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Zu diesem Editionsvorhaben und grundsätzlichen Betrachtungen über Carnaps Tagebücher siehe die ersten beiden Abschnitte der Einleitung zu Band 1 und die ebenfalls dort abgedruckten Editionsprinzipien. Die in der Einleitung des ersten Bandes begonnene biografische Darstellung wird hier chronologisch fortgesetzt. Im Folgenden wird Carnaps Leben nach geografischen Schwerpunkten in drei Zeiträume eingeteilt: Wiesneck 1919–1926 (Abschnitt 1), Wien 1926–1931 (Abschnitt 2), Prag 1931–1935 (Abschnitt 3). Für jede der drei Perioden werden in mehreren Unterabschnitten Schattierungen, vom Privaten zum Wissenschaftlichen, vom Individuellen zum Sozialen, dargestellt.
Die hier erfassten 15 Jahre sind die wichtigste Zeit der intellektuellen Biografie Carnaps. Sie beginnen mit einer Phase von sechs Jahren, in denen Carnap geografisch und sozial noch ganz in dem früheren Umfeld der deutschen Jugendbewegung tätig ist; in finanzieller Hinsicht zehrt er vom Familienvermögen, auf das er bis 1931 angewiesen bleibt. In dieser Zeit entsteht neben seiner Dissertation Der Raum (1921) auch die erste (verschollene) Fassung seines frühen Hauptwerks, Der logische Aufbau der Welt (im Folgenden kurz Aufbau), mit dem er sich in Wien habilitiert. Kontakte zu dem sich formierenden Netzwerk des Logischen Empirismus intensivieren sich im Umfeld der Erlanger Tagung (TB 4. III. 1923R) und münden in die Habilitation in Wien (1926), unterstützt von Moritz Schlick. Die Zeit in Wien als eine der zentralen Figuren des Wiener Kreises, neben Schlick und Otto Neurath, ist zwar gestört durch das endgültige Zerbrechen von Carnaps erster Ehe und eine jahrelange Tuberkuloseerkrankung, aber es ist auch eine Zeit von größter intellektueller Aktivität, in diversen Zirkeln und Netzwerken, Kaffeehäusern und Salons. 1930 lernt Carnap Ina Stöger kennen, die als Studentin seine Vorlesungen und Seminare besucht. Sie heiraten 1933. Er folgt 1931 einem Ruf an die Universität Prag. In Wien ist er nur als Privatdozent ohne fixes Gehalt tätig, in Prag kann er als Außerordentlicher Professor zumindest den Lebensunterhalt von seinen Einkünften bestreiten. Die Distanz zur philosophisch pulsierenden Wiener Szene befördert seine schriftliche Produktivität: In Prag entstehen wichtige Schriften, allen voran sein zweites Hauptwerk, die Logische Syntax der Sprache. Kontakte ins Ausland können geknüpft werden, nachdem spätestens 1933, mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland, für Carnap feststeht, dass eine akademische Karriere im deutschsprachigen Raum für ihn nicht denkbar ist. Der Plan geht im Jahr 1935 auf, mit der (zunächst allerdings zeit
Carnaps Wiesnecker Jahre sind eine Zeit des Übergangs. Komplexe Entwicklungen auf philosophischer Ebene (Abschnitt ), die in Carnaps erstes großes philosophisches Werk münden (Abschnitt ), korrespondieren Umwälzungen von Carnaps Anschauungen über Religion und Sexualität, mit Auswirkungen auf sein Familienleben (Abschnitt ). Sie resultieren in der Verlagerung des sozialen Netzwerks von der zunächst noch bestimmenden Jugendbewegung hin zum Wiener Kreis und zu Repräsentanten des im Entstehen begriffenen Logischen Empirismus (Abschnitt ).
Die sechseinhalb Jahre (August 1919 – April 1926), in denen Wiesneck nahe Buchenbach – das Landgut der Familie Schöndube, zehn Kilometer östlich von Freiburg – den Lebensmittelpunkt Carnaps darstellte, waren eine Zeit sich intensivierender intellektueller Aktivität.
I tried to show that the contradictory theories concerning the nature of space, maintained by mathematicians, philosophers, and phycicists, were due to the fact that these writers talked about entirely different subjects while using the same term “space”. I distinguished three meanings of this term, namely, formal space, intuitive space, and physical space. (SCH‚ 11 f.)
Die Dissertation ging teilweise zurück auf Carnaps im März 1920 eingereichte Prüfungsarbeit zum Staatsexamen „Welche philosophische Bedeutung hat das Problem der ‚Grundlegung der Geometrie‘?“.
