1Tagebuch 14. II. 1908 – 13. V. 1908 [Rudolf Carnap: Tagebücher], Eintrag Mo 17. II. 1908

Ich glaube, ich habe sie zum ersten Mal auf dem Eis gesehen. Weiße Kappe in der Form der Matrosenkappen. Dann einige Male im BergbahnbahnhofLBarmen!Bergbahnbahnhof. Da kam sie runter, um in die Mittelbarmer TöchterschuleIMittelbarmer Töchterschule zu gehen. Blauer Hut. Schwarzes Haar. Vielleicht 14 Jahre alt. Einmal als ich von der SchuleIWilhelm-Dörpfeld-Gymnasium2Carnap besuchte das heutige Wilhelm-Dörpfeld-Gymnasium in Wuppertal-Elberfeld. zur BergbahnLBarmen!Bergbahn kam, war sie hinter mir. Ich ging langsamer. Sie überholte mich in Eile und eilte durch die BergbahnLBergbahn hinauf. Ich beschleunigte ein wenig meinen Schritt. Oben war sie vor FlöhringsLBarmen!Flöhrings.3Vermutlich ein Papierwarengeschäft. Ich dachte, sie wollte hinein und ging und kaufte mir eine Kladde.4Landsch. für Schmierheft, hier wohl Notizbuch. Aber sie war wohl schon drin gewesen. Sie lief sogleich herunter. Vorher traf sie da auf der GewerbeschulstraßeLBarmen!Gewerbeschulstraße einen ganz kleinen Jungen, zu dem sie sich so liebevoll und nett herabbückte. Es ist doch unglaublich, dass ich mich innerlich ein bisschen von ihr gepackt worden bin, obwohl ich noch kein Wort mit ihr gewechselt habe. Ich weiß nicht einmal, wie sie heißt. Ich dachte früher immer, noch gar nicht so lange her, ich wäre solch ein steifer Mathematiker und das Gefühlsleben wäre bei mir auf ein Minimum reduziert. Auch noch nicht so lange her, da verachtete ich alle Mädchen so furchtbar, dass ich nie an die Möglichkeit glauben mochte, dass mich sobald eine … entzücken würde (ich weiß so keinen rechten Ausdruck dafür). Was mir am allerfernsten liegt, ist das „Poussieren“‚5Veraltet für Hofieren, Schmeicheln. was ich fürchterlich verabscheue. Ich will mich nicht unsinnigen Liebe­schwärmeleien hingeben. Ich meine, das soll man nur sagen, wenn es wahre, wirkliche, echte Liebe ist. Und dafür bin ich wohl noch 10 Jahre zu jung. Unter wahrer Liebe verstehe ich solche, bei der man den innigen Wunsch hat, durch die Ehe verbunden zu werden. Mich zieht zu diesem Mädchen nur der Wunsch, sie möchte meine Freundin werden. Dabei setze ich (ich weiß nicht, ob ich „selbstverständlich“ oder „merkwürdigerweise“ sagen soll) immer voraus, dass 🕮 ihr Charakter mir ebenso sympathisch ist wie ihr Äußeres. Wenn ich sie sehe, oder sie mir vorstelle, meine ich immer, glauben zu dürfen und zu müssen, dass sie innen so rein und schön, wie außen ist. Doch – sie besucht die Töchterschule.IMittelbarmer Töchterschule Da wird gerade keine nicht so kultiviert, was mir sympathisch wäre. Im Gegenteil [mutatis mutandis auch auf den Gymnasien]. Und doch kann ich nicht sagen: O‚ hätte sie doch nur die VolksschuleLVolksschule besucht. Denn aus niederem Stande wäre sie mir zu­65wider. Wenn sie nun wirklich so wäre, auch in ihrer Gesinnung usw., wie ich sie mir träume! Dann müsste sie meine Freundin sein! Aber erstens dürften FritzPDörpfeld, Friedrich Gustav, 1892-1966, Fritz genannt, Sohn von Anna und Wilhelm Dörpfeld, Autohofbesitzer in Berlin und ErnstPErnst =? Ernst Beckmann nicht da sein. Zweitens keine anderen Leute, die über „Poussieren“, „Jungens mit Mädchen laufen“ usw. schwätzen würden, ganz abgesehen von den Eltern. Ich habe mir jetzt in letzter Zeit manchmal überlegt, weshalb das Eltern nicht gerne sehen, wenn ihre Töchter, bzw. Söhne mit anderen Jungens bzw. Mädchen verkehren. Ich