie hört deshalb aber nicht auf, praxisrelevant zu sein. So auch bei Carnap, wobei die politisch-praktische Seite seiner Philosophie erst vor dem Hintergrund der in den letzten Jahrzehnten begonnenen historischen Aufarbeitung sichtbar wird, die sich auf alle Aspekte seines Werkes stützt, unter Einschluss von Dokumenten aus dem Nachlass.
Die Philosophie Carnaps kann, in ihren hauptsächlich veröffentlichten Erscheinungsformen der formalen Philosophie, als Sammlung von hochspezialisierten philosophischen Werkzeugen aufgefasst werden, denen keine Erläuterungen über die intendierte Verwendung beigegeben sind. Grund für diese puristische Gestalt von Carnaps Werk ist sein neusachlicher und radikal moderner Stil, den er in den 1920er-Jahren unter dem Einfluss des Wiener Kreises entwickelte. „Auch wir haben ‚Bedürfnisse des Gemüts‘ in der Philosophie“, wie Carnap betont, „aber die gehen auf Klarheit der Begriffe, Sauberkeit der Methoden“‚
Die mit diesem Band beginnende Edition Schriften aus dem Nachlass von Rudolf Carnap setzt sich die Publikation der Tagebücher, des Briefwechsels, der Manuskripte und Vorlesungen Carnaps zum Ziel, begleitet von einer Online-Edition der Faksimiles des Carnap-Nachlasses und der Pdfs der als Open-Source-Edition angelegten Druckedition auf VALEP. (Zu den formalen Richtlinien und dem Gesamtplan der Edition siehe den editorischen Anhang dieses Bandes.) Dieses Vorhaben steht in enger Beziehung zu der die veröffentlichten Schriften umfassenden, zweisprachigen Gesamtausgabe The Collected Works of Rudolf Carnap bei Oxford University Press.
Viele der hier publizierten Texte werden in dieser Ausgabe erstmals zugänglich gemacht. Bis vor wenigen Jahren waren die Tagebücher und die privaten Korrespondenzen für die Forschung gesperrt. Überdies sind viele der im Nachlass zu findenden Texte Carnaps (die Tagebücher und ein Großteil der Manuskripte) in Kurzschrift verfasst (vgl. Editorischer Anhang ). Transkriptionen dieser Texte liegen bislang nur zu einem kleinen Teil vor und werden in dieser Edition erstmals systematisch bereit gestellt und textkritisch abgesichert. Vor dem Hintergrund der oben formulierten Arbeitshypothese über die Rolle der unpublizierten Schriften Carnaps soll eine Neubewertung seines Werkes eingeleitet werden. Neue Gesichtspunkte für die Erforschung der Geschichte des Wiener Kreises und des Logischen Empirismus sollen erschlossen werden. Namentlich die hier begonnene Edition der Tagebücher ist jedoch über den engeren philosophiehistorischen Kontext hinaus von Bedeutung, als das zwanzigste Jahrhundert insgesamt repräsentierendes (kultur)historisches Dokument.
Knapp 4.500 kurzschriftliche Seiten, auf denen über sechs Jahrzehnte des zwanzigsten Jahrhunderts dokumentiert sind: Die Tagebücher Carnaps stellen ein historisches Dokument von beeindruckendem Umfang dar (vgl. Editorischer Anhang ). Die ersten Einträge sind 1908, in Carnaps Wuppertaler Gymnasialzeit entstanden (TB 1). Es folgen in den Jahren des Studiums Carnaps in Jena und Freiburg einige verstreute Fragmente, Reisetagebücher sowie die umfangreichen tagebuchartigen Aufzeichnungen von Briefen Carnaps an seine Jugendfreundin Tilly Neovius (TB 3). Den Ersten Weltkrieg hat Carnap in einem hier ca. 200 Seiten umfassenden „Kriegstagebuch“ dokumentiert (TB 10 – TB 19). Ab 1920, in den in voraussichtlich vier weiteren Bänden vorzulegenden Tagebuchteilen, stehen Carnaps wissenschaftliche Aktivitäten im Zentrum. Im Zusammenhang damit dokumentieren die Tagebücher Carnaps Leben in einem bestimmten intellektuellen Kollektiv, das sich zunächst, von 1926 bis 1935, um den für Carnaps geistige Entwicklung entscheidenden Wiener Kreis gruppiert, dann, nach der Emigration und bis zu Carnaps Tod im Jahr 1970, von der internationalen Bewegung des Logischen Empirismus und der analytischen Philosophie gebildet wird. Die Tagebuchaufzeichnungen repräsentieren so, zunächst fragmentarisch, ab 1920 so gut wie lückenlos, über sechs Jahrzehnte von Carnaps Leben. Sie sind wichtig als autobiografisches und philosophiehistorisches Dokument. Darüber hinaus ist die kulturhistorische Dimension hervorzuheben, legen die Tagebücher doch, am Beispiel der vom Bruch der Emigration geprägten Karriere eines bedeutenden Wissenschaftlers, einen Schnitt durch zwei Drittel des 20. Jahrhunderts und liefern damit eine alltagsgeschichtliche Fallstudie von bemerkenswerter Dimension.
Carnaps Tagebücher protokollieren das Tagesgeschehen aus der Perspektive des objektiven (Selbst-)Beobachters. Sie beschreiben, was der Autor im Tagesverlauf getan und erlebt hat. Die Tagebücher des reifen Carnap (ab Mitte der 1920er-Jahre) schildern das Leben in allen Facetten, von der wissenschaftlichen Diskussion bis zum Kinobesuch, vom Kaffehaustratsch bis zum Sex, vom politischen Ereignis bis zu den Schmerzen des Alltags, Schlaflosigkeit und Medikamentenkonsum. Die Perspektive ist jedoch stets die der positivistisch gedeuteten lebensweltlichen Erfahrung. Das heißt, es wird nicht einfach das ‚Eigenpsychische‘ geschildert, sondern dessen ‚fremdpsychischer‘ Anteil, alles also, was auch einem dritten Beobachter am Erleben Carnaps zugänglich wäre (zur Rolle des Eigen- und Fremdpsychischen in Carnaps Philosophie vgl. die Einleitung zum zweiten Band dieser Edition). Nie wird ein Ereignis anders geschildert als aus der Perspektive des objektivierten eigenen Erlebens. Im Tagebuch tritt zu diesem Erleben des Tages keine zweite Ebene des Reflektierens oder Entwerfens hinzu. Ge
Die Tagebücher stellen somit keinen Bruch mit Carnaps eingangs erwähntem radikal modernen Stil dar, indem sie keine Freiräume schaffen für emotiven Diskurs. Sie sind, genau in dem technischen Sinn von Carnaps Auffassung über den „Ausdruck des Lebensgefühls“ darin, keine Dichtung, auch wenn sie in einem anderen Sinn als neu-sachliche (oder nach-expressionistische) Kunstform aufgefasst werden können (siehe Abschnitt ). Nichtsdestoweniger stellen die Tagebücher eine wichtige Ergänzung des publizierten Werkes dar. So kommen „praktische Entscheidungen“, Aussagen über moralische und politische Präferenzen und deren Kontext, in den Tagebüchern, anders als im wissenschaftlichen Werk, sehr wohl zur Sprache, wenn auch nur in der Gestalt der Protokollierung von Diskussionen, Aussagen, Entscheidungen und nicht auf der von Carnap vermiedenen Meta-Ebene der expressiven Reflexion. Die Tagebücher liefern unerlässliche Informationen zu Entstehung, Hintergrund und Motivlage von Carnaps Werk. Man kann sie als kontextualisierende Erläuterungen zu seinen publizierten Schriften lesen.
In engem Zusammenhang mit dieser auf Carnaps philosophisches Werk bezogenen Perspektive erfüllen die Tagebücher eine wichtige Rolle als Dokumentation seiner intellektuellen Biografie und zur Geschichte des Wiener Kreises und des Logischen Empirismus insgesamt. Hier stellen sie eine einzigartige Primärquelle dar. Das gilt besonders für die Zeit Carnaps im Wiener Kreis von 1926 bis 1935. In keiner anderen literarischen Quelle wird ein so lebendiges Bild der Aktivitäten des Wiener Kreises gezeichnet.
Selbst wenn die so umrissene dokumentarische Perspektive für die philosophiehistorische Forschung den wichtigsten Gesichtspunkt der Tagebücher darstellt: ihre Bedeutung als historische Primärquelle erschöpft sich nicht darin. Gerade in dem hier vorgelegten ersten Band der Tagebücher spielt die philosophiehistorische Perspektive eine eher untergeordnete Rolle. Carnap hat die Entscheidung für eine akademische Karriere erst recht spät, im Jahr 1920, getroffen, die Annäherung an die Wiener und Berliner Szene um Moritz Schlick und Hans Reichenbach erfolgte ab 1922. Nach Wien übersiedelte Carnap erst 1926. Deshalb dokumentieren die in diesem ersten Band versammelten Teile der Tagebücher, die hier immerhin gut 400 Seiten umfassen, Aspekte in Carnaps Leben, die mit der akademischen Philosophie nur am Rande etwas zu tun haben. Im Zentrum stehen vielmehr zum einen die Aktivitäten Carnaps in der deutschen Jugendbewegung, zum anderen seine Erfahrungen im Ersten Weltkrieg.
Carnaps Tagebücher können daher in einem allgemeineren, aber, wie sich zeigen wird, mit dem philosophiehistorischen eng verknüpften kulturhistorischen Sinn gelesen werden, als on-the-fly erarbeitete dokumentarische Erzählung. Die sich aus dem Gesagten ergebenden Gesichtspunkte der Tagebücher Carnaps werden im Folgenden eingehender behandelt. Zunächst werden sie in ihrem Status als Literatur untersucht, wobei im Zentrum der von Carnap in den 1920er-Jahren erarbeitete neusachliche Stil steht (Abschnitt ). Dann wird als zentrales philosophisches Element der Tagebücher deren Funktion als Dokument radikal moderner Lebensreform und nonkognitivistischer Wertauffassung präsentiert (Abschnitt ). Schließlich werden die Tagebücher Carnaps zu denen seiner Zeitgenossen in Beziehung gesetzt, wobei Carnaps radikal moderne Haltung weiteres Profil dadurch erhält, dass sie sich als Alternative auffassen lässt zu Einstellungen wie denen von Ludwig Wittgenstein oder Martin Heidegger, in denen die Moderne abgewiesen wird (Abschnitt ).
Um Carnaps Tagebücher sprachlich angemessen einzuschätzen (vgl. auch die Bemerkungen zu Carnaps Verwendung der Kurzschrift im editorischen Anhang‚ ), ist die grundsätzliche Frage der literarischen Qualität seiner Texte zu stellen. Dies gilt umso mehr, als Carnap bis heute als Antithese gesehen wird zu den literarisch anspruchsvollen „Dichterphilosophen“, von Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche und Søren Kierkegaard bis Wittgenstein. Diese Einschätzung hat etwas für sich: Es ist eben das Charakteristische an Carnaps Ausdrucksweise, dass sie sich der Expressivität verweigert, die bei den sogenannten Dichterphilosophen im Zentrum steht. Bloß bedeutet diese Haltung nicht zwangsläufig auch, dass Carnaps Texte ohne literarischen Anspruch sind.