Im Mai 1920 las Carnap erstmals die Principia Mathematica von Bertrand Russell und Alfred N. Whitehead und entwickelte darauf aufbauend das Konzept einer „Axiomatik der Raum-Zeit-Welt“.
Im Vorfeld der Niederschrift dieser ersten Skizze las Carnap Einschlägiges von Ernst Cassirer, Ostwald, Heinrich Rickert, Fritz Mauthner, Hugo Dingler. Im Anschluss daran Hermann Weyl, Avenarius, Mach und Hans Vaihinger. Im Herbst folgten eine intensive Husserl-Lektüre, aber auch Autoren wie Hans Driesch und Oswald Külpe traten hinzu und bildeten weitere Hintergründe für die zunächst im Jänner 1921 abgeschlossene Arbeit an der Dissertation (TB 28. I. 1921R). Aufgrund der Rückmeldungen von Bauch überarbeitete Carnap die Dissertation nochmals gründlich und fügte bis zum Sommer eine Reihe von weiteren Literaturhinweisen ein.
Aus den Aktivitäten des Jahres 1920 gingen so gesehen zwei wichtige theoretische Projekte Carnaps hervor, die ihn die Jahre bis zur Übersiedlung nach Wien und darüber hinaus beschäftigen sollten: das erwähnte Projekt einer ‚Topologie der Raum-Zeit-Welt‘, letztlich nichts weniger als der Versuch, die Principia Mathematica über den Bereich der Mathematik hinaus in die Physik auszudehnen, und das auf dem Treffen mit Freunden im August 1920 basierende Aufbau-
Eine wichtige Episode in dieser Zeit waren die auf einen Brief Carnaps im September 1920 zurückgehenden Interaktionen mit Hugo Dingler‚
Mein besonderes Gebiet ist die Philosophie der exakten Wissenschaften, die in den beiden letzten Jahrzehnten stark an Bedeutung gewonnen hat und eine wichtige Aufgabe zu erfüllen hat, da im letzten Jahrhundert die nach mathem. Methode verfahrenden Wiss. (Math., Physik, u. jetzt auch Logik) einen in Anbetracht dieser kurzen Zeit schon sehr weit gediehenen Aufbau begonnen haben, ohne viel Zeit auf die kritische Nachprüfung der Fundamente und Methoden dieses Aufbaus zu verwenden. […]
Deshalb kann sich hier als Helfer besonders nützlich machen, wer sowohl für Philosophie als auch für die mathem. Fachwissenschaften Neigung und Verständnis hat.
10 Carnap an die Serafreunde, 7. XI. 1920 (RC 081‑47‑01).
Carnaps wissenschaftliche Ambitionen in dieser Zeit waren (von der intensiven Arbeit an der Dissertation im Jahr 1921 abgesehen) nach wie vor eher zaghaft und verstreut. Die beiden in der ersten Hälfte der 1920er-Jahre entstandenen und publizierten Aufsätze Carnaps – „Über die Aufgabe der Physik“ und „Dreidimensionalität des Raumes und Kausalität“ – sind Gelegenheitsprodukte, deren Entstehung im Tagebuch entgegen der späteren Praxis unkommentiert bleibt.
In dieser Phase zögerlicher Entschlossenheit für eine Karriere als Wissenschaftsphilosoph kontaktierte Carnap erstmals den von ihm seit der Lektüre der Principia Mathematica (1920, LL ) und Our Knowledge of the External World (1921, LL ) verehrten Bertrand Russell. In seinem ersten Brief an den „Haupt-Obermotzen der Beziehungslehre“, wie er ihn in einer Mischung aus Ironie und Bewunderung in einem Brief an den Freund Wilhelm Flitner nennt‚
Es ist mir eine besondere Freude, daß gerade Sie es sind, dem ich als erstem Engländer jetzt auf wissenschaftlichem Gebiete die Hand reichen darf, da Sie schon zur Zeit des Krieges so freimütig gegen Geistesknechtung durch Völkerhaß, und für menschlich-reine Gesinnung eingetreten sind. Wenn ich an die gleiche Gesinnung des leider zu früh verstorbenen Couturat denke, so frage ich mich, ob es etwa bloßer Zufall sein könne, daß diejenigen Männer, die auf dem abstraktesten Gebiete der mathematischen Logik zur größten Schärfe vordringen, dann auch auf dem Gebiete der menschlichen Beziehungen klar und stark gegen Einengung des Geistes durch Affekte und Vorurteile ankämpfen.
13 Carnap an Russell, 17. XI. 1921 (RC 102‑68‑34).
Carnap folgte tatsächlich Russells Philosophie nur