🕮Rudi CarnapaStempelaufdruck rechts oben auf der Seite.
Tagebuch von 1908🕮
II / 1908OBarmen / Wuppertal Heute Abend will ich endlich einmal meinen Vorsatz ausführen, ein Tagebuch zu schreiben. Vielleicht etwas anders, als es andere Leute tun. Ich bin ja überhaupt nicht ganz so wie alle anderen. Glücklicherweise, will ich sagen. Denn: Eine Dame brachte einmal dem GroßvaterPDörpfeld, Friedrich Wilhelm, 1824-1893, dt. Pädagoge, Vater von Anna Carnap ein Stück Stein von PestalozzisPPestalozzi, Johann Heinrich, 1746-1827, schweiz. Pädagoge GrabLPestalozzis Grab mit, auf dem nach seinem Wunsche ein eckiger Granitblock liegt.1Das Grabmal des Pädagogen und Sozialreformers Johann Heinrich Pestalozzi befindet sich in Birr in der Schweiz. „Sie sind auch solch ein Stein mit spitzen Ecken und Kanten, schrieb sie dabei, sorgen Sie, dass sie nicht abgeschliffen werden.“ Ich will auch dafür sorgen.
Der Vorsatz, ein Tagebuch zu schreiben, in dem Sinne, wie ich’s jetzt meine, mag wohl schon ein Jahr oder noch älter sein. Auch in letzter Zeit habe ich wiederholt gelesen, dass es äußerst nützlich und angenehm ist, wenn man in späteren Zeiten sehen kann, was und wie man früher gedacht hat. Deshalb sollen bei mir die Erlebnisse in den Hintergrund treten. Ich möchte gern später ein skizzenhaftes Bild von meinem Gedankenleben, besonders der Entwicklung, den Fortschritten in meinem geistigen Leben haben. Später sollen mich diese Zeilen daran erinnern, was ich für eine Weltanschauung, was für eine Anschauung über manches Philosophische, was mir jetzt oder schon früher aufgestiegen ist, und noch über vieles andere ich gehabt habe, und wie sich alles das im Laufe der Zeit weiterentwickelt hat. Ich habe schon vor Jahren manchmal bei kleinen Kindern beobachtet, dass sie oft allerlei denken und meinen und überlegen und philosophieren, wovon sie nichts oder nur wenig oder nur ein schattenhaftes Spiegelbild in ihren Worten dartun. Woher habe ich dann gewusst, was sie dachten. Ich weiß es nicht mehr genau, oft fielen mir meine Gedanken ein, die ich in im Kindesalter in meinem Köpfchen gedreht hatte und fast alle mit nur mit wenigen Ausnahmen wieder vergessen habe. Da dachte ich, wenn ich jetzt manches denke, ohne es zu sagen, und vergesse es dann wieder, so kann ich mir später nie ein genaueres Bild über mich selbst in früheren Jahren machen. Wie wär’s, wenn ich so etwas aufschriebe. Damals dachte ich auch, das könnte dann vielleicht von 🕮 Wert sein für die Pädagogik, wenn ich dann sehe, wie ich in jungen Jahren gedacht habe. 64🕮
Ich glaube, ich habe sie zum ersten Mal auf dem Eis gesehen. Weiße Kappe in der Form der Matrosenkappen. Dann einige Male im BergbahnbahnhofLBarmen!Bergbahnbahnhof. Da kam sie runter, um in die Mittelbarmer TöchterschuleIMittelbarmer Töchterschule zu gehen. Blauer Hut. Schwarzes Haar. Vielleicht 14 Jahre alt. Einmal als ich von der SchuleIWilhelm-Dörpfeld-Gymnasium2Carnap besuchte das heutige Wilhelm-Dörpfeld-Gymnasium in Wuppertal-Elberfeld. zur BergbahnLBarmen!Bergbahn kam, war sie hinter mir. Ich ging langsamer. Sie überholte mich in Eile und eilte durch die BergbahnLBergbahn hinauf. Ich beschleunigte ein wenig meinen Schritt. Oben war sie vor FlöhringsLBarmen!Flöhrings.3Vermutlich ein Papierwarengeschäft. Ich dachte, sie wollte hinein und ging und kaufte mir eine Kladde.4Landsch. für Schmierheft, hier wohl Notizbuch. Aber sie war wohl schon drin gewesen. Sie lief sogleich herunter. Vorher traf sie da auf der GewerbeschulstraßeLBarmen!Gewerbeschulstraße einen ganz kleinen Jungen, zu dem sie sich so liebevoll und nett herabbückte. Es ist doch unglaublich, dass ich mich innerlich ein bisschen von ihr gepackt worden bin, obwohl ich noch kein Wort mit ihr gewechselt habe. Ich weiß nicht einmal, wie sie heißt. Ich dachte früher immer, noch gar nicht so lange her, ich wäre solch ein steifer Mathematiker und das Gefühlsleben wäre bei mir auf ein Minimum reduziert. Auch noch nicht so lange her, da verachtete ich alle Mädchen so furchtbar, dass ich nie an die Möglichkeit glauben mochte, dass mich sobald eine … entzücken würde (ich weiß so keinen rechten Ausdruck dafür). Was mir am allerfernsten liegt, ist das „Poussieren“‚5Veraltet für Hofieren, Schmeicheln. was ich fürchterlich verabscheue. Ich will mich nicht unsinnigen Liebeschwärmeleien hingeben. Ich meine, das soll man nur sagen, wenn es wahre, wirkliche, echte Liebe ist. Und dafür bin ich wohl noch 10 Jahre zu jung. Unter wahrer Liebe verstehe ich solche, bei der man den innigen Wunsch hat, durch die Ehe verbunden zu werden. Mich zieht zu diesem Mädchen nur der Wunsch, sie möchte meine Freundin werden. Dabei setze ich (ich weiß nicht, ob ich „selbstverständlich“ oder „merkwürdigerweise“ sagen soll) immer voraus, dass 🕮 ihr Charakter mir ebenso sympathisch ist wie ihr Äußeres. Wenn ich sie sehe, oder sie mir vorstelle, meine ich immer, glauben zu dürfen und zu müssen, dass sie innen so rein und schön, wie außen ist. Doch – sie besucht die Töchterschule.IMittelbarmer Töchterschule Da wird gerade keine nicht so kultiviert, was mir sympathisch wäre. Im Gegenteil [mutatis mutandis auch auf den Gymnasien]. Und doch kann ich nicht sagen: O‚ hätte sie doch nur die VolksschuleLVolksschule besucht. Denn aus niederem Stande wäre sie mir zu65wider. Wenn sie nun wirklich so wäre, auch in ihrer Gesinnung