Die frühen Tagebücher, bis Mitte der 1920er-Jahre, sind, mit Ausnahme der Tilly-Briefe (TB 3) und der Kriegstagebücher (TB 10 – TB 19), in denen umfangreichere Schilderungen zu finden sind, eher im Telegrammstil gehalten. Es geht wie in den Tagebüchern Goethes, Albrecht Dürers oder Lion Feuchtwangers um Stichworte, die Tagesereignisse protokollieren. Einen literarischen Anspruch erheben diese bloß mnemotechnischen Notizen nicht. Um die frühen Tagebücher
Sie reicht ihren rechten Arm. Ich ziehe mit der krummen Spitze einen Schnitt, immer wieder, fest hinein. Sie ist tapfer und hilft die Haut halten, bis Blut kommt. Das küss ich ab. […] – Mir saust’s durch den Kopf: Jetzt Mut, entscheiden! […] Jetzt einmal stark sein, nicht leicht – Genuss – zufrieden. Atemholen. „So, jetzt müssen wir uns auch küssen.“ Sie gibt ihr Gesicht und lässt sich küssen. […] Wir küssen uns wieder. Sie lehnt an mir. Oh, wir zwei.
Markant ist auch die Darstellung der „Kämpfe am Winterberg“ vom 5. bis 9. V. 1917 (Tagebuch 18), hier die Passage, die Carnaps Verwundung schildert:
Das wahnsinnig dichte Pfeifen um unsre Köpfe hat etwas nachgelassen, drum wagen wir alle, den Kopf herauszustecken und sehen hellblaue, lange Franzosenröcke und zwar von hinten. Und da schießt natürlich alles wieder mit Feuereifer. […] Plötzlich ein Schlag vor den Kopf, ich taumele zurück, Blut läuft mir übers Gesicht. Ich nehme den Stahlhelm ab: Er hat ein handlanges, zackig gerissenes Loch. Während ich in Eile mein Verbandpäckchen auspacke, schwebt mir ein Bild vor, das ich vorgestern gesehen: Ein sterbender Mann, seitlich auf Gepäck oder Leichen liegend, sodass der Kopf frei hängt, aus einem Loch in der Schläfe strömt das hellrote Blut wie ein Brünnlein herab […]. Würde ich auch bald so liegen?
Erst in den 1920er-Jahren beginnen die Tagebücher das Leben in dem intellektuellen Kollektiv Carnaps zu dokumentieren, indem immer mehr die präzise Schilderung von Gesprächen in den Vordergrund tritt sowie im Zusammenhang damit eine der Neuen Sachlichkeit nahestehende Ästhetik kultiviert wird. Diese stilistische Entwicklung fällt zeitlich zusammen mit der Übersiedlung nach Wien und dem Eintritt Carnaps in den Wiener Kreis um Moritz Schlick und Otto Neurath sowie mit den durch Franz Roh vermittelten Kontakten zur Bauhaus-Szene um Sigfried Giedion, Carola Giedion-Welcker, Lucia Moholy und László Moholy-Nagy. Diese Strömungen konvergieren bei Carnap nicht nur in der Philosophie des Aufbau, sondern auch in einer neuen literarischen Ausdrucksweise,
Man kann, Rohs Charakterisierung folgend, das Spröde und ‚Ingenieurhafte‘, das Carnaps publizierte Texte wie seine Tagebücher auszeichnet, als eigene literarische Qualität interpretieren. Während die Dichterphilosophen und namentlich der von Carnap selbst in diesem Kontext hervorgehobene Nietzsche, dadurch die Grenzen zwischen Philosophie und Dichtung einreißen, dass sie ihre philosophischen (metaphysischen) Ideen in eine expressive Sprache packen und so einen poetischen ‚Ausdruck des Lebensgefühls‘ ermöglichen, zeichnet sich der von Carnap eingeschlagene Weg eben durch die von ihm seit den späten 1920er-Jahren bewusst gewählte neusachliche Sprache aus, in der eben dieser expressive Ton nicht angeschlagen wird, was wiederum, wie sich im nächsten Abschnitt zeigen wird, in einem engen Zusammenhang mit Carnaps nonkognitiver Auffassung von Werten steht: in neusachlicher Sprache werden Werte zwar artikuliert, kaum aber in der Verwendung emotiv-expressiver Klangfarben zu legitimieren gesucht.
Den Stellenwert als ‚ausdrucksbewussten Ingenieur‘ hat sich Carnap im Wiener Kreis erarbeitet und in den Augen seiner Freunde und Wegbegleiter zeitlebens behalten. Wenn Carnap, wie von Herbert Feigl beschrieben, „his logical constructions in the manner of an engineer describing the workings of a machine“ erklärt‚
Zu diesem durchaus klassischen schriftstellerischen Element, das in der neuen Sachlichkeit ja nur dadurch zu einem besonderen Stil wird, dass es auf die innere, expressive und reflektierende Perspektive verzichtet (also auf all das am ‚Eigenpsychischen‘, das dem ‚Fremdpsychischen‘ unzugänglich bleibt), tritt bei Carnap ein zweiter Aspekt hinzu, der mit dem jugendbewegten Kollektivdenken und mit der sozialistischen Einstellung im ‚linken Flügel‘ des Wiener Kreises
Wie gelangte Carnap zu diesen Stilelementen? Die Hauptrolle hat sicher die persönliche Bekanntschaft mit dieser ästhetischen Haltung Nahestehenden gespielt, also Roh, die Bauhäusler, Neurath und der Wiener Kreis. Aber auch neusachliche Literatur hat Carnap gelesen, so Lion Feuchtwangers Erfolg (LL 2091) – das Buch war ihm so wichtig, dass er es vor einem Besuch im nationalsozialistischen Deutschland in Salzburg deponierte und nachher extra wieder dort abholte – (TB 29. VII. 1933R), Erich Kästners Fabian (LL 2055) und ein nicht näher identifiziertes Werk von Alfred Döblin (TB 12. I. 1931R). Vor allem aber ist hier Rudolf Brunngrabers Karl und das zwanzigste Jahrhundert (LL 2066) zu nennen, da
Wie äußert sich nun der in den 1920er- und 1930er-Jahren erarbeitete neusachliche Stil Carnaps in den Tagebüchern? Beschreibungen verzichten auf emphatische Adjektive bzw. geben Wertungen nur insofern wieder, als sie authentischer Teil der geschilderten Erlebnisse sind. Beispielsweise beschreibt Carnap eine zum Teil konfliktbeladene Begegnung mit Neurath wie folgt:
½ zu Neuraths, später auch Ina. Neuraths Einteilung: die, deren Fehler stets zur absolutistischen Seite gehen; die, deren Fehler zur relativistischen […] und die pendelnden. Er rechnet Schlick und mich zur ersten Art und ist hocherfreut, dass ich es zugestehe. Über seine Veröffentlichungen und die geplante neue Broschüre. Er ist sehr betroffen, dass ich ihm sage, er solle lieber organisieren usw., aber nicht selbst schreiben. Das sei eine „Rohheit“.
(TB 16. VII. 1933R)
In keinem Fall enthalten Schilderungen emotionaler Situationen nachträgliche Reflexionen oder Bewertungen des Autors. So auch die Beschreibung einer offenbar hochemotionalen Begegnung mit Broder Christiansen, wenige Monate nach der nationalsozialistischen Machtübernahme:
2h kommt Christiansen. Er fragt nach der politischen Lage in Prag und Wien. Ich gebe sachlich Auskunft. Später komme ich zu ihm und frage, ob er von den bisherigen Maßnahmen enttäuscht oder befriedigt ist. Er: In der kurzen Zeit konnte nicht viel getan werden; aber was getan ist, damit sei er zufrieden. Ich: Das ist ja wirklich interessant, dass es einen gebildeten Menschen gibt, der Derartiges bejaht. Meine ganze Erbitterung, lange aufgespeichert, entlädt sich in dieser ironischen Bemerkung. Er gerät in Wut. […] Über die „Greuel“; ob ich bestimmte Fälle wisse? Ja. Wie viele? Das sage ich hier nicht, er möge nach Prag kommen. Usw. Er schimpft über die Judenpresse, und dass meine Freunde „Juden oder wie Juden Denkende“ seien. Schließlich geh’ ich hinaus und sage, es hat keinen Sinn, miteinander zu reden. Er ist noch im vollsten Affekt, beide sind wir sehr erregt. Elisabeth erzählt mir später, er habe ihr gesagt, sie solle mir ausrichten, auf meine ironische Bemerkung hin hätte er mir eigentlich eine herunterhauen sollen. (TB 6. VIII. 1933R)
Nach 1935 kultiviert Carnap seine Kunst, bei der Schilderung eines Tages das Wesentliche herauszuheben, ohne in Reflexion zu versinken, weiter. Kaum einmal gibt es standardisierte Auflistungen der Tagesspeisekarte, stattdessen wird Unwichtiges ausgeblendet. Ein ganzer Tag kann so auch einmal auf Gesprächsfetzen reduziert sein, häufig wird der Tag in Begegnungen und Diskussionen zerlegt, deren gelegentlich umfangreicher Inhalt in Klammern hinzugefügt wird. So sieht etwa die Schilderung eines ganzen Tages im Jahr 1949 aus:
Noch etwas Gespräch mit Quine (über meine Gründe, für Intension und für höhere Variablen, weil nützlich. Ich erwähne Roh: Die Freunde verteidigen immer die vorletzte Phase gegen die Neuerung). 11 h sie [die Quines und Edward Haskell‚ C. D.] fahren ab. (Ina erzählt mir, was Haskell über mich gesagt hat: im Gespräch mit Quine habe ich 5 \(\times \) soviel Zeit genommen wie er! Mein Denken sei zu formal und abstrakt, kein Kontakt mit Gesellschaft und Realität; weltfremd; Hobby mit Handarbeit wäre nützlich; Inas Bezeichnung „gentle tyrant“ wäre sehr passend. Ich hätte doch, in jüngerem Alter, einige Besprechungen mit Psychiater machen sollen (Quine habe das auch getan); ganze Analyse wäre nicht nötig.). (TB 9. IX. 1949R)
Dieser Eintrag illustriert, wie in einem positivistisch formulierten Beobachtungsprotokoll die verschiedenen fremdpsychischen Perspektiven – hier etwa Quine, Edward Haskell, Ina und Rudolf Carnap – ineinander verwoben sind. Das Wesentliche des Tages, das im Tagebuch geschildert wird, versteht sich jedoch nicht souverän dem Schicksal des Schreibers übergeordnet. Zwar versucht Carnap einerseits die Inhalte von Gesprächen (möglichst objektiv) wiederzugeben, die ihm charakteristisch und wichtig erscheinen und die dadurch fast zwangsläufig auch für andere von Interesse sind. Aber er scheut sich nie, solche Erlebnisse ins Zentrum des Tagebuchs zu stellen, die für ihn selbst, subjektiv, zentral sind, selbst dann, wenn es sich um die manchmal eher deprimierende Wirklichkeit eines Dahinsiechenden handelt.