meine, in diesen Jahren fängt doch der Trieb zu wirken an, der göttliche Trieb, den Gott in die Natur gelegt hat, der so die Individuen des einen Geschlechtes zu denen des anderen treibt! Ich meine, das wäre doch keine Sünde! Als ganz selbstverständlich brauche ich gar nicht zu sagen, dass in dem idealen Freundschaftsverkehr, wie ich ihn mir erträume, Unzucht und Unsittlichkeit weder in Gedanken, noch Worten, noch Werken, niemals vorkommen könnte. Neulich abends fragte ich die MutterPCarnap, Anna, 1852-1924, Tochter von Friedrich Wilhelm Dörpfeld, heiratete 1887 Johannes Sebulon Carnap, Mutter von Rudolf Carnap und Agnes Kaufmann, ob es wohl Sünde sei, wenn man gerne schöne Mädchen sehe. „Nein, sagte sie, das ist wie wenn man gern eine schöne Blume anschaut; ich sehe auch gerne hübsche Mädchen. Bloß muss man sich vor dem hüten, was die Engländer Flirt und die Franzosen Koketterie nennen. Glücklicherweise haben wir 🕮 Deutschen kein Wort dafür.“ Einige Tage hatte ich sie nicht mehr gesehen. Doch gelang es mir mit einiger Mühe, ihr Gesichtchen mir vorzustellen. Heute sah ich sie in der BergbahnLBergbahn. Sie fuhr fünf Uhr drei herauf (heute ist Montag). Manchmal träume (revas6Esp. „[ich] träume“ (im Sinne eines Tagtraums).ESP) ich davon, dass sie neben mir auf der Schulbank säße, dass Mädchen unsere SchuleIWilhelm-Dörpfeld-Gymnasium besuchten, und immer die Mädchen und wir nach den Zeugnissen gesetzt würden, und sie die Erste wäre und mit mir auf eine Bank käme. Ja! Ich glaube, das wäre ein tüchtiger Sporn für mich, mich zu befleißigen im Wetteifer mit ihr, in edlem Wettstreit in den Wissenschaften! Ich habe auch schon davon geträumt (sonĝis7Esp. „habe geträumt“ (im Schlaf).ESP), dass Mädchen unsere SchuleIWilhelm-Dörpfeld-Gymnasium besuchten; sie sahen aber leider anders aus, als die sie. Selbstverständlich wäre es auch nichts, wenn es Wirklichkeit werden könnte, denn die Gymnasiasten ! – ! Auch bloß, dass sie meine Freundin würde, wäre, auch wenn die Umstände alle, sämtlich, günstig zusammentreffen könnten, nichts. Gedanken sind zollfrei, sagt man; doch stimmt das nicht ganz; denn das Gewissen ist eine strenge, pflichtgetreue Zollbehörde für Gedanken. Wenn ich mir aber ein glückseliges Elysium (wohlverstanden nicht das der Griechen mit süßem Nichtstun und goldigem Wohlbehagen) mit meiner Freundin ausmale und gleichsam erlebe, so hindert ­66 mich daran weder innen das Gewissen, das nenne ich zuerst, noch außen irgendetwas. Ich nehme also gleichsam aus der rauhen Außenwelt nur die äußere Gestalt dieses Mädchens, die ganze andere Welt baue ich mir im Inneren. Ich glaube fast, dass ich es gerade so gut mit einem solchen –so müsste es aber aber auch sein – Gesicht könnte, das ein Maler gemalt hätte, das also nie existiert hätte. Fast, sage ich; wenn nicht immer wieder das Gesicht gleichsam das Verlangen 🕮 ausspräche, als Spiegelbild des Inneren angesehen zu werden. Als ich sie zuerst auf dem Eise sah, bewunderte ich nur ihre Schönheit. Erst in der Erinnerung und später, als ich sie einige Male wiedersah, wurde mir die Gestalt sympathisch, die äußere in Wirklichkeit, die innere, wie ich sie nach dem Äußeren mir erträumen zu dürfen glaube. Dies Jahr wird’s wohl kein Eis mehr geben, aber dann nächstes Jahr. Wenn sie dann mal zufällig mit mir zugleich da ist. Ob ich sie wohl mal auffordere, mit mir zu laufen. Ich bin auch sonst schon mit Mädchen mal rum Schlittschuh gelaufen, aber ohne dass die mich anzogen, nur so. Vielleicht lerne ich lieber vorher noch besser holländern‚8Bezeichnung für Lauftechnik beim Schlittschuhlaufen. damit ich fein mit ihr laufen kann. –