usw., wie ich sie mir träume! Dann müsste sie meine Freundin sein! Aber erstens dürften FritzPDörpfeld, Friedrich Gustav, 1892-1966, Fritz genannt, Sohn von Anna und Wilhelm Dörpfeld, Autohofbesitzer in Berlin und ErnstPErnst =? Ernst Beckmann nicht da sein. Zweitens keine anderen Leute, die über „Poussieren“, „Jungens mit Mädchen laufen“ usw. schwätzen würden, ganz abgesehen von den Eltern. Ich habe mir jetzt in letzter Zeit manchmal überlegt, weshalb das Eltern nicht gerne sehen, wenn ihre Töchter, bzw. Söhne mit anderen Jungens bzw. Mädchen verkehren. Ich meine, in diesen Jahren fängt doch der Trieb zu wirken an, der göttliche Trieb, den Gott in die Natur gelegt hat, der so die Individuen des einen Geschlechtes zu denen des anderen treibt! Ich meine, das wäre doch keine Sünde! Als ganz selbstverständlich brauche ich gar nicht zu sagen, dass in dem idealen Freundschaftsverkehr, wie ich ihn mir erträume, Unzucht und Unsittlichkeit weder in Gedanken, noch Worten, noch Werken, niemals vorkommen könnte. Neulich abends fragte ich die MutterPCarnap, Anna, 1852-1924, Tochter von Friedrich Wilhelm Dörpfeld, heiratete 1887 Johannes Sebulon Carnap, Mutter von Rudolf Carnap und Agnes Kaufmann, ob es wohl Sünde sei, wenn man gerne schöne Mädchen sehe. „Nein, sagte sie, das ist wie wenn man gern eine schöne Blume anschaut; ich sehe auch gerne hübsche Mädchen. Bloß muss man sich vor dem hüten, was die Engländer Flirt und die Franzosen Koketterie nennen. Glücklicherweise haben wir 🕮 Deutschen kein Wort dafür.“ Einige Tage hatte ich sie nicht mehr gesehen. Doch gelang es mir mit einiger Mühe, ihr Gesichtchen mir vorzustellen. Heute sah ich sie in der BergbahnLBergbahn. Sie fuhr fünf Uhr drei herauf (heute ist Montag). Manchmal träume (revas6Esp. „[ich] träume“ (im Sinne eines Tagtraums).ESP) ich davon, dass sie neben mir auf der Schulbank säße, dass Mädchen unsere SchuleIWilhelm-Dörpfeld-Gymnasium besuchten, und immer die Mädchen und wir nach den Zeugnissen gesetzt würden, und sie die Erste wäre und mit mir auf eine Bank käme. Ja! Ich glaube, das wäre ein tüchtiger Sporn für mich, mich zu befleißigen im Wetteifer mit ihr, in edlem Wettstreit in den Wissenschaften! Ich habe auch schon davon geträumt (sonĝis7Esp. „habe geträumt“ (im Schlaf).ESP), dass Mädchen unsere SchuleIWilhelm-Dörpfeld-Gymnasium besuchten; sie sahen aber leider anders aus, als die sie. Selbstverständlich wäre es auch nichts, wenn es Wirklichkeit werden könnte, denn die Gymnasiasten ! – ! Auch bloß, dass sie meine Freundin würde, wäre, auch wenn die Umstände alle, sämtlich, günstig zusammentreffen könnten, nichts. Gedanken sind zollfrei, sagt man; doch stimmt das nicht ganz; denn das Gewissen ist eine strenge, pflichtgetreue Zollbehörde für Gedanken. Wenn ich mir aber ein glückseliges Elysium (wohlverstanden nicht das der Griechen mit süßem Nichtstun und goldigem Wohlbehagen) mit meiner Freundin ausmale und gleichsam erlebe, so hindert 66 mich daran weder innen das Gewissen, das nenne ich zuerst, noch außen irgendetwas. Ich nehme also gleichsam aus der rauhen Außenwelt nur die äußere Gestalt dieses Mädchens, die ganze andere Welt baue ich mir im Inneren. Ich glaube fast, dass ich es gerade so gut mit einem solchen –so müsste es aber aber auch sein – Gesicht könnte, das ein Maler gemalt hätte, das also nie existiert hätte. Fast, sage ich; wenn nicht immer wieder das Gesicht gleichsam das Verlangen 🕮 ausspräche, als Spiegelbild des Inneren angesehen zu werden. Als ich sie zuerst auf dem Eise sah, bewunderte ich nur ihre Schönheit. Erst in der Erinnerung und später, als ich sie einige Male wiedersah, wurde mir die Gestalt sympathisch, die äußere in Wirklichkeit, die innere, wie ich sie nach dem Äußeren mir erträumen zu dürfen glaube. Dies Jahr wird’s wohl kein Eis mehr geben, aber dann nächstes Jahr. Wenn sie dann mal zufällig mit mir zugleich da ist. Ob ich sie wohl mal auffordere, mit mir zu laufen. Ich bin auch sonst schon mit Mädchen mal rum Schlittschuh gelaufen, aber ohne dass die mich anzogen, nur so. Vielleicht lerne ich lieber vorher noch besser holländern‚8Bezeichnung für Lauftechnik beim Schlittschuhlaufen. damit ich fein mit ihr laufen kann. –
Übrigens wird mir jetzt auch die Gestalt der Gretel LiskoPLisko, Gretel, Kusine von Carnap sympathisch. Nicht als ob ich sie damals in Baden-BadenLBaden-Baden verachtet hätte; im Gegenteil, ich fand sie sehr nett. (Mit „nett“ meine ich nicht das Gesicht.) Aber jetzt interessiere ich mich für sie. Sie strebt aufs Abitur zu. Schade bloß, dass ihr Mathematik so schwer fällt. Mit GretelPLisko, Gretel, Kusine von Carnap sehe ich in grauer Zukunft wenigstens ein Bild, was der Wirklichkeit nicht zu unsinnig widerspricht, nämlich die Korrespondenz zwischen Kusine und Vetter. Ein Bedenken ist das, dass ich nicht gut Briefschreiben kann und nicht so recht weiß, was sie wohl am meisten interessiert, das ich ihr schreibe. Was siemir schreibt, würde mich immer interessieren, besonders über ihre Studien, über all die Wissenschaften usw. Agnes DörpfeldPDörpfeld, Agnes, 1886-1935, Tochter von Anna und Wilhelm Dörpfeld, heiratete 1916 Martin von Boetticher korrespondiert auch mit Friedrich von RohdenPRohden, Friedrich von, 1886–1973, Arzt, Sohn von Gustav von Rohden, Mitglied der Freischar Freiburg, heiratete 1914 Marianne von Rohden und