Ein wichtiges Merkmal der neusachlichen, im Fremdpsychischen zentrierten Erzählweise ist, dass nicht nach einem dem individuellen Erleben übergeordneten Sinn gesucht werden kann. Ein ereignisloser Tag bleibt ein ereignisloser Tag, dessen Ödnis der Autor nicht im Tagebuch dadurch zu kompensieren versucht, dass er sich Fragen von allgemeinem Interesse zuwendet oder poetisch abschweift. Dass Carnap dieses Korsett der ausschließlichen Schilderung des fremdpsychisch verstandenen Selbsterlebten seit den späten 1920er-Jahren nie wieder verlässt, ist gleichzeitig Limitierung seiner Tagebücher und das, was sie als Literatur ausmacht.
Das Tagebuch erlangt bei Carnap auch dadurch eine besondere Bedeutung, dass es (mit einigen Parallelen zur Jugendbewegung) im linken Flügel des Wiener Kreises und des Logischen Empirismus um eine auf alle Erscheinungsformen der Gesellschaft abzielende umfassende Lebensreform geht. A fortiori wird in dieser Grundhaltung das Alltagsleben programmatisch ausgedeutet und mit dem politischen und wissenschaftlichen Leben verschmolzen. Der im Tagebuch ab der Wiener Zeit deutlich werdende Anspruch einer Neuordnung aller Denk-, Handlungs- und Lebensweisen geht einerseits auf die Jugendbewegung zurück. Hier folgt Carnap dem Meißnerschwur von 1913: „Die Freideutsche Jugend will aus eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, mit innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten. Für diese innere Freiheit tritt sie unter allen Umständen geschlossen ein.“
So steht die wissenschaftliche Weltauffassung dem Leben der Gegenwart nahe. […] wir erleben, wie der Geist der wissenschaftlichen Weltauffassung in steigendem Maße die Formen persönlichen und öffentlichen Lebens, des Unterichts, der Erziehung, der Baukunst durchdringt, die Gestaltung des wirtschaftlichen und sozialen Lebens nach rationalen Grundsätzen leiten hilft. Die wissenschaftliche Weltauffassung dient dem Leben und das Leben nimmt sie auf.
16 Verein Ernst Mach, Wissenschaftliche Weltauffassung‚ 30.
Diesem Geist verpflichtet dokumentiert das Tagebuch über weite Strecken die Welt aus der Perspektive des Repräsentanten einer angestrebten Lebensreform und macht es zum Dokument einer Lebensrealität, der dieser sich zugehörig fühlt, und zwar auf drei Ebenen.
Erstens im Alltagsleben. Carnaps lebensreformerischer Anspruch erstreckt sich eben auf eine vollständige Durchdringung des Alltagslebens. Damit sollen nicht nur Philosophie und Wissenschaft den Alltag bestimmen, sondern es soll auch das alltägliche Tun (ob zum Vor- oder Nachteil des Akteurs) vor dem Hintergrund sozialreformerischer Ansprüche verstanden und neu definiert werden. Wenn Carnap in seinem Tagebuch ausführlich über private Details, einschließ
Mit der im engeren Sinn privaten Perspektive sich überlappend wird die Lebensrealität zweitens in der Interaktion mit anderen Personen, die ihr zugehören bzw. von Carnap ihr zugerechnet werden, dokumentiert. Die ab 1926 große Teile der Tagebücher einnehmenden Berichte über diverse Diskussionszirkel, formelle und informelle Treffen, Konferenzen, private Zusammenkünfte dienen dieser Dokumentation. Sie machen Debatten sichtbar, die mitunter konsensbildend verlaufen, manchmal eher neutral unterschiedliche Standpunkte markieren, gelegentlich aber durchaus konfliktbeladen erscheinen. Dadurch werden innere Spannungen sichtbar: die Konflikte zwischen linkem und rechtem Flügel im Wiener Kreis etwa; die unterschwellig immer vorhandenen, am Ende eskalierenden Spannungen in der Beziehung zu Neurath; die Opposition Carnaps im politikfeindlichen Klima der Wissenschaft im Kalten Krieg.
Schließlich ist drittens ein wichtiger Teil der Dokumentation in der Erfassung von Interaktionen und Konfrontationen mit außerhalb von Carnaps intellektuellem Netzwerk stehenden Personen zu sehen. So etwa der Bericht über Carnaps Teilnahme an den Davoser Hochschultagen 1929, mit der berühmten Disputation zwischen Heidegger und Cassirer (vgl. TB 18. III. 1929R); die eindrücklichen Schilderungen über Konflikte mit vom Nationalsozialismus fanatisierten Teilen von Carnaps Familie; die Berichte über Zusammenstöße mit Metaphysikern und Wertabsolutisten in Carnaps Chicagoer Zeit.
Diese Perspektiven der Bewusstmachung einer komplexen Lebensrealität positionieren das Tagebuch in eine bis in die privaten Verästelungen hinein den Charakter eines politischen Experimentes annehmenden Existenz, in der es als Protokoll und Richtschnur fungiert. Die in den Tagebüchern sichtbar gemachte lebensreformerische Selbstverpflichtung ist nicht mit dem Anspruch zu ver
Carnaps Wertphilosophie
If a statement on values or valuations is interpreted neither as factual [etwa eine psychologische oder soziologische Aussage über Werte oder Aussagen über Mittel, die zu einem Zweck dienen] nor as analytic (or contradictory) [etwa eine Aussage über den Zusammenhang eines Wertes mit einem anderen Wert, von dem er abgeleitet ist] then it is non-cognitive; that is to say, it is devoid of cognitive meaning, and therefore the distinction between truth and falsity is not applicable to it. (SCH‚ 999)
Indem Carnap genuine Werturteile als nonkognitiv identifiziert, sind diese seiner Auffassung zufolge subjektiv und damit einer wissenschaftlichen (kognitiven) Begründung unzugänglich. Das bedeutet allerdings nicht, dass wissenschaftlich-rationale Überlegungen hier keine Rolle spielen. Man muss nur klar zwischen den (non-kognitiven) praktischen Entscheidungen und jenen kognitiven (theoretischen) Fragen, mit denen sie zusammenhängen, unterscheiden.
Wenn ich mir klar werden will, ob ich den vor mir liegenden Apfel essen soll oder nicht, so ist das eine Sache des Entschlusses, der praktischen Entscheidung, nicht der theoretischen. […] Theoretisch – durch alltägliches oder wissenschaftliches Wissen – kann nur gesagt werden: „wenn du den Apfel ißt, so wird dein Hunger verschwinden“ (oder: „so wirst du dich vergiften“, „so wirst du ins Gefängnis kommen“ oder dergl.). Diese theoretischen Angaben über die zu erwartenden Folgen können gewiß für mich sehr wichtig sein; aber durch sie kann mir der Entschluß nicht abgenommen werden. Es ist Sache des praktischen Entschlusses, ob ich mich sättigen oder hungrig bleiben will; ob ich mich vergiften oder gesund bleiben will; die Begriffe „wahr“ und „falsch“ können hier nicht angewendet werden.
19 Carnap, Theoretische Fragen‚ 258.
Indem wir danach streben, Werthaltungen konsistent zu halten, uns darüber zu informieren, welche konkreten empirischen Konsequenzen eine bestimmte Entscheidung haben könnte, und die Argumente und Haltungen anderer studieren, bleibt ein großer Spielraum für rationalen Diskurs. Und den sollen wir, so Carnaps ethisch-politische Grundhaltung, auch ausschöpfen. Auf der anderen Seite bedeutet die Subjektivität der Werte nicht – hier zeigt sich erneut Carnaps Nähe zur Neuen Sachlichkeit –, dass der Grad an Emotionalität, der sie begleitet, von irgendeiner Relevanz ist. Wie sehr eine bestimmte Wertentscheidung von Gefühlsausbrüchen begleitet ist, ist irrelevant. Wichtig ist nur die Frage, ob jemand am Ende bereit ist, eine Werthaltung irgendwann zu revidieren bzw. bei anderen eine abweichende Haltung zu akzeptieren. Ist nichts von beiden der Fall, handelt es sich also um eine Werthaltung, die für ihren Repräsentanten unverrückbar ist, dann ist das eine strukturell wichtige Information, die jedoch nicht zwangsläufig mit dem Grad an Emotion konvergiert, der die Werthaltung begleitet: Dieser ist für ihren Status der subjektiven (Un)verrückbarkeit nicht ausschlaggebend. Was zählt, sind nur Informationen darüber, ob jemand eine Werthaltung bloß vorübergehend vertritt (als „momentary emotion“, wie Carnap es nennt) oder aber ständig, nach reiflicher Überlegung, bzw. ob jemand unter Umständen bereit wäre, eine Werthaltung zu ändern oder auch eine davon abweichende Werthaltung bei anderen zu akzeptieren. All diese Informationen können unabhängig von der Frage emotionaler Nebengeräusche erörtert werden und determinieren vollständig das Ausmaß, in dem eine Person einen Wert als feststehend/unrevidierbar erachtet.
Carnaps neusachlicher Nonkognitivismus bedeutet nicht das Ausblenden von Emotion, sondern eine neue, sozusagen analytische, abstrakte Form der Emo
Was für die engere philosophie- als auch die weitere kulturhistorische Perspektive den Reiz oder, neutraler, das Besondere an Carnaps Tagebüchern ausmacht, ist ihr mit seiner nonkognitiven Wertphilosophie konvergierender, neusachlicher Ton; es ist, in paradoxer Formulierung, all das, was in diesen Tagebüchern nicht zur Sprache kommt: der Mangel an Reflexion, der den Blick auf die Sachen freimacht. In dieser Hinsicht bietet sich der Vergleich mit den Tagebüchern von Zeitgenossen Carnaps an.
Abgesehen von ihrem sich aus der zeitlichen Spannweite ergebenden literarischen Reiz bietet sich aber auch der Vergleich mit den zeitlich parallel entstandenen Tagebüchern anderer Intellektueller an. Dabei sind zunächst grundlegende Unterschiede zu konstatieren, die alle Tagebücher betreffen, die hier eingesehen werden konnten: in keinem der herangezogenen Texte ist ein mit Carnap vergleichbarer neusachlicher Stil zu finden. Zwar überlappen sich manche Tagebücher (so etwa die von Lion Feuchtwanger und passagenweise die Arthur Schnitzlers) stilistisch mit dem frühen Telegrammstil Carnaps, aber Schilderungen werden dort stets subjektiv überhöhend und nachträglich reflektierend, sobald sie über den Telegrammstil hinaus gehen. Die radikale Beschränkung der Ausdrucksmittel, die dennoch, so die oben entwickelte Charakterisierung des neusachlichen Stils bei Carnap, eine Erfassung aller Aspekte der Lebensrealität ermöglichen, allerdings nur in dem als Fremdpsychisches zugänglichen Erfahrungsbereich, findet sich nirgendwo sonst in der Tagebuchliteratur. Während die Tagebücher von berühmten Zeitgenossen Carnaps häufig den Charakter von Skizzen- und Reflexionsbüchern haben (Robert Musil, Hannah Arendt, Kurt Gödel), die Tagesereignisse (oder davon abgeleitete Eindrücke) mit einem expressiven literarischen Anspruch schildern (Franz Kafka, Harry Graf Kessler, Käthe Kollwitz, Ernst Jünger, Thomas Mann, Carl Schmitt, Moritz Schlick) bzw. kommentierend verarbeiten (Victor Klemperer), schreiben Carnaps Tagebücher eine auf die konkreten lebensweltlichen Ereignisse reduzierte, nicht reflektierende, nicht expressiv überhöhende und gerade dadurch originelle Erzählung.