Übrigens wird mir jetzt auch die Gestalt der Gretel LiskoPLisko, Gretel, Kusine von Carnap sympathisch. Nicht als ob ich sie damals in Baden-BadenLBaden-Baden verachtet hätte; im Gegenteil, ich fand sie sehr nett. (Mit „nett“ meine ich nicht das Gesicht.) Aber jetzt interessiere ich mich für sie. Sie strebt aufs Abitur zu. Schade bloß, dass ihr Mathematik so schwer fällt. Mit GretelPLisko, Gretel, Kusine von Carnap sehe ich in grauer Zukunft wenigstens ein Bild, was der Wirklichkeit nicht zu unsinnig widerspricht, nämlich die Korrespondenz zwischen Kusine und Vetter. Ein Bedenken ist das, dass ich nicht gut Briefschreiben kann und nicht so recht weiß, was sie wohl am meisten interessiert, das ich ihr schreibe. Was siemir schreibt, würde mich immer interessieren, besonders über ihre Studien, über all die Wissenschaften usw. Agnes DörpfeldPDörpfeld, Agnes, 1886-1935, Tochter von Anna und Wilhelm Dörpfeld, heiratete 1916 Martin von Boetticher korrespondiert auch mit Friedrich von RohdenPRohden, Friedrich von, 1886–1973, Arzt, Sohn von Gustav von Rohden, Mitglied der Freischar Freiburg, heiratete 1914 Marianne von Rohden und Fritz CarnapPCarnap, Friedrich, 1885-1964, Fritz genannt, praktischer Arzt, Sohn von Johann Sebulon Carnap (*1853, Halbbruder von Rudolf Carnap) glaub’ ich. Es steht stände also von außen her nichts mehr im Wege. Das ist die Hauptsache. Denn von mir aus stände auch nichts im Wege, mit „ihr“ (ich muss so schreiben, weil ich ihren Namen nicht kenne. Vielleicht denk’ ich mir mal einen schönen für sie aus) 🕮 zu korrespondieren, denn ich selbst weiß ja, dass niemals auch nur unbedachte oder leichte Worte in einem Brief vorkommen könnten (immer alles unter der Voraussetzung, dass sie dem Ideal entspricht) aber eigentlich ist sie es ja nicht, sondern nur das Ideal, das von ihr das Gesicht entlehnt. Leider weiß ich nicht, ob es auch die Gesinnung, die 67Charakterzüge, die Anlagen, Befähigungen usw. leihen darf. Nun, dies Ideal ist ja bereits meine Freundin, das höchste, was es werden kann. Deshalb schätze ich mich jetzt glücklich, dass ich eine reiche, rege, lebendige Fantasie habe; wenigstens glaube ich das, und das ist ja das Wesentliche. Ich baue mir mein Elysium auf, anders als die Griechen es dachten, meine campi fortunati, anders als die Römer, mein Eldorado, anders als die Spanier und mein Paradies auf Erden, anders als die ganze Welt. Und wenn ich mich damit begnügen muss. Gut, ich hadre nicht mit dem Geschick. Es kann ja nicht anders sein. Trotzdem sehe ich sie recht gerne und möglichst oft, ohne dass es auffällt. Leider ist dies aber ziemlich selten, bis ich mal wieder in der BergbahnLBarmen!Bergbahn einen kurzen Blick von einer oder allerhöchstens ein paar Sekunden auf sie werfen kann. Wenn es nur ihr Gesicht ist, das meine Freundin von diesem Mädchen hat, weshalb sehne ich mich denn nach ihrem Anblick. Gerade deshalb, damit mir meine ideale Freundin klarer vor dem inneren Auge steht. Denn je öfter ich sie sehe, desto besser kann ich mir, und wenn ich allein bin, mir das Bild vor die Seele malen. Dann bekommt das Bild auch eine Seele, wohl eine andere als das Mädchen in der BergbahnLBarmen!Bergbahn hat, das ja auch dies Gesicht hat, aber wenn eine andere, dann eine schönere. 🕮