Fritz CarnapPCarnap, Friedrich, 1885-1964, Fritz genannt, praktischer Arzt, Sohn von Johann Sebulon Carnap (*1853, Halbbruder von Rudolf Carnap) glaub’ ich. Es steht stände also von außen her nichts mehr im Wege. Das ist die Hauptsache. Denn von mir aus stände auch nichts im Wege, mit „ihr“ (ich muss so schreiben, weil ich ihren Namen nicht kenne. Vielleicht denk’ ich mir mal einen schönen für sie aus) 🕮 zu korrespondieren, denn ich selbst weiß ja, dass niemals auch nur unbedachte oder leichte Worte in einem Brief vorkommen könnten (immer alles unter der Voraussetzung, dass sie dem Ideal entspricht) aber eigentlich ist sie es ja nicht, sondern nur das Ideal, das von ihr das Gesicht entlehnt. Leider weiß ich nicht, ob es auch die Gesinnung, die 67Charakterzüge, die Anlagen, Befähigungen usw. leihen darf. Nun, dies Ideal ist ja bereits meine Freundin, das höchste, was es werden kann. Deshalb schätze ich mich jetzt glücklich, dass ich eine reiche, rege, lebendige Fantasie habe; wenigstens glaube ich das, und das ist ja das Wesentliche. Ich baue mir mein Elysium auf, anders als die Griechen es dachten, meine campi fortunati, anders als die Römer, mein Eldorado, anders als die Spanier und mein Paradies auf Erden, anders als die ganze Welt. Und wenn ich mich damit begnügen muss. Gut, ich hadre nicht mit dem Geschick. Es kann ja nicht anders sein. Trotzdem sehe ich sie recht gerne und möglichst oft, ohne dass es auffällt. Leider ist dies aber ziemlich selten, bis ich mal wieder in der BergbahnLBarmen!Bergbahn einen kurzen Blick von einer oder allerhöchstens ein paar Sekunden auf sie werfen kann. Wenn es nur ihr Gesicht ist, das meine Freundin von diesem Mädchen hat, weshalb sehne ich mich denn nach ihrem Anblick. Gerade deshalb, damit mir meine ideale Freundin klarer vor dem inneren Auge steht. Denn je öfter ich sie sehe, desto besser kann ich mir, und wenn ich allein bin, mir das Bild vor die Seele malen. Dann bekommt das Bild auch eine Seele, wohl eine andere als das Mädchen in der BergbahnLBarmen!Bergbahn hat, das ja auch dies Gesicht hat, aber wenn eine andere, dann eine schönere. 🕮
Ich weiß nicht, ob ich voriges Mal nicht zu überschwenglich, ideal geschrieben habe. Ob ich übertrieben habe? Ich bin mir selbst ja nicht so klar. Vielleicht ist es doch nicht nur das Gesicht? Vielleicht die ganze Gestalt. Ich hätte beinahe beinahe gesagt „Persönlichkeit“, doch ist das für so ein Kind, ein solches Mädchen wohl viel zu stark. Heute sah ich sie ungefähr zehn Minuten vor eins Ecke KarlstraßeLBarmen!Karlstraße. Da begrüßte sie scheinbar – ich konnte ja leider nicht so ausdauernd hinsehen – mit frohem Lachen ein kleines Mädchen. Wie ich das beneidete. Sie kam dann in die BergbahnLBarmen!Bergbahn. Ich war mit Harry KriegePKriege, Harry und StasPStas. Als ich mit denen in der BergbahnLBarmen!Bergbahn war, lenkte ich absichtlich das Gespräch auf irgendein Schulthema, sodass ich unauffällig noch ein paar ganz kurze Augenblicke stehenbleiben konnte, bis sie kam. Sie machte mir noch einen reizenderen Eindruck. Das Gesicht so glatt und rein, und die losen, freien dunklen Haare so natürlich! Übrigens neulich die Kladde, die ich bei FlöhringsLBarmen!Flöhrings um ihretwillen kaufte, hatte anfangs keinen Zweck. Meine Schulkladde ist noch lange nicht aus und ich wollte sie aufheben, bis ich sie brauchte. Als ich aber Freitag wieder daran dachte, ein Tagebuch zu schreiben, da fiel sie mir ein. Ich nahm sie und – es ist dies Heft. Um ihretwillen gekauft, und sie steht drin geschrieben. Ich wollte fast, ich wäre nicht so zurückhaltend, 68 schweigsam und schüchtern; ich würde sie dann sicher mal, wenn’s Eis gäbe, zu einer Rundtour auffordern. Ich glaube, ich könnte vor Glückseligkeit kaum spielen, wenn sie jetzt plötzlich bei unserem Zusammenspiel im KonservatoriumLBarmen!Konservatorium mitspielte.9Carnap nahm zu dieser Zeit Cellounterricht. Ich hege so allerhand unsinnig aussichtslose Hoffnungen. Es macht ja auch nichts, dass ich weiß, dass sie sich nie verwirklichen werden, aber hoffen, oder vielmehr nur schwach davon träumen, ist doch schön. Heute abend gehe ich mal wieder in die Tanzstunde. Voriges Mal war ich nicht da, da fehlte ich auch in der Schule. Wenn ich dann mit einer tanze, will ich mal 🕮 versuchen, mir vorzustellen, sie wäre es. Heute Abend kommen MutterPCarnap, Anna, 1852-1924, Tochter von Friedrich Wilhelm Dörpfeld, heiratete 1887 Johannes Sebulon Carnap, Mutter von Rudolf Carnap und Agnes Kaufmann und AgnesPKaufmann, Agnes, 1890–1976, geb. Carnap, Schwester von Rudolf Carnap, heiratete 1912 Reinhard Kaufmann wieder. AgnesPKaufmann, Agnes, 1890–1976, geb. Carnap, Schwester von Rudolf Carnap, heiratete 1912 Reinhard Kaufmann bringt mir Esperantosachen aus BerlinLBerlin mit. Da freu’ ich mich drauf. Merkwürdig, ich habe weder jetzt noch damals in JuistLJuist die 14 Tage, als ich ohne MutterPCarnap, Anna, 1852-1924, Tochter von Friedrich Wilhelm Dörpfeld, heiratete 1887 Johannes Sebulon Carnap, Mutter von Rudolf Carnap und Agnes Kaufmann und AgnesPKaufmann, Agnes, 1890–1976, geb. Carnap, Schwester von Rudolf Carnap, heiratete 1912 Reinhard Kaufmann war, Heimweh nach ihnen bekommen. Ich dachte sonst immer, ich wäre in dieser Hinsicht sehr zärtlich. Na, ganz gut. Es ist nicht weniger Liebe, sondern mehr Selbstständigkeit und vernünftige Überlegung.