Carnaps Tagebücher unterscheiden sich auch grundlegend von den tagebuchartigen Aufzeichnungen seiner philosophischen Zeitgenossen Ludwig Wittgenstein (Denkbewegungen) und Martin Heidegger (Schwarze Hefte). Ein Vergleich
Wittgensteins Tagebücher
Die bei Wittgenstein in der Philosophie bei moderner Grundlage erfolgende Annäherung an in der Moderne längst Überwundenes manifestiert sich auch in seinen Reflexionen über die Lebenswirklichkeit, die sich in den Tagebüchern erforschen lässt. Während Carnaps radikale Modernität diesen dazu bringt, auch im nicht-wissenschaftlichen Diskurs eine jede emotionale Sprechweise vermeidende quasi-wissenschaftliche Diktion zu wählen, geht Wittgenstein den genau entgegengesetzten Weg und setzt im privaten Ausdruck auf eine die wissenschaftliche Sprache des Tractatus und der Philosophischen Untersuchungen bewusst konterkarierende expressive Rede. Wittgensteins Tagebücher enthalten Gebete („Gott helfe mir!“, „Hilf & Erleuchte!“), Beschwörungen („Nur Mut!“), Selbstbezichtigungen und Abrechnungen mit dem Autor wie auch mit Personen in seinem Umfeld („Ein Gaunerpack!“). Wo Carnap Repräsentant der neuen Sachlichkeit ist, steht Wittgenstein für Expressionismus:
Wenn ich sage, ich möchte die Eitelkeit ablegen, so ist es fraglich, ob ich das nicht wieder nur aus einer Eitelkeit heraus will. Ich bin eitel & soweit ich eitel bin, sind auch meine Besserungswünsche eitel. Ich möchte dann gern wie der & der sein der nicht eitel war & mir gefällt‚ & ich überschlage schon im Geiste den Nutzen, den ich vom „Ablegen“ der Eitelkeit haben würde. Solange man auf der Bühne ist, ist man eben Schauspieler, was immer man auch macht. (Wittgenstein, Denkbewegungen‚ 64)
Zugleich bieten Wittgensteins Tagebücher keine emotionale Distanz, sondern streben eher die expressive Durchdringung der Welt mittels Sprache an. Die
Das Leben ist eine Tortur, von der man nur zeitweise heruntergespannt wird, um für weitere Qualen empfänglich zu bleiben. Ein furchtbares Sortiment von Qualen. Ein erschöpfender Marsch, eine durchhustete Nacht, eine Gesellschaft von Besoffenen, eine Gesellschaft von gemeinen und dummen Leuten. Tue Gutes und freue dich über deine Tugend. Bin krank und habe ein schlechtes Leben. Gott helfe mir. Ich bin ein armer und unglücklicher Mensch. Gott erhöre mich und schenke mir den Frieden! Amen. (Baum, Wittgenstein im Ersten Weltkrieg‚ 80)
Verkörpern Carnap und Wittgenstein mit ihren Tagebüchern also zwei unterschiedliche Spielarten der Moderne – eine affirmative und eine aversiv gebrochene –, so steht Heidegger mit seinen erst in jüngster Zeit erschienenen tagebuchartigen Aufzeichnungen für eine radikale Antithese dazu. Heideggers Aufzeichnungen, die sogenannten Schwarzen Hefte‚
Heideggers Formulierungen modulieren eher alltagssprachliche Wörter zu einer bewusst grammatikalisch verzerrten Sprache, in der Sätze ohne empirischen oder logischen Sinn wie „Das Nichts selbst nichtet“
Das Interessante am Vergleich zwischen den Schwarzen Heften und den Tagebüchern Carnaps liegt darin, dass diese beiden Texte ein antipodisches Verhältnis präzisieren, das beiden Philosophen durchaus klar gewesen ist. Carnap, der in „Überwindung der Metaphysik“, einem Schlüsseltext der Philosophie des 20. Jahrhunderts, Heideggers Philosophie als Paradebeispiel für sinnlose Metaphysik identifiziert, betont noch 1967: „in Bezug auf die Ausführungen von Martin Heidegger würde ich noch wie früher sagen, daß wir sie gänzlich als unverstehbar ablehnen“.
Hier vollzieht sich die äußerste Verflachung und Entwurzelung der überlieferten Urteilslehre unter dem Schein mathematischer Wissenschaftlichkeit. […] [Es ist] kein Zufall, daß diese Art von ‚Philosophie‘ die Grundlage liefern will zur modernen Physik, in der ja alle Bezüge zur Natur zerstört sind. Kein Zufall ist auch, daß diese Art ‚Philosophie‘ im inneren und äußeren Zusammenhang steht mit dem russischen Kommunismus. Kein Zufall ferner, daß diese Art des Denkens in Amerika seine Triumphe feiert.
30 Heidegger, Gesamtausgabe, Bd. 40‚ 228.
Das Ertragreiche am Vergleich der drei Philosophen Carnap, Wittgenstein und Heidegger und ihren tagebuchartigen Schriften ist, dass sie alle eine enge Verknüpftheit sichtbar machen zwischen dem, was die Philosophie leistet, und dem, was uns im Alltag begegnet. In allen drei Fällen ist der Ausgangspunkt des Denkens die Idee einer rigoros wissenschaftlichen Einstellung, wie sie in der Wissenschaftlichen Weltauffassung des Wiener Kreises ihre radikal moderne Formulierung gefunden hat. Das heißt, es sieht keiner dieser drei Denker eine Möglich
In diesem Teil der Einleitung wird eine biografische Skizze zu den hier publizierten Tagebuchteilen geliefert, die in den folgenden Bänden fortgesetzt werden soll. Die in diesem Band veröffentlichten Tagebücher Carnaps beginnen mit seiner Gymnasialzeit in Barmen bei Wuppertal (TB 1, Frühjahr 1908) sowie in Jena (TB 2, Frühjahr 1910). Sie dokumentieren die Zeit seines Studiums in Jena und Freiburg (TB 3–9, 1911–1914), die Jahre des Ersten Weltkriegs, erst an der Front (TB 10–19,
Carnaps philosophische Karriere begann erst in den 1920er-Jahren. In der hier dokumentierten Lebensepoche sind keine wissenschaftlichen Publikationen entstanden. Er war kein frühreifer Charakter und erlebte die Zeit bis 1919 eher als jugendlicher Tatmensch, der sich von den ihn umgebenden Strömungen der Jugendbewegung, der Kultur des Fin de Siècle und der von den Ideen von 1914 geprägten Weltkriegserfahrung treiben ließ. Dennoch lassen sich viele Spuren des späteren Carnap, des politisch denkenden Intellektuellen, aber auch des Philosophen mit nonkognitivistischer und antimetaphysischer Ausrichtung und einer tiefen Verwurzelung in der modernen Logik in die frühe Zeit seiner intellektuellen Biografie zurückverfolgen.
Carnap wurde am 8. Mai 1891 in Ronsdorf bei Wuppertal geboren. Seine Kindheit und Jugend ist in den großteils später gestrichenen (weil für das amerikanische Publikum als nicht hinreichend relevant erachteten) einleitenden Passagen der ersten englischen Fassung seiner Autobiografie (AB) erfasst, die hier eingehend zitiert sei.
At the age of ten, my father was taken out of school in order to help earn a livelihood for the family on the loom and the fields. With great energy he used the evening hours for acquiring an education by himself, in many fields of knowledege, including foreign languages. He liked to read books throughout his life, especially biographies and history. He was cheerful, extroverted, sociable and energetic. By his industrious work, he slowly improved his economic & social position. When I was born […] he was the independent owner of a small but well-established ribbon factory. (AB‚ A1‑A2)
Anlässlich seiner Psychoanalyse in den 1950er-Jahren beschreibt Carnap den Vater als „energisch, vielleicht auch streng. Harte Kindheit. Trotzdem viel gelernt. Er sang gern. Er las Geschichte und Biographien“ (TBA, 26. X. 1953), an anderer Stelle als „nicht streng, aber ich fürchtete seinen Spott“ (TBA, 27. IX. 1954). Dreimal verheiratet (und zweimal verwitwet) zeugte Johannes Sebulon Carnap 14 Kinder, von denen ihn acht überlebten. Rudolf Carnap und seine Schwester Agnes (1890–1976) stammten aus der dritten Ehe, mit der um 26 Jahre jüngeren Anna Dörpfeld (1852–1924, Abb. ). Für Carnap waren von den Halbgeschwistern und deren Familien allenfalls Josua (1867–1914) und Johannes (1863–1936) wichtig, die 1896 die Leitung der väterlichen Fabrik übernommen hatten, die wiederum später an Johannes’ Sohn Wilhelm (1888–1957) übergeben wurde. Ansonsten spielte die väterliche Familie in Carnaps Kindheit eher eine untergeordnete Rolle, zumal nachdem Carnaps Mutter mit ihren beiden Kindern nach dem Tod des Vaters das Haus der Familie In der Krim in Ronsdorf verließ und nach Barmen, heute ein Stadtteil von Wuppertal, übersiedelte. In der Psychoanalyse hat Carnap dennoch Überlegungen über das intellektuelle Erbe des Vaters angestellt und das Ingenieurhafte seines eigenen Denkens mit der väterlichen Persönlichkeit in Zusammenhang gebracht:
Wenn ich mit dem Vater zu seiner Fabrik ging, faszinierten mich die Bandspulen. Später wollte ich „Maschinenerfinder“ werden; später Ingenieur; als Student Physiker, experimentell; nach dem Krieg theoretische Physik, schließlich Philosophie, immer mehr theoretisch und abstrakt. Wenn ich in Vaters Geschäft gegangen wäre, hätte ich mich um die Maschinen gekümmert, nicht das Geschäftliche; vielleicht hätte ich mich so dann doch gut mit ihm vertragen. (Vorher mal:) Ein Freund sagte in Wien: meine Diagramme sähen aus wie die Fäden auf einem Webstuhl. (TBA‚ 23. XII. 1954)
Anna Carnap, zum Zeitpunkt von Carnaps Geburt bereits im 40. Lebensjahr, war Tochter des bedeutenden Wuppertaler Pädagogen Friedrich Wilhelm Dörpfeld (1824–1893, Abb. ). Nach dem Tod ihrer Mutter im Jahr 1871 lebte Anna Dörpfeld bis zu ihrer Eheschließung im Jahr 1887 im Haushalt des Vaters und fungierte dort als seine Assistentin. Der erlernte, aber zuvor offenbar nie ausgeübte Lehrerinnenberuf ermöglichte es Anna Carnap, ihre Kinder im Grundschulalter zuhause zu unterrichten. So besuchte Rudolf Carnap erst mit dem Eintritt ins Gymnasium (nach 1898) eine öffentliche Schule. Carnap beschreibt seine Eltern als tief religiös und assoziiert seine eigene moralische Einstellung damit:
While I grew up, my mother often explained to me that the essential point in religion was not to believe certain dogmas, but to live the right life. And for the decision in all moral questions regarding right and wrong, she referred not to any authority, either the parents or the word of God, but rather to one’s own moral insight, the „voice of conscience“. (AB‚ A8)
Sosehr Carnap die Mutter und (mit Einschränkungen) den Vater in den gestrichenen Passagen seiner Autobiografie als prägend beschreibt, sind es zwei andere Verwandte, die er explizit als Vorbilder hervorhebt. Einmal den erwähnten Großvater Friedrich Wilhelm Dörpfeld. Dieser war nicht nur Pädagoge, sondern ein von der Philosophie Herbarts beeinflusster Denker. In seinem Hauptwerk Zur Ethik, das Carnap mehrfach gelesen hat, entwickelt Dörpfeld ein bemerkenswertes „System der Wissenschaft“, das sowohl Carnaps generelle wissenschaftliche Weltsicht als auch seinen ethischen Nonkognitivismus beeinflusst hat – durch die direkte Lektüre, aber auch durch die Wiedergabe der Lehren Dörpfelds durch Carnaps Mutter.
[Dörpfeld] had always strongly emphasized that in the education of a child’s character, the moral principles should be based only on the child’s own conscience and not on God’s will. He criticized the church severely for making ethics dependent upon theology because once young people would begin to doubt the dogmas, they would also be in danger of losing the moral ground. When my sister and I were somewhat older, my mother read to us what her father had written on this question in his book on ethics. (AB‚ A8‑A9)
Diese für Carnap selbst charakteristische Forderung nach einer dogmenfreien Moral hat auch seine Mutter geteilt:
What convictions, including religious beliefs, anybody had, was for her a morally neutral matter, as long as he would seriously search for the truth and in the forming of his convictions follow his best insight. This attitude led to a high degree of tolerance […] (AB‚ A9)
Die Mutter war mit dem Werk ihres Vaters bestens vertraut. Seit dessen Tod im Jahr 1893 arbeitete sie an seiner Biografie, die, obwohl weitgehend eine Kompilation aus dessen Schriften und Briefen, doch mit ihren knapp 700 Seiten eine beeindruckende intellektuelle Leistung darstellt.
For several years after my grandfather’s death, when I was a child, my mother worked on a book desribing his life and work. She often did her writing on the rear porch of our house or in the large garden, while my sister and I played around her. I liked to look at her when she was sitting there, fully absorbed in her memories and thoughts, often with a far-away look in her eyes, inaudibly moving her lips, and the turning to the paper, covering it with strange marks. To my question she explained to me that writing is like talking to friends; those who read it can see what the writer has thought. Since that time, to think and to write down one’s thoughts has always appeared to me as one of the most wonderful things to do. (AB‚ A3‑A4)
Friedrich Wilhelm Dörpfeld ist als Brücke zu Herbart und der deutschen empiristischen Tradition sowie als Quelle des Nonkognitivismus der vielleicht wichtigste, wenn auch erst jüngst in der Forschung thematisierte Einfluss auf Carnaps Philosophie.
Neben diesen wichtigen Identifikationsfiguren spielen aus der Familie Carnaps vorwiegend einige weitere Familienmitglieder des mütterlichen Zweiges eine Rolle. So etwa Christine von Rohden (Tante Tine, 1862–1946), die Schwester von Carnaps Mutter und auch an der Erziehung und Pflege von deren Kindern beteiligt; die Cousins Friedrich und Heinz von Rohden, Studienkollegen Carnaps in Jena und Freiburg; Rugard von Rohden, als Teilnehmer an den politischen Diskussionen der Jahre 1918 und 1919. Erwähnenswert ist auch die Cousine Hedwig von Rohden, von der zwar im Tagebuch nur einmal die Rede ist, deren von ihr mitbegründete Loheland-Schule für Carnap jedoch von einiger Bedeutung gewesen ist (siehe die Einleitung zu Band 2, Abschnitt 1.4).
Carnaps Kindheit und Jugend verteilt sich also auf drei Schauplätze: Ronsdorf, Barmen und Jena. Die frühe Kindheit bis zum Tod des Vaters im Jahr 1898 spielte sich in der repräsentativen Villa des Vaters In der Krim in Ronsdorf ab (Abb. ). Der Vater leitete als Organisator und vielleicht auch ein wenig Diktator Haushalt und Bandfabrik, die Mutter kümmerte sich um die Erziehung der Kinder, einschließlich des von ihr übernommenen Grundschulunterrichts. Von gelegentlichen Zusammenstößen mit dem liebevollen, aber autoritären Vater abgesehen, erlebte Carnap eine behütete Kindheit im Schoß einer wohlhabenden Fabrikantenfamilie.
Der Tod des Vaters im Jahr 1898 – danach übernahm die Vaterrolle „[n]ur die Mutter; kein Onkel oder so“ (TBA, 20. XII. 1954) – nötigte die Familie zur Übersiedlung nach Barmen (Abb. –). Die Ronsdorfer Villa wurde von dem dann die Fabrik leitenden Halbbruder Johannes Carnap übernommen. In Barmen musste sich die Familie neu einrichten, finanziell aber großzügig abgesichert durch das Vermögen sowohl der väterlichen als auch der mütterlichen Familie. Bald nach der Übersiedlung wechselte Carnap vom häuslichen Grundschulunterricht in das (heute nach Wilhelm Dörpfeld benannte) humanistische Gymnasium in Wuppertal-Elberfeld, wo er sich für Mathematik, aber auch für alte Sprachen interessierte:
Of the various fields of learning I loved mathematics most because I found the exact method and the clear concepts very attractive and above all I was impressed by the neat and unquestionable results which one could find by mere thinking. Among the languages I preferred Latin with its rational structure and fixed rules. Latin was the center of the school curriculum for nine years.
36 Greek (six years) I liked too, especially after I had at the age of fourteen spent some time in Greece […]. The modern languages, French (seven years) and English (two years) I liked less, perhaps because what matters in mastering them is skill in practical use rather than rational thinking. (AB‚ A16)
Viel mehr Auskunft über die Zeit am Gymnasium in Elberfeld gibt die Autobiografie leider nicht. Carnap begann in dieser Zeit Cello zu spielen (Abb ): Bis in die 1920er-Jahre übte er, wie aus dem Tagebuch ersichtlich, dieses Instrument und spielte gemeinsam mit Freunden und Verwandten Kammermusik, bis hin zu Bach- und Beethovensonaten. Ebenfalls in der Zeit in Barmen ist Carnaps Interesse an Esperanto erwacht.
At the age of about fourteen I found by chance a little pamphlet called ‚The World Language Esperanto‘. I was immediately fascinated by the regularity and ingenious construction of the language, and I learned it eagerly. (SCH‚ 69)
Im Frühling 1908 entstand Carnaps erstes erhaltenes Tagebuch: neun längere, über drei Monate verstreute Einträge, wie alle späteren Tagebücher Carnaps in Kurzschrift verfasst. Bemerkenswert ist die programmatische Eingangspassage:
[…] wenn ich jetzt manches denke, ohne es zu sagen, und vergesse es dann wieder, so kann ich mir später nie ein genaueres Bild über mich selbst in früheren Jahren machen. Wie wär’s, wenn ich so etwas aufschriebe.
(TB 14. II. 1908R)
Die folgenden Einträge im Tagebuch von 1908 ähneln stilistisch bereits in manchem den späteren Aufzeichnungen. Nicht über Gedanken und Weltanschauungen wird berichtet und reflektiert, sondern die Erlebnisse des Tages werden beschrieben, wobei der Anlass dieser frühen Aufzeichnungen das Schwärmen des Pubertierenden für ein von ihm offenbar nie angesprochenes Mädchen ist, dem er unter anderem auf dem Schulweg in der Barmer Bergbahn begegnet. Diese Rahmenhandlung wird ergänzt durch gelegentlich mit protestantischen Weisheiten gewürzte Berichte aus dem Schul‑, Freundes- und Familienleben sowie über Carnaps Esperantoleidenschaft.
Im Jahr 1909 übersiedelte die Familie Carnap in das von Onkel Wilhelm in Jena für Carnaps Mutter gebaute Haus, wo Carnap das letzte Jahr des Gymnasi
Am Ende der Gymnasialzeit reiste Carnap ein zweites Mal nach Griechenland, zu Wilhelm Dörpfeld (Abb. ). Die Reise, die er zum Teil gemeinsam mit dem Halberstadter Gymnasialprofessor Heinrich Rüter unternahm, ist im Tagebuch 2 stichwortartig dokumentiert (vgl. TB 24. III. 1910R).
Die Zeit vom Frühjahr 1910 bis zum August 1914 verbrachte Carnap hauptsächlich als Student in Jena und Freiburg (vgl. den Anhang, S. ). Er studierte Mathematik und Physik, hörte philosophische Vorlesungen, in Jena bei Rudolf Eucken, Herman Nohl und Bruno Bauch, in Freiburg bei Heinrich Rickert und Jonas Cohn. In Jena absolvierte Carnap außerdem mehrere Lehrveranstaltungen bei Gottlob Frege.
On the whole, I think I learned much more in the field of philosophy by reading and by private conversation than by attending lectures and seminars. (SCH‚ 4)
Aus den ersten beiden Semestern von Carnaps Studienzeit in Jena gibt es wenig Befunde, eigentlich nur die Listen der besuchten Lehrveranstaltungen und der gelesenen Bücher, kaum Korrespondenz, keine Tagebücher. Bereits in diesem ersten Jahr seines Studiums fand Carnap Anschluss an den in Jena vom Verleger Eugen Diederichs gegründeten lebensreformerischen Serakreis, mit Verbin
In Freiburg I belonged to a group called „Akademische Freischar“, which tried to develop new forms of individual and group life, in explicit contrast to the traditional way of life in the student corporations. On weekends we went hiking through the mountains of the Black Forest; in the winter time this was done on skis, the sport I loved most. In long evening discussions we tried to clarify our thoughts and valuations. Instead of following the traditional value standards, we strove to find our own ways of life. In social meetings and occasional festivals, music, folk-dances, and folks-songs were cultivated, and a new unconventional style of common meetings of boys and girls evolved. (AB‚ B29)
Es waren private Gründe, die Carnap dazu gebracht haben, von 1911 bis 1912 drei Semester in Freiburg zu verbringen. Sein Cousin Friedrich von Rohden studierte dort Medizin und Carnap konnte sich in dessen Wohnung einquartieren (Abb. ‚ ). Ein weiteres Motiv für Freiburg könnte Heinrich Rickert gewesen sein, „einer unserer bedeutendsten jetzigen Philosophen in Deutschland“ (TBT, 30. I. 1912). Eher gegen Rickert als Grund von Carnaps Freiburg-Aufenthalt spricht jedoch, dass die Aktivitäten in dieser Zeit auf alles andere als die Vorgänge in den Universitätshörsälen gerichtet waren.