Samstag ein Uhr drei war sie in der BergbahnLBarmen!Bergbahn. Unten hatte ich sie nicht gesehen. Als die Bahn an mir vorbeifuhr, schien sie sich nach mir umzuwenden, um einen kurzen Blick auf uns zu werfen. Vielleicht ganz bedeutungslos. Auch die andere Pseudo-VorwerkPPseudo-Vorwerk10Vermutlich eine Anspielung auf die Industriellenfamilie Vorwerk in Wuppertal (Hersteller von Staubsaugern und Teppichen). Etwa könnte die gemeinte Person denselben Namen gehabt oder ähnlich ausgesehen haben. schien sehr nett. Die saß auch drin. Heut Gestern nachmittag fünf Uhr drei sah ich sie unten. Ich stand beim StasPStas und wartete auf den KriegePKriege, Harry. Sie saß in der Bahn. Onkel WilhelmPDörpfeld, Wilhelm, 1853-1940, genannt Onkel Wilhelm, dt. Archäologe und Architekt, Bruder von Anna Carnap, verh. mit Anna Dörpfeld und Agnes DörpfeldPDörpfeld, Agnes, 1886-1935, Tochter von Anna und Wilhelm Dörpfeld, heiratete 1916 Martin von Boetticher sind Montagfrüh wieder fort. Sie waren Samstag bzw. Donnerstag gekommen.
III / 1908 Freitag vier Uhr dreiundzwanzig. Samstagabend im Concordiakonzert. Montag fünf Uhr drei. Es Vor einigen Tagen ging ich mit Hans BöllingPBölling, Hans die LuisenstraßeLBarmen!Luisenstraße herauf. Einer aus Fritz’PDörpfeld, Friedrich Gustav, 1892-1966, Fritz genannt, Sohn von Anna und Wilhelm Dörpfeld, Autohofbesitzer in Berlin Klasse ließ da die BergbahnLBergbahn an sich vorbeifahren (an der OttostraßeLBarmen!Ottostraße), dann rief HansPBölling, Hans ihm zu: Hat die AnnemariePLichtenberg, Annemarie dich gesehen? Er erzählte mir dann, er kenne die Annemarie LichtenbergPLichtenberg, Annemarie aus der Tanzstunde; sie sei ganz g hübsch, aber langweilig. Sie wohne am ToelleturmLBarmen!Toelleturm. Ich hatte weder unten noch in der BergbahnLBarmen!Bergbahn meine 🕮 gesehen, wohl aber die Pseudo-VorwerkPPseudo-Vorwerk. Die wird’s wohl sein. Die war auch am Samstag im Konzert. Im zweiten Teil nach der Pause hatte ich aufgepasst, wo sie sich hinsetzte. Ich konnte sie dann, allerdings nur von hinten, immer sehen. Ich rechnete mir aus, dass es wohl Platz nr. 279 sei, 69 auf dem sie saß. Einmal ging ich in der Pause ganz nah an ihr vorüber. Gestern in der BergbahnLBarmen!Bergbahn lehnte sie auf dem Trittbrett an der offenen Tür und sah mich auch an.
Heute morgen zwölf Uhr drei, Nachmittag vier Uhr dreiundzwanzig. Sie schien nach mir zu sehen. Heute hatte ich nämlich keine Stunde. Heute abend ist Kammermusik. Die Stunde ist auf morgen verlegt. Gestern MuttersPCarnap, Anna, 1852-1924, Tochter von Friedrich Wilhelm Dörpfeld, heiratete 1887 Johannes Sebulon Carnap, Mutter von Rudolf Carnap und Agnes Kaufmann Geburtstag. Dienstagabend gefeiert. Wären die Jungens11Bezieht sich vermutlich auf nicht näher zu identifizierende Freunde oder Mitschüler Carnaps. nicht da, hätte ich ihr ein Gedicht oder so etwas gemacht. Onkel WilhelmPDörpfeld, Wilhelm, 1853-1940, genannt Onkel Wilhelm, dt. Archäologe und Architekt, Bruder von Anna Carnap, verh. mit Anna Dörpfeld hat geschrieben (aus BrindisiLBrindisi), FritzPDörpfeld, Friedrich Gustav, 1892-1966, Fritz genannt, Sohn von Anna und Wilhelm Dörpfeld, Autohofbesitzer in Berlin habe ihn sehr gebeten, dass ich Herbst mitkäme nach LeukasLLeukas; FritzPDörpfeld, Friedrich Gustav, 1892-1966, Fritz genannt, Sohn von Anna und Wilhelm Dörpfeld, Autohofbesitzer in Berlin hat mir das auch schon oft gesagt. Onkel WilhelmPDörpfeld, Wilhelm, 1853-1940, genannt Onkel Wilhelm, dt. Archäologe und Architekt, Bruder von Anna Carnap, verh. mit Anna Dörpfeld schrieb, er würde sich freuen. Das glaub’ ich auch. Ich dachte immer nur ans Geld, MutterPCarnap, Anna, 1852-1924, Tochter von Friedrich Wilhelm Dörpfeld, heiratete 1887 Johannes Sebulon Carnap, Mutter von Rudolf Carnap und Agnes Kaufmann sagte jetzt, das wäre es nicht; es käme darauf an, ob ich die Hitze vertragen könnte, Insekten, Fieber usw. Das macht mir wohl nicht viel. Ob ich lieber nach DresdenLDresden gehen würde? Esperantokongress?IEsperanto-Weltkongress, Dresden, 1908 SamenhofPSamenhof, Ludwig, 1859-1917, russ. Augenarzt, Erfinder der Plansprache Esperanto, verh. mit Klara Samenhof ist kränklich; ob ich ihn wohl sonst in meinem Leben noch mal sehe? Was von beiden täte ich lieber? 🕮
Sag’, was will das Schicksal uns bereiten‚
Warum band es uns so rein genau?