Die Freiburger Episode war für Carnap also vor allem in sozialer Hinsicht wichtig. Die oben angesprochene (von der weit verbreiteten „Freistudentenschaft“ zu unterscheidende) „Akademische Freischar“ wurde von Carnap und seinem Cousin in Freiburg mitbegründet, zunächst als eine kleine Gruppe aus vier Personen.
In die Freiburger Zeit fällt auch eine Reise Carnaps nach Marokko (März bis Mai 1912) zu der dort ansässigen Familie des mit Carnap verschwägerten Alfred Mannesmann (Abb. ). Die Reise, bei der auch andere Mitglieder der Familie Carnap dazustießen, unternahm Carnap großteils gemeinsam mit Otto Garthe (Abb. ), späterer Lehrer an der Freien Schulgemeinde Wickersdorf, mit dem ihn in Freiburg eine intensive Freundschaft verband (vgl. TBA 27. IV., 4. V. 1953, 15. I., 18. VI., 13. XII. 1954, 1. IV. 1954). TB 4 und die lebendigen Berichte in den entsprechenden Passagen der Tilly-Briefe geben über diese Reise Auskunft.
Das Studium hat Carnap in Jena intensiviert. Hatte er in Freiburg nur jeweils fünf Lehrveranstaltungen pro Semester belegt, waren es in Jena im Sommersemester 1913 elf, im folgenden Wintersemester gar 13, darunter vor allem Experimentalphysik, aber auch theoretische Physik und Mathematik, die Lehrveranstaltungen bei Frege (Carnap musste gelegentlich Freunde hinzuziehen, damit
Zurück in Jena gründete Carnap im November 1912 gemeinsam mit anderen Mitgliedern des Serakreises die „Akademische Vereinigung“ Jena, ihrerseits an der gleichnamigen in Marburg von Wolfgang Kroug und Fritz von Baußnern gegründeten Gruppe orientiert (der auch Carnaps Vettern Gotthold und Heinz von Rohden angehörten). Die AV wiederum mündete nach dem Treffen auf dem Hohen Meißner (siehe unten) in eine dem Freiburger Vorbild entsprechende „Freischar“ (TBT 23. XII. 1912R).
Die studentischen Gruppen, denen Carnap angehörte, waren, anders als die Korporationen, offen für alle: Frauen, Juden, Katholiken und Ausländer waren willkommen.
The latter was a very impressive experience. Influenced by Scandinavian customs, there were songs, dances, and plays. Diederichs read the Hymn to the Sun by St. Francis of Assis, after sundown the big fire was lighted, encircled by the large chain of singing boys and girls, and when the fire had burned down there came the jumping of the couples through the flames. Finally, when the large crowd of guests had left, our own circle remained lying around the glowing embers, listening to a song or talking softly, until we fell asleep in the quiet night under the starry sky. (AB‚ B30)
Im Sommer 1913 unternahm Carnap eine Reise nach Schweden, die er gemeinsam mit Otto Garthe geplant, dann aber alleine absolviert hat. Bald nach der Rückkehr fand am 11. und 12. X. 1913 der Erste Freideutsche Jugendtag auf dem Hohen Meißner statt (Abb. –).
This meeting was arranged in opposition to the patriotic centenary celebration of the “War of Liberation” of 1813, which was staged in Leipzig with great military pomp in presence of the Kaiser. But more important for us than this protest was the positive idea. For the first time the unity of the great German Youth Movement became visible, which, in spite of all the differences between the groups, was inspired by a common aim. The aim was to find a way
42 of life which was genuine, sincere, and honest, in contrast to the fakes and frauds of traditional bourgeois life; a life, guided by the own conscience and the own standards of responsibility and not by the obsolete norms of tradition. (AB‚ B31‑B32)
Das Treffen am Hohen Meißner war für Carnap und seine Generation ein prägendes Erlebnis. Für Carnap, aber auch den gleichaltrigen Hans Reichenbach (durch Zufall lernten sich die beiden späteren Schlüsselfiguren des Logischen Empirismus erst 1922 näher kennen) waren die Lehren des Pädagogen Gustav Wyneken – zentrale Persönlichkeit des Meißnertreffens – bedeutsam, der die Jugend als Zeit der „Menschwerdung“ sah, in der die in der Kindheit sozial angeeigneten Werte überprüft und erneuert werden, im Sinne einer „Erweiterung jenes objektiven Geistesbesitzes“.
Das ethische Ideal ist der Mensch, der in freier Selbstbestimmung sich seine Werte schafft und als Glied der sozialen Gemeinschaft diese Autonomie für alle und von allen Gliedern fordert.
56 Reichenbach, „Die freistudentische Idee“, 26, im Original kursiv.
Das heißt, es geht nicht um einen Kompromiss oder Konsens in Wertfragen, sondern darum, dass jede und jeder seine Werte selbst wählt und diese Freiheit von allen anderen ebenfalls fordert, respektive die von den anderen frei gewählten Werte dann auch so akzeptiert, wie sie sind. Eine derart anarchische Haltung war nur in dem besonderen Klima der Vorkriegszeit möglich (was tun, wenn meine Mitmenschen Forderungen stellen, die mir zum Schaden gereichen?). Dennoch passte diese Sichtweise gut mit der Wertphilosophie von Carnaps Großvater zusammen: Nach 1918 konnte der reife Nonkognitivismus Carnaps aus dieser Kombination entstehen.
Die Jahre in Jena bis zum Kriegsausbruch hat Carnap selbst als prägend empfunden (auch wenn die Identifikation hier in der dritten Person erfolgt):
[…] the spirit that lived in this movement, which was like a religion without dogmas, remained a precious inheritance for everyone who had the good
43 luck to take an active part in it. What remained was more than a mere reminiscence of an enjoyable time; it was rather an indestructible living strength which would forever influcence one’s reactions to all practical problems of life. (AB‚ B34‑B35)
Im Tagebuch sind die formativen Jahre von 1912 bis 1914 nur skizzenhaft dokumentiert. Carnaps Leben in dieser Zeit war auf das gesellige Agieren und das Studium fokussiert. Er betätigte sich als Leitfigur in AV und Freischar, schritt bei den Umzügen des Serakreises und der Freischar als Erster voran (Abb. ), organisierte und interagierte intensiv. Dagegen lief das erotische Leben auf Sparflamme. Die Braut war in Mexiko und wurde Carnap zusehends fremd. Die Begegnungen mit Freundinnen aus der Jugendbewegung wie Dodo Czapski, Elisabeth Kaßner oder Margret Arends (Abb. ) blieben, dem Zeitgeist entsprechend, keusch. Auch war Carnap, anders als Reichenbach, speziell in der Zeit von 1912 bis 1914 intellektuell eher passiv. Von Vorlesungsmitschriften abgesehen sind aus dieser Zeit keine intellektuellen Produkte Carnaps erhalten, weder literarischer noch wissenschaftlicher Art, sieht man von zwei anspruchslosen Berichten über jugendbewegte Aktivitäten ab.
Die Kriegstagebücher Carnaps (TB 10 bis TB 19), in denen seine Erfahrungen im unmittelbaren Kriegsgeschehen und der darauf abzielenden Ausbildung geschildert sind (August 1914-August 1917), bilden das Herzstück dieses Bandes und
Der Krieg kam Carnap zunächst durchaus gelegen‚
Bei der seltsamen und undurchschaubaren politischen Lage jetzt denkt man hier noch immer an die Möglichkeit eines Krieges, wenn man ihn auch nicht gerade für wahrscheinlich hält. Wenn ich dem ganzen Land auch nicht den Schaden wünsche, den es durch einen Krieg in jedem Falle auf materiellem und kulturellem Gebiet haben würde‚ – mir persönlich wär’s schon recht, wenn’s losginge. Ich habe manchmal so wahnsinnige Sehnsucht, aus dem stillen Sitzen rauszukommen. Es kommt mir auch manchmal so vor, als würde ich es mal erleben können, für eine Zeit lang auf Abenteuer in die weite Welt zu ziehen, und mal alle liebgewohnten alten Fäden heimlich loszuknüpfen und in Europa zurückzulassen. (TBT, 30. XI. 1912)
Diese Haltung muss gewichtend einbezogen werden, wenn man folgende Passage aus Carnaps Autobiografie liest:
The outbreak of the war in 1914 was for me an incomprehensible catastrophe. Military service was contrary to my whole attitude, but I accepted it now as a duty, believed to be necessary in order to save the fatherland. Before the war, I, like most of my friends, had been uninterested and ignorant in political matters. […] the general of our political thinking was pacifist, anti-militarist, anti-monarchist, perhaps also socialist. But we did not think much about the problem of how to implement these ideals by practical action. The war suddenly destroyed our illusion that everything was already on the right path of continuous progress. (SCH‚ 9)
Nicht alles was Carnap hier sagt, ist falsch. Die eher indifferente Einstellung zu politischen Fragen wird aus den Tagebüchern offensichtlich. Aber Carnap unterstützte vor dem Krieg nicht die Sozialdemokratie (damals die größte Partei im Reichstag), sondern die Liberale Partei. Carnap trat als Kriegsfreiwilliger an die Front und engagiert sich, sosehr er nie den nationalistischen Tonfall der ‚Ideen von 1914‘ aufgegriffen hat, mit Diensteifer im Krieg und entwickelt eine offen pazifistische Haltung erst spät, gegen Kriegsende. Seine Sicht des Krieges als ‚unfassbare Katastrophe‘ ist erst nach 1918 entstanden und hat sich wohl überhaupt erst im späten Rückblick des dann Siebzigjährigen so unzweideutig dargestellt. 1914 sah Carnap den Krieg eher als eine willkommene Möglichkeit der Fortsetzung jugendbewegten Tatmenschentums mit anderen Mitteln. Auch wenn er von manchen Aspekten der nationalistischen Propaganda abgestoßen gewesen sein mag, so kennzeichnet diese Zeit in Carnaps Biografie eine zumindest ambivalente, stellenweise affirmative Aufnahme von völkischem Denken. So liest und diskutiert Carnap etwa bis 1917 zahlreiche Schriften von Houston Stuart Chamberlain, er nennt noch im Mai 1917 Geza von Hoffmanns Krieg und Rassenhygiene eine „sehr brauchbare kurze Zusammenfassung der Zustände und Bekämpfungsmittel“ (LL ), sympathisiert also, mit Aspekten der Eugenik.
Die Kriegserfahrungen führen bei Carnap nicht wie bei vielen anderen zu rascher Ernüchterung, trotz der erschreckenden Todesnachrichten von dem Freund aus der Jugendbewegung Karl Brügmann (7. I. 1915) und dem Halbbruder Josua Carnap (27. XII. 1914, vgl. Abb. ). Diese katastrophalen Ereignisse werden im Tagebuch und in der Korrespondenz scheinbar emotionslos registriert. Nach der teilweise gemeinsam mit Flitner absolvierten Ausbildung in Naumburg, München und Garmisch gelangt Carnap im Februar 1915 an die Front bei Pohar
Zurück an die Front – mit neuem Elan, weil zum Leutnant einer MG-Kompanie befördert (Abb. ), und mit Privilegien wie einem ‚Burschen‘ und einem eigenen Pferd ausgestattet – gelangt Carnap erst Ende April 1916, diesmal nach Frankreich. Bis zum endgültigen Abzug von der Front im Sommer 1917 verbringt er große Teile seiner Zeit an verschiedenen Schauplätzen der Westfront im Stellungskrieg und erlebt den Gaskrieg, verlustreiche Kämpfe in der Gegend von Douaumont im Oktober 1916 und die ‚Schlacht am Winterberg‘ Anfang Mai 1917, bei der er eine (offenbar leichte) Verwundung am Kopf davonträgt.
Die Erlebnisse zwischen April 1916 und Sommer 1917 führten bei Carnap zu einem Kriegstrauma, das in den 1950er-Jahren ein Thema seiner Psychoanalyse sein wird (TBA 13. II., 15. V. u. 7. VII. 1953, 25. XI. u. 10. XII. 1954). Das Traumatische des Erlebten wird jedoch im Tonfall des Tagebuchs kaum sichtbar. Im Gegenteil erscheinen die Schilderungen, etwa in dem nachträglich im Krankenrevier verfassten Bericht von den Kämpfen am Winterberg (TB 18) martialisch, teils zynisch. Merkwürdig isoliert dagegen die Bemerkung am 18. XI. 1916: „die Tage von ‚Douaumont‘ haben tiefe Spuren zurückgelassen.“ Von dieser Andeutung abgesehen ist im Tagebuch kaum etwas von den Ängsten, den Problemen
Wenige Wochen vor Carnaps Zug an die Westfront, Anfang April 1916, kehrt Elisabeth Schöndube aus Mexiko zurück. Ein Treffen vor der Reise an die Front misslingt. Die Verlobten treffen einander daher erst Ende August 1916 in Jena, dreieinhalb Jahre nach der letzten Begegnung vor Elisabeths Abreise nach Mexiko. Die Begegnung im Kreis von Carnaps Familie wird von ihm in ungewöhnlicher tabellarischer Form darstellt (TB 25. VIII. – 2. IX. 1916). In tagelangen Gesprächen und Spaziergängen finden die Verlobten nicht zueinander und beschließen am 31. VIII. 1916, die Verlobung zu lösen. Nur das Insistieren von Carnaps Mutter – sein „Tod wäre nicht so schlimm“ wie das Lösen der Verlobung – lässt sie den Entschluss revidieren. Die nächsten Treffen finden erst wieder im März und Juni 1917 in Wiesneck statt, bald darauf, am 27. VIII., ist die Hochzeit. Warum die Verlobten zunächst diese Beziehung auflösen wollten, wird aus dem Tagebuch nicht klar. Sicher ist, dass sich die Verlobten in der langen Phase der Trennung entfremdet hatten. Die zwei Jahre des Studiums in Jena, im Serakreis und in der Freischar, hatte Carnap ohne die Braut verbracht; und auch in der Zeit der Heimaturlaube während des Krieges hatte er für ihn wichtige Kontakte gepflegt, zu den Familien Czapski, Arends und Räuber. Carnaps Beziehungen zu Helene Czapski und Margret Arends könnten mehr als bloß freundschaftlich gewesen sein. Seine erotische Phantasie ging um 1916 vielleicht in eine andere als die von Verlobter und Mutter anvisierte Richtung (Abb. ). Insgesamt war Carnaps erste Ehe also eine dem damaligen Zeitgeist entsprechend von den Eltern, vor allem der Mutter Carnaps, forcierte Verbindung. Die unschuldige Verbrüderungsepisode zweier unreifer Menschen (TB 31. VII. 1912R) zog nicht ein tieferes Kennenlernen nach sich, sondern erst jahrelange Entfremdung und dann eine im protestantischen Reagenzglas gestiftete Ehe: überkommene Moralvorstellungen statt freier Entscheidung.
Carnaps soziales Verhalten im militärischen Kontext war, soweit es sich aus den Tagebüchern rekonstruieren lässt, distanziert kameradschaftlich. Er war hilfsbereit, engagiert und ehrgeizig, stolz auf die Verleihung des Eisernen Kreuzes (TB 24. IX. 1916R). Über die gesamte Kriegszeit blieb Carnap enthaltsam, und zwar sowohl hinsichtlich Alkohol und Nikotin als auch in sexueller Hinsicht. Es liegt nahe, dass er im Zusammenhang damit von seinen Kriegskameraden mitunter als Außenseiter wahrgenommen wurde. Andererseits beteiligte sich Carnap durchaus an diversen harmloseren Scherzen und fand das eine oder andere Mal auch zu Gesprächen, die über den engen Horizont des Barackengeplänkels hinausgingen, so etwa der Austausch mit dem Soldaten Mitteldorpf am 18. III. 1915,
Ich bin kein Propagandist (siehe Abstinenz); glaube auch, der Allgemeinheit zu dienen (ich denke für mich ‚dem Objektiven‘), indem ich meiner Befähigung entsprechend nicht Menschenbeeinflussung, sondern wissenschaftliche Arbeit leiste. (TB 18. III. 1915R)
In mancher Hinsicht ist Carnaps Lebensweise in dieser Zeit nicht unähnlich derjenigen des ebenfalls durch ein umfangreiches Kriegstagebuch hervorgetretenen, fast gleichaltrigen Ernst Jünger.
Der bereits erwähnte Vortrag „Religion und Kirche“ von 1911 ist das Produkt akzidenteller geistiger Aktivität. Systematischer begann Carnap seine Gedanken erst ab dem Frühjahr 1916 zu ordnen, zunächst motiviert durch eine offenbar in der Familie Carnaps diskutierte völkische Propagandaschrift des Geistlichen Paul Le Seur.
[I]ch stehe nur als natürliches Wesen in dem Kausalnexus. Als ethisches Wesen bin ich selbst dagegen frei entscheidendes Subjekt meiner Handlungen. (18)
Carnaps Lektüre in dieser Zeit blieb nach wie vor eher auf Militaria und gängige Kriegsliteratur beschränkt sowie auf zeitgenössische Prosa und Klassiker wie Goethe oder Shakespeare. Philosophisches (in seinem späteren Sinn) hat Carnap,
Die Lektüre im Sommer 1916 war ausgelöst durch Diskussionen Carnaps mit Wilhelm Flitner und Erich Gabert über „Reduktion in der Physik“, die ihren Ausgangspunkt bei Goethes Farbenlehre nahmen.
Da […] die Physik die Aufgabe hat, die Naturvorgänge möglichst einfach zu beschreiben, so ist es zweifellos für sie ein großer Fortschritt, wenn es ihr z.B. gelungen ist, die akustischen Phänomene als reine Bewegungsvorgänge darzustellen.
67 Carnap an Flitner, 8. VII. 1916 (RC 115‑03‑14).
Eine Reduktion aller Phänomene auf die einfachere Sprache der Physik scheint Carnap also wissenschaftlich ebenso möglich wie wünschenswert. Bis zu der von ihm schließlich ab 1930 eingenommenen physikalistischen Weltsicht war der Weg trotzdem noch weit. Auch ist die Debatte über Physik im Sommer 1916 nur eine Episode – Carnap endigt mit eher kritischen Bemerkungen über philosophierende Physiker („selbst so ein tüchtiger Kopf wie Mach erregt hier oft mein Kopfschütteln“), empfiehlt aber die Lektüre von Poincaré, Natorp oder
Even during the war, my scientific and philosophical interests were not entirely neglected. During a quiet period at the Western Front in 1917 I read many books in various fields […] At that time I became acquainted with Einstein’s theory of relativity, and was strongly impressed and enthusiastic about the magnificent simplicity and great explanatory power of the basic principles. (SCH‚ 10)
Diese Interessen verfolgte Carnap in Berlin im Jahr 1918 weiter und schrieb dort Rundbriefe zur Relativitätstheorie an seine Freunde.
In den Vordergrund drängte sich nach dieser naturwissenschaftlichen Episode im Sommer 1916 wieder die zusehends kritisch empfundene Lebenssituation. Nach dem Kriegstod von Heinz von Rohden im Juni 1916 schreibt Carnap an Flitner: „Keinem Kameraden hier hab ich auch nur erzählen können, daß ein Vetter von mir gefallen ist. […] es fehlt, will mir scheinen, bei denen so vollständig der Begriff des wertvollen Menschen.“
Was wird die Aufgabe unseres engeren Kreises sein, und was innerhalb dieser meine eigene? Bei beiden Fragen bedrückt mich oft die Unabgeschlossenheit meines Studiums. […] Diese Gedanken bedrücken mich oft so sehr, daß ich sie verjagen muß und zur gegenwärtigen, doch so wenig befriedigenden
51 Wirklichkeit zurückkehre, oder auch zu Gegenständen (durch Bücher), an die ich rein sachlich, ohne Beziehung auf meine Gegenwart und Zukunft denken kann. – Früher hat mir das wenig Kummer gemacht; man sagte sich: wer weiß, ob man den Frieden überhaupt erlebt […]. Jetzt ist das anders; alles spricht vom Frieden […] Du verstehst vielleicht, daß ich manchmal […] mit gemischten Gefühlen an den „Ausbruch des Friedens“ denke?71 Carnap an Flitner, 13. IV. 1917 (RC 081‑48‑02).
Das für seine Jugendzeit charakteristische Tatmenschentum Carnaps war zu Ende. Resultat der Erkenntnisse – trübe Gegenwart und ungewisse Zukunft, vier Jahre in einem sinnlosen Krieg verloren – war eine nachhaltige Politisierung.
Am 27. VIII. 1917 findet die Hochzeit Carnaps mit Elisabeth Schöndube statt (Abb. ). Nur einen Tag zuvor ist Carnap von der Westfront nach Hause gekommen. An diesem Tag hört er auf, das umfangreich beschreibende Kriegstagebuch weiter zu führen. In den folgenden Monaten der jungen Ehe artikuliert er sich nicht im Tagebuch. Am Ende dieser Phase wohnen die Carnaps in Berlin (Carnap zumindest in der ersten Zeit noch nachtsüber in der Kaserne). Statt der von Carnap angestrebten Ausbildung zum Flieger – er hatte sich bereits am 26. VII. 1916 zur Fliegertruppe gemeldet, war schließlich im Juli 1917, nach dem dritten Gesuch, als tauglich erklärt worden (25. VII.) und hatte im August tatsächlich die Fliegerausbildung in Chimay begonnen (ab 12. VIII.) – war Carnap nun in Berlin, bei der Tafunk (Technische Abteilung der Funkertruppen), gelandet, die von seinem Jenaer Physik-Professor Max Wien geleitet wurde (Abb. ). Warum Carnap nun doch Wiens Angebot gefolgt war, in diese Truppe im Hinterland einzutreten, das er noch im Dezember 1916, eben wegen der Hoffnung auf die Fliegerei, ausgeschlagen hatte (vgl. TB 14., 16., 22. XII.), geht nicht aus dem Tagebuch hervor. Die Aussichten auf Familienleben mögen ebenso eine Rolle gespielt haben wie eine fortschreitende Desillusionierung in Sachen der Sinnhaftigkeit des Krieges. Jedenfalls hat Carnap den Entschluss nicht bereut. Statt der Aussicht auf Heldentum (und -tod) bot sich in der Metropole Berlin ein reiches intellektuelles Leben. Neben dem sporadischen Dienst in der Funkabteilung des Jenaer Professors – seine Aufgaben waren das Testen von Funkapparaten sowie die Betreuung der Bibliothek der Abteilung –
Wir glauben nicht mehr, daß es nur auf den Erfolg unserer Seite ankommt. Wir haben erlebt, daß die Schicksale der Kulturvölker zu sehr untereinander verknüpft sind, als daß nicht die Zerstörung des einen alle anderen schädigen würde. Unser Ziel ist deshalb heute (u. das verstehen wir unter den Früchten der Opfer), daß ein Zusammenleben der Völker zustandekomme, das jedem sein Recht und seine Entwicklungsmöglichkeit gibt u. dadurch, zugleich mit der allgem. Erkenntnis der genannten Verknüpfung (der „Solidarität“ der Völker), dahin wirkt, die Möglichkeit (noch nicht die unbedingte Gewißheit) eines dauernden Friedens zu geben.