Ach, Du warst in abgelebten Zeiten
meine Schwester oder meine Frau.
(GoethePGoethe, Johann Wolfgang von, 1749–1832, dt. Dichter [an Frau von SteinPStein, Charlotte von, 1742–1827, dt. Hofdame, Freundin Goethes])12Vgl. Goethe, Hamburger Ausgabe, Bd. 1, 122 f. Das Gedicht „Warum gabst du uns die tiefen Blicke“, das Goethe am 14. 4. 1776 an Frau von Stein sandte, enthält die Verszeilen: „Sag’, was will das Schicksal uns bereiten? / Sag’, wie band es uns so rein genau? / Ach, du warst in abgelebten Zeiten / Meine Schwester oder meine Frau“.
Endlich mal wieder heute vier Uhr dreiundzwanzig. Doch sie saß gerade auf der anderen Seite und war in ein Buch vertieft. Ob mit Absicht, weiß ich nicht. Habe mir die Seherin von PrevorstBKerner, Justinus!Die Seherin von Prevorst, 2 Bd., Stuttgart, 1829 gekauft, sogar gebunden.13Kerner, Die Seherin von Prevorst. Auch schon darin gelesen. Auch einige aus der Miniaturbibliothek.14Die im neunzehnten Jahrhundert aufgelegte Miniatur-Bibliothek der Deutschen Classiker oder eine ähnliche Edition. Ganz merkwürdig, theosophisch. Allerhand Buddhistisches, Orientalisches usw. Die Seelenwanderung kommt mir gar nicht mehr so unwahrscheinlich vor. Lese jetzt schon seit einigen Wochen zuweilen 70 abends mit der MutterPCarnap, Anna, 1852-1924, Tochter von Friedrich Wilhelm Dörpfeld, heiratete 1887 Johannes Sebulon Carnap, Mutter von Rudolf Carnap und Agnes Kaufmann zusammen FechnersPFechner, Gustav Theodor, 1801-1887, dt. Psychologe und Philosoph SeelenfrageBFechner, Gustav Theodor!1861@Über die Seelenfrage, Leipzig, 1861.15Fechner, Über die Seelenfrage. Ist interessant, aber zuweilen schwer. – Bin bis jetzt überhaupt im Ganzen viermal im Theater gewesen, früher mit Herrn MeierPMeier, Herr in den GoethefestspielenPGoethe, Johann Wolfgang von, 1749–1832, dt. Dichter in DüsseldorfLDüsseldorf, „Iphigenie auf Tauris“; diesen Winter Tannhäuser, Tell, und Samstag „Mein Leopold“, ein Volksstück. Es war keineswegs etwa seicht, sondern ergreifend. Sonntagmorgen auf dem Heimweg von der Kirche fragte ich die MutterPCarnap, Anna, 1852-1924, Tochter von Friedrich Wilhelm Dörpfeld, heiratete 1887 Johannes Sebulon Carnap, Mutter von Rudolf Carnap und Agnes Kaufmann, warum ich nicht öfter ins Theater dürfte. Auch die AgnesPKaufmann, Agnes, 1890–1976, geb. Carnap, Schwester von Rudolf Carnap, heiratete 1912 Reinhard Kaufmann war dabei. Wir gerieten etwas gegeneinander und verstanden uns nicht recht. Nachmittags sagte mir Onkel GustavPRohden, Gustav von, 1855–1942, auch Onkel Gustav, ev. Theologe, in erster Ehe verh. mit Agnes Dörpfeld, 1858–1907, einer jüngeren Schwester von Rudolf Carnaps Mutter, in zweiter Ehe mit Gertrud von Rohden, Vater von Agnes Crönert, Friedrich, Gotthold, Harald, Hedwig, Heinz, Luise und Wilhelm von Rohden: Um die Genuss🕮 fähigkeit zu erhalten. Auch gestern Abend verstand ich mich zuerst nicht ganz mit der MutterPCarnap, Anna, 1852-1924, Tochter von Friedrich Wilhelm Dörpfeld, heiratete 1887 Johannes Sebulon Carnap, Mutter von Rudolf Carnap und Agnes Kaufmann. Es handelte sich um die englische Lektüre. Ich meinte, ich wollte „John Halifax“BCraik, Dinah!1856@John Halifax, Gentleman, London, 185616Craik, John Halifax, Gentleman. noch nicht lesen, es sei zu groß und schwer, und wir kämen nicht zu Ende. Der MutterPCarnap, Anna, 1852-1924, Tochter von Friedrich Wilhelm Dörpfeld, heiratete 1887 Johannes Sebulon Carnap, Mutter von Rudolf Carnap und Agnes Kaufmann kamen sogar die Tränen. Schließlich versuchten wir’s und es war wirklich schwer. Wir gaben uns dann an FechnerPFechner, Gustav Theodor, 1801-1887, dt. Psychologe und Philosoph. Wir waren doch wieder einig geworden. Ich verstehe mich da immer wieder mit ihr, wenn hier schon, wo wir nur „δι’ ἐσόπτρου ἐν αἰνίγματι“17Altgr.: „durch einen Spiegel in einem dunkeln Wort“. Vgl. 1. Korinther 13.12: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunkeln Wort; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich’s stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin.“ (Lutherbibel) uns verständigen können, wie vielmehr dann erst, wenn wir uns von Angesicht zu Angesicht unmittelbar erkennen, wenn wir uns so erkennen, wie wir erkannt sind. Die AgnesPKaufmann, Agnes, 1890–1976, geb. Carnap, Schwester von Rudolf Carnap, heiratete 1912 Reinhard Kaufmann versteht sich mit der MutterPCarnap, Anna, 1852-1924, Tochter von Friedrich Wilhelm Dörpfeld, heiratete 1887 Johannes Sebulon Carnap, Mutter von Rudolf Carnap und Agnes Kaufmann nicht so innerlich. Sie ist nicht so philosophisch angelegt.18Zu dem hier angedeuteten Charakterbild von Carnap und seiner Schwester Agnes vgl. Anna Carnap, Aufzeichnungen über Agnes und Rudi, 1890–1904 (RC 102‑22‑01). Ich will damit nicht renommieren. Doch gleicht das wohl ihre Zärtlichkeit und Pietät aus. Mit der MutterPCarnap, Anna, 1852-1924, Tochter von Friedrich Wilhelm Dörpfeld, heiratete 1887 Johannes Sebulon Carnap, Mutter von Rudolf Carnap und Agnes Kaufmann habe ich noch nicht darüber gesprochen, wie es mit der AgnesPKaufmann, Agnes, 1890–1976, geb. Carnap, Schwester von Rudolf Carnap, heiratete 1912 Reinhard Kaufmann eigentlich ist (ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll); doch spricht sie manchmal so über sie zu mir, als ob ich ihr näher stände und mit erzieherisch auf AgnesPKaufmann, Agnes, 1890–1976, geb. Carnap, Schwester von Rudolf Carnap, heiratete 1912 Reinhard Kaufmann einwirken müsse. Wenn ich das doch könnte. AgnesPKaufmann, Agnes, 1890–1976, geb. Carnap, Schwester von Rudolf Carnap, heiratete 1912 Reinhard Kaufmann hat guten Willen, sie wird sich schon zum Besten entwickeln. – Unter meinem Aufsatz steht oft ein Lob über den Inhalt mit einer Einschränkung in Bezug auf den Ausdruck. Ich finde, das ist überhaupt mein Fehler. Die Gedanken weit und hoch und reich, die der Ausdruck oft ungeschickt und steif. Wenn es nicht zu eingebildet klänge, würde ich sagen, Perlen in Blei gefasst. Doch ich glaube, ich bin überhaupt zu sehr 71 vom Dünkel beseelt. Doch wie schwer ist es, davon loszukommen, besonders wenn man oft so stupide, beinahe rein vegetierende Persönlichkeiten sieht, die diesen Namen überhaupt nicht verdienen, oder sonst Leute, die darnach sind. 🕮
Vorige Woche Montagnachmittag und Samstag, seitdem nicht mehr. Aber mehrmals die Pseudo-VorwerkPPseudo-Vorwerk mit dem der blauen Matrosenkappe. Einmal auf der WupperstraßeLBarmen!Wupperstraße mit StasPStas und KriegePKriege, Harry ihr so dicht begegnet, dass ich ihr auf dem Trottoir einen Moment ganz dicht vor ihr stand. Sie macht auch einen sympathischen Eindruck, aber das Gesicht der anderen ist lieber. „Das ewig Weibliche zieht uns hinan.“19Vgl. Goethe, Faust II, Schlussverse. Tante AnnePDörpfeld, Anna, 1860-1915, geb. Adler, Anne genannt, verh. mit Wilhelm Dörpfeld war hier. Auch Onkel HansPDörpfeld, Johannes, 1865-1923, Hans genannt, Bruder von Carnaps Mutter kurz, zur Konfirmation von FritzPDörpfeld, Friedrich Gustav, 1892-1966, Fritz genannt, Sohn von Anna und Wilhelm Dörpfeld, Autohofbesitzer in Berlin und ErnstPErnst =? Ernst Beckmann. Auch FriedrichPRohden, Friedrich von, 1886–1973, Arzt, Sohn von Gustav von Rohden, Mitglied der Freischar Freiburg, heiratete 1914 Marianne von Rohden. Er ist Atheist. Ich habe länger mit ihm gesprochen. Durch vieles Nachdenken und Skeptizieren ist er dazu gekommen, an keinen Gott und keine Unsterblichkeit mehr zu glauben. Ich habe ihm gesagt, dass ich sehr Verstandesnatur bin, dass mein Verstand im Verhältnis zum Gefühlsleben sehr überwiegt [was sagt eigentlich dazu der Drang zu ihr?] und dass ich sehr zur Skepsis neige. Wir haben uns gut verstanden, ich meine damit, wir sind nicht scharf aufeinander geraten, sondern haben versucht, uns gegenseitig zu verstehen. Er gibt selbst zu, in welcher traurigen Lage er ist, ohne Hoffnung auf ein Jenseits, „alles nur Wahn“. Ich freue mich, dass er gegen mich so aufrichtig war, dass er mich für würdig hielt, mir das zu sagen. HaraldPRohden, Harald von, 1888–1915, Lehrer, Sohn von Gustav und Agnes von Rohden sagt er sicher nichts davon, das meinte er auch. – Ich denke über mein Verhältnis zu ihr immer mehr und mehr real. Bald denke ich, wenn ich sie einmal träfe, in den Anlagen, auf einer Bank, oder sonst allein und ungestört, wollte ich sie fragen, ob ich ihr unsympathisch bin, und ob ich ihr Freund werden darf; meine Freundin ist sie schon lang. Dann denke ich wieder dran, ihre Adresse auszuspintisieren und ihr einen Brief zu schreiben und um postlagernde Antwort zu bitten. Aber die Eltern! Ich weiß nicht; ich bin doch noch so jung, dass ich höchstens in zehn Jahren an Verheiratung denken darf und trotzdem kommt es mir manchmal so vor, als müsste sie dann annehmen, ich verpflichtete mich durch so etwas für spätere 🕮 Jahrzehnte, was doch durchaus nicht in meiner Absicht liegt. Ob ich ihr einmal eine anonyme Postkarte schicke? Vielleicht weiß sie dann, von wem sie ist, weil ich sie so oft angeschaut habe. Aber ich glaube, das verdürbe die Sache nur. Oder wenn ich ihr ein schönes Geschenk zuschickte? Ein Schmuckstück? Zu teuer! Ein Buch? – ? Ich weiß nicht, ob mich das näher brächte, ich meine von ihrer Seite, also 72 richtiger, sie mir näher brächte. Wenn ich irgendwo bei einem Fotografen ihr Bild fände. Ob er mir da eins von überlassen würde? Vielleicht muss ihm das komisch vorkommen? Das würde mir wohl nicht zu teuer sein. Aber dies brächte sie mir nicht näher, wenn es mir auch viel Freude (oder Kummer?) brächte. – Und wenn nach langem Sorgen, kühnem Wagen und vielem Glück endlich das Ziel erreicht wäre, was dann? Ich hätte am ToelleturmLBarmen!Toelleturm eine Freundin, würde wegen Poussierens vielleicht ausgelacht, müsste mich immer scheuen vor der MutterPCarnap, Anna, 