73 Rudolf an Anna Carnap, 2. III. 1918 (RC 025‑09‑51).
Carnaps politisches Engagement entwickelte sich schrittweise, von einer noch quasi religiösen Ebene im Jahr 1917 – Carnap und Flitner planten die Gründung eines eher weltlich-intellektuell ausgerichteten Protestantenklosters mit sozialen und pädagogischen Zielsetzungen (TB 18. II. 1917R)
Die erste Hälfte des Jahres 1918 nützte Carnap zur Versendung „politischer Rundbriefe“‚ „nur im kleineren Kreis (40 Leute, nur persönl. Bekannte)“.
[…], die mir die wichtigsten zu sein scheinen, weil in ihnen sich die Kräfte zeigen, die aus dem chaotischen Atomismus der Welt einen Kosmos gestalten werden, die in der Völkersoziologie eine organisch geordnete Gemeinschaft an Stelle der Anarchie setzen werden. In der unbedingten Überzeugung, dass diese Kräfte in der Menschheit stärker sind als die divergierenden Gegenkräfte […], sehe ich das Geschehen der Gegenwart an und sehe darin die Geburtswehen einer neuen Zeit. (RC 081‑14‑07)
Das Hauptproblem war zunächst, auf eine Entscheidung zum Frieden zu drängen. „So steht heute die Front: die friedensgewillten Völker aller Länder gegen die Kriegsparteien.“ (ebd.) Carnap strebte mit den Rundbriefen an, die Personen in seinem Umfeld für die Gruppe der Friedensgewillten zu gewinnen, mit den Mitteln der Information (internationale Zeitungen) und des Arguments (kriegskriti
Es bot sich jedoch eine neue Gelegenheit zur Diskussion, in der Gestalt einer Zeitschrift, die der spätere SED-Funktionär Karl Bittel‚ ebenfalls unter dem Titel Politische Rundbriefe, herausgab.
In den beiden Texten vom Oktober 1918 drängt Carnap weiter auf einen umfassenden Konsens in Wertfragen:
Mir wenigstens scheint es so, als seien wir uns nicht nur einig in dem Glauben an die objektive Geltung auch der politischen Werturteile und Forderungen, sondern auch in weitem Umfang einig über den Inhalt der Forderungen. Soweit das noch nicht der Fall ist, haben wir die wichtige und dringende Aufgabe, durch Aussprache und besonders auch durch diese Rundbriefe auf Uebereinstimmung in den politischen Grundsätzen hinzuarbeiten.
81 Carnap, „Deutschlands Niederlage“‚ 5n1.
Die „objektive Geltung“ ist hier im Sinne von „Übereinkunft aller Menschen“ gemeint. Der Unterschied zu den Rundbriefen des Frühjahrs 1918 liegt in einer Verschiebung des Fokus von der privaten Ebene der Ablehnung des Krieges als einer Lebenseinstellung zur im engeren Sinn politischen Ebene. Carnap räumt die Kriegsschuld der Deutschen ein, macht sich aber für einen Friedensschluss stark, der auf „schwere Bedingungen“ und „wirtschaftliche Bedrückung auf Jahre hinaus“ verzichtet. Statt dieses „Ententefriedens“ verteidigt Carnap den „Wilsonfrieden“ auf der Grundlage des Vierzehn-Punkte-Programms des US-amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson.
Diese Ideen werden auch im November 1918 nicht aus den Augen verloren. Die internationale Perspektive der Diskussionen der Monate davor – Politik als Völkerverständigung – wird aber, in Kriegsende und Revolution, von der nationalen überlagert: Politik wird als eine Angelegenheit der eigenen Gesellschaft erkannt. Welche Verfassung – demokratisch oder autokratisch? – sollte sich diese geben? Was waren die primären Ziele, in wirtschaftlicher Hinsicht und in Fragen von Unterricht und Ausbildung? Hier erwies sich mehr noch als in der zuvor diskutierten internationalen Frage – eine Verständigung auf den Weltfrieden war zwar zu diesem Zeitpunkt nicht möglich, aber doch denkbar – jede Vorstellung, die Menschheit in einem umfassenden Konsens zu vereinen, als illusorisch. Es war klar, dass man weite Teile des Bürgertums nicht für die in Carnaps freideutscher Berliner Gruppe immer unzweideutiger geteilten Ideale der Sozialdemokratie würde gewinnen können. Stattdessen wollte man im eigenen Umfeld der Freideutschen Jugend, deren schon vor 1914 dem Bürgertum gegenüber kritische Haltung weiter denkend, eine Umkehr zum Sozialismus propagieren. „Die Zeit des verschwommenen Sowohl-als-auch“ war vorüber.
Carnap und seine Berliner Freunde gründeten „am Revolutionstag, dem 10. November 1918, eine ‚Demokratisch-sozialistische Gruppe der Freideutschen Groß-Berlins‘“‚
Die Strategie der Berliner Freideutschen, ihre ganze jugendbewegte Gruppe ins Feld der Sozialdemokratie zu holen, ging nicht auf. Max Bondy brandmarkte den „Aufruf“ in der folgenden Nummer der Freideutschen Jugend als ein „Doku
Welche Haltung Carnap in der Jenaer Debatte eingenommen hat, bleibt unklar. Er verzichtete in den folgenden Jahren auf die Unterzeichnung politischer Manifeste und Aufrufe. Seine politischen Überzeugungen blieben aber zeitlebens, dem „Aufruf“ von 1919 entsprechend, sozialistisch, volksbildnerisch, demokratisch, mit einer gewissen Bereitschaft, radikalere Spielarten des Marxismus zu unterstützen. Dennoch hat Carnap, wie viele andere seiner Zeitgenossen, in den Entwicklungen nach der November-Revolution den Entschluss gefasst, seine politischen Überzeugungen künftig nur noch intern sichtbar zu machen. Einmal in der Debatte mit Gleichgesinnten: Andersdenkenden konnte man, so die Überzeugung des späteren Carnap, nur durch „Erziehung“ beikommen, weniger durch eine Argumentation auf Augenhöhe;
Im Dezember 1918 übersiedelten die Carnaps nach Jena. Dort beschloss Carnap, sich vor einer eventuellen Promotion auf das Staatsexamen zum Lehramt an Höheren Schulen vorzubereiten (in Physik und Philosophie), das er im Frühjahr 1920 absolvierte. Bis 1920 erwog Carnap auch eine berufliche Laufbahn als Leh
Die hier im Auszug erfasste Sammlung von Fotografien im Nachlass von Carnap (vgl. den editorischen Anhang und ) ergeben ein durchaus reichhaltiges Bild der ersten drei Lebensjahrzehnte des Sammlers. Dokumentarisch wertvoll sind vor allem die klassischen Szenen aus der Jugendbewegung unter Beteiligung Carnaps: der Aufbruch zur Sonnwendfeier mit Eugen Diederichs (Abb. ), das Werkbundfest bei Naumburg (Abb. ), der Zug der Jenaer Freischar, mit Carnap an der Spitze (Abb. ), das Treffen auf dem Hohen Meißner (Abb. ), das Szenenbild aus „Eulenspiegels Heimkehr“ von Hans Rothe (Abb. ).
Im Zentrum der Sammlung Carnaps stehen, v. a. in der Anfangsphase, aus Gründen der Fototechnik und des Zeitgeistes inszenierte Portraits von Carnap und Personen aus der Familie und dem Freundeskreis bzw. Gebrauchsfotografien, die dennoch häufig durch ihren dokumentarischen Wert bestechen. Die Portraits Carnaps (besonders Abb. , , ) zeigen eine stets ernst (in die Kamera) blickende Person; ein junger Mensch mit vollen Lippen; ein bemerkenswert kindliches Erscheinungsbild, noch zu Kriegsbeginn (Carnap war immerhin 24 Jahre alt); auf allen Fotos (anders als ab 1920) ohne Brille und bis 1915 bartlos, dann (bis 1923) mit Schnurrbart, nebst einer vollbärtigen Episode im Jahr 1919 (Abb. ). Komplexere Inszenierungen stellen die Aufnahmen um das Jahr 1908 dar, also aus der Zeit, aus der die ersten Tagebuchaufzeichnungen stammen. Einmal die Familie im Garten zur Pyramide aufgebaut, Carnap an der Spitze, die Mutter als Matriarchin an der Basis (Abb. ); dann mit Cello im Garten, neben dem geigespielenden Vetter Heinz von Rohden (Abb. ), auch hier mit dem ernsten Blick in die Kamera. Im selben Jahr auf dem Balkon des Hauses in Barmen, ein ungewohnter Blick, seitlich in die Kamera, fast verschmitzt, mit einem leisen Lächeln, einschließlich dandyhaftem Outfit als Buchmensch (Abb. ). Die dokumentarischen Fotografien zeigen Artefakte, vor allem Wohnhäuser: von der vom Vater in gotischer Strenge erbauten Ronsdorfer Fabrikantenvilla (Abb. ) über das neubarocke Anwesen in Barmen (Abb. ) zum neoklassizistischen Bauwerk, das Wilhelm Dörpfeld für die Schwester in Jena geschaffen hat (Abb. ): Symbole der Verdichtung des bürgerlichen Wohlstands, aber auch der intellektuellen Verfeinerung.
Die Fotografien enthalten wertvolle Schnappschüsse und decisive moments. So das einzige erhaltene Bild von Carnap mit Mutter und Schwester, das spontan und komplex auf den Betrachter wirkt: Familienaufstellung im Garten mit Pavillon im Hintergrund (Abb. ); die stimmungsvollen Fotografien von Carnap und Friedrich von Rohden in deren Freiburger Wohnung (Abb. , ); die stilllebenhafte Szene einer Wanderung mit zwei Freunden: offenbar nicht Inszenierung, sondern frappierende Zufallskomposition (Abb. ); das Freiburger Freischargrüppchen um die zeitweilig ineinander verliebten Carnap und Lotte Ehrenberg (Abb. ); die spitzbübische Szene „beim Rothof“ mit Kurt und Wilhelm Flitner (Abb. ); Margret Arends fröhliche Ankunft beim Treffen auf dem Hohen Meißner (Abb. ); oder das Bild Carnaps mit Strickjacke und Vollbart, im Kreis der jungen Familie: ein seltener Moment der Intimität (Abb. ).