1852-1924, Tochter von Friedrich Wilhelm Dörpfeld, heiratete 1887 Johannes Sebulon Carnap, Mutter von Rudolf Carnap und Agnes Kaufmann, oder mindestens vor der SchwesterPKaufmann, Agnes, 1890–1976, geb. Carnap, Schwester von Rudolf Carnap, heiratete 1912 Reinhard Kaufmann und vor weiß wem auf der anderen Seite drücken. – Ich glaube mich noch zu entsinnen, dass in dem Leichenzug bei der Traueransprache am Krankenhaus meines Klassenkameraden SauerbronnPSauerbronn, der beide Eltern verloren hatte, ein Mädchen war, das weinte, und die anderen sagten mir, das sei seine „Liebste“. – Vielleicht ist die Sehnsucht, die ich jetzt habe, die schönste Zeit, wenn sie auch so leer, so unbefriedigend, so durstig, so weiterdrängend ist. – Ob ich vielleicht mal als Student, wenn ich unabhängiger bin (besonders von den Jungens FritzPDörpfeld, Friedrich Gustav, 1892-1966, Fritz genannt, Sohn von Anna und Wilhelm Dörpfeld, Autohofbesitzer in Berlin und ErnstPErnst =? Ernst Beckmann, aber auch von MutterPCarnap, Anna, 1852-1924, Tochter von Friedrich Wilhelm Dörpfeld, heiratete 1887 Johannes Sebulon Carnap, Mutter von Rudolf Carnap und Agnes Kaufmann und SchwesterPKaufmann, Agnes, 1890–1976, geb. Carnap, Schwester von Rudolf Carnap, heiratete 1912 Reinhard Kaufmann) mit dann mit einem schönen Mädchen, das ich dann liebe [wenn sie es wäre!] endlich Bande der Freundschaft anknüpfen kann. FriedrichPRohden, Friedrich von, 1886–1973, Arzt, Sohn von Gustav von Rohden, Mitglied der Freischar Freiburg, heiratete 1914 Marianne von Rohden hatte in seinem Notizbuch einen langen Brief an „Edith“PEdith stehen, auf seinen Wunsch habe ich ihn nicht gelesen. Es sei seine Freundin, sagte er. Ich glaube, er fügte hinzu‚ 🕮 er habe überall Freundinnen oder Freunde; oder irgend so etwas Ähnliches sagte er. Ich habe jetzt SchillersPSchiller, Friedrich von, 1759–1805, dt. Dichter Gedichte an Laura20Es gibt mehrere Gedichte Schillers, die eine Widmund „an Laura“ tragen. usw. usw. und GoethesPGoethe, Johann Wolfgang von, 1749–1832, dt. DichterGedichte gelesen; wenn ich so dichten könnte. Wenn ich ihr so eins schickte? Aber das fände sie vielleicht zu abgeschmackt, eins von GoethePGoethe, Johann Wolfgang von, 1749–1832, dt. Dichter oder SchillerPSchiller, Friedrich von, 1759–1805, dt. Dichter. Sie würde meinen, ich ließe in bequemer Weise andere für mich sprechen, und so würden wohl auch wie die Worte, die Gefühle fehlen. Ich wäre zu allem Möglichen fähig für sie. Ich könnte fürchterliche Schmerzen ertragen auf und leisten, ich weiß nicht was. Es ist eine latente Kraft, würde der Physiker sagen. Die Uhr ist schon aufgezogen; sie ist fähig, viel zu leisten. Warum stößt sie keiner an, um es zu nutzen. Soll diese Leistungsfähigkeit nutzlos verdampfen? Wenn ich als Minneritter ausziehen könnte im Dienste der „Frau“.
V / 1908 In den Ferien waren MutterPCarnap, Anna, 1852-1924, Tochter von Friedrich Wilhelm Dörpfeld, heiratete 1887 Johannes Sebulon Carnap, Mutter von Rudolf Carnap und Agnes Kaufmann und ich in LichtentalLLichtental‚21Die Naturheilanstalt Lichtental in Baden-Baden. AgnesPKaufmann, Agnes, 1890–1976, geb. Carnap, Schwester von Rudolf Carnap, heiratete 1912 Reinhard Kaufmann und FritzPDörpfeld, Friedrich Gustav, 1892-1966, Fritz genannt, Sohn von Anna und Wilhelm Dörpfeld, Autohofbesitzer in Berlin in RonsdorfLRonsdorf. In LichtentalLLichtental war Herr Kaufmann, später auch Frau Kaufmann und KlausPKaufmann, Klaus, nebst Herr und Frau Kaufmann. Ferner ein Herr HansePHanse, Fritz, ein armer Krüppel, mit ei73nem Auswuchs auf dem Buckel. Fritz HansePHanse, Fritz hieß er. Sein Vater war Däne, die Mutter Deutsche. Da er in BerlinLBerlin geboren ist, hat er in keinem von beiden Staaten Bürgerrecht. Er will nach BremenLBremen reisen und sich dort das Bürgerrecht kaufen, da sei es am billigsten. Er war bisher in MünchenLMünchen Reproduktionstechniker. Er war Vorsitzender einer GuttemplerlogeIGuttempler in MünchenLMünchen.22Die Guttempler sind eine im neunzehnten Jahrhundert in den USA gegründete Abstinenzorganisation („Order of Good Templars“). Er interessierte sich für neue Gedanken, besonders auf dem Gebiete der Religion. Früher hatte er einmal Esperanto gelernt. Ich habe ihm gesagt, er möchte es doch wieder lernen. HeinzPRohden, Heinz von, 1892–1916, Sohn von Gustav und Agnes von Rohden, Student der Theologie, Mitglied der AV Marburg kann’s jetzt wie er (HeinzPRohden, Heinz von, 1892–1916, Sohn von Gustav und Agnes von Rohden, Student der Theologie, Mitglied der AV Marburg) sagt. 🕮 In LichtentalLLichtental bekam ich auch wieder Anstöße auf dem Gebiet des Spiritismus, Okkultismus usw. durch die Bücher, die da lagen. Aus denen hatte ich mir auch auf einem Zettel allerlei Büchertitel notiert, aber verloren. Nach den Ferien sah ich einige Tage lang sie nicht, dann zweimal an einem Tag. Einmal ging sie mit Meda „Medi“ MesePMese, „Medi“ und andern kleinen Mädchen die LuisenstraßeLBarmen!Luisenstraße rauf, da ging ich mit Hans RüggebergPRüggeberg, Hans an ihr vorbei. Dann sah ich sie in der BergbahnLBarmen!Bergbahn. Dies reine schöne Gesicht! Dann kam ich mit FritzPDörpfeld, Friedrich Gustav, 1892-1966, Fritz genannt, Sohn von Anna und Wilhelm Dörpfeld, Autohofbesitzer in Berlin an dem Jungen vorbei, Ich glaube, er heißt BerchterPBerchter, von dem mir Hans BöllingPBölling, Hans ja gesagt hatte, er schwärme für Annemarie LichtenbergPLichtenberg, Annemarie. Da sagte FritzPDörpfeld, Friedrich Gustav, 1892-1966, Fritz genannt, Sohn von Anna und Wilhelm Dörpfeld, Autohofbesitzer in Berlin zu ihm: Deine kleine Schwarze sitzt auch darin. Dann sagte ich FritzPDörpfeld, Friedrich Gustav, 1892-1966, Fritz genannt, Sohn von Anna und Wilhelm Dörpfeld, Autohofbesitzer in Berlin, was Hans BöllingPBölling, Hans mir gesagt hatte; FritzPDörpfeld, Friedrich Gustav, 1892-1966, Fritz genannt, Sohn von Anna und Wilhelm Dörpfeld, Autohofbesitzer in Berlin schien zu glauben, sie heiße Barbara. HansPBölling, Hans schwärme selbst für die Schwester, so sagte er. Aber der BerchterPBerchter gefalle ihr nicht, sie schwärme für Heinz GrottePGrotte, Heinz. Heute sah ich die mit dem braunen Haar in der BergbahnLBergbahn. Das wird wohl ihre die Schwester sein. Hildegard KaufmannPKaufmann, Hildegard =? Schwester von Reinhard Kaufmann hat mir jetzt eine Rolle Schokolade mitgebracht. Ja, ich gäbe noch was drauf, wenn ich ihr die schenken dürfte. Doch nun muss ich sie selbst essen. Und dabei bin ich sonst der verkörperte Egoismus. Ich habe mir PlatensPPlaten, August von, 1796-1835, dt. Dichter Gedichte geliehen, da muss ich mir einiges daraus abschreiben, das so auf mich passt, dass ich es hätte sprechen können. Wenn ich doch das könnte! Ich lese auch BürgersPBürger, Gottfried August, 1747-1794, dt. Dichter Gedichte. Die Der kann aber an PlatenPPlaten, August von, 1796-1835, dt. Dichter nicht tippen23Vermutlich im Sinne von „kommt nicht an ihn heran“ zu lesen.. Die Distichen von PlatenPPlaten, August von, 1796-1835, dt. Dichter habe ich hinten in dies Buch geschrieben.
Ich schwärme wieder tüchtig für Esperanto. Ich habe mir wieder allerhand kommen lassen. 🕮 Herbst geh ich nicht nach LeukasLLeukas‚24Vermutlich eine Anspielung auf eine geplante Griechenland-Reise mit Carnaps Onkel, dem Archäologen Wilhelm Dörpfeld. Bereits 1895 hatte Carnap eine solche Reise mit seinem Onkel, seiner Mutter und Schwester unternommen. Vgl. (AB, A16). sondern auf 74 den Kongress nach DresdenLDresdenIEsperanto-Weltkongress, Dresden, 1908.25Zu Carnaps Plan, den Esperantokongress in Dresden zu besuchen, und zu den untenstehenden Bemerkungen zur Barmener Esperantogruppe und zur Schulordnung vgl. Lins, „Sprache transnational“. Das sag ich so leichthin; wie viel kann noch in den Weg kommen! Die MutterPCarnap, Anna, 1852-1924, Tochter von Friedrich Wilhelm Dörpfeld, heiratete 1887 Johannes Sebulon Carnap, Mutter von Rudolf Carnap und Agnes Kaufmann hat zwar gesagt, als ich ihr dies sagte, die Freude wolle sie mir sehr gern machen, da ich nicht nach LeukasLLeukas ginge. Soeben habe ich sie gefragt, ob ich den Direktor DapprichPDapprich, Richard, 1858-1919, Direktor des Gymnasiums in Barmen fragen darf, ob er mir die Erlaubnis geben will, in die hiesige GruppeIEsperantogruppe in Barmen einzutreten. Ich möchte nämlich sehr gerne Konversation, mündliche Unterhaltung lernen, bevor ich auf den Kongress gehe. Ich zweifle noch sehr, ob er mir’s erlauben wird. Wegen des Kongresses frag ich wohl besser gar nicht, denn wenn er es dann verbietet, dann kann ich nicht hin. Wie ich aus der Liste ersehen habe, geht Herr RüggebergPRüggeberg, Herr, Vorsitzender der Esperanto Ortsgruppe in Barmen, ich glaube sogar mit seiner Frau, der Vorsitzende der GruppeIEsperantogruppe in Barmen, zum Kongress.IEsperanto-Weltkongress, Dresden, 1908 In der Schulordnung steht, man darf nicht „selbstständig“ auf Zeitungen abonnieren. Was heißt „selbstständig“. Wie viele Jungen bekommen doch den „Guten Kamerad“IDer Gute Kamerad, Zeitschrift. Ich abonniere auf 3 Esperanto-Zeitschriften: Germana EsperantistoIGermana Esperantisto, Zeitschrift, EsperantoIEsperanto, Zeitschrift, La RevuoILa Revuo, Esperanto-Zeitschrift. In der Schulordnung steht, man darf nicht in einen Verein eintreten; ich bin in der Germana Esperantisto SocietoIGermana Esperantisto Societo. In der Schulordnung steht, man darf nicht ohne die Eltern in Wirtshäuser gehen. Wenn ich vielleicht zu den Gruppenversammlungen gehen werde, die sind nicht in den beiden Wirtshäusern, in die wir Primaner zwischen 6 und 10 Uhr gehen dürfen. In der Schulordnung steht, wir dürfen nicht an öffentlichen Versammlungen teilnehmen, oder so ähnlich; was soll das mit dem KongressIEsperanto-Weltkongress, Dresden, 1908 geben? Gott wolle alles zum Besten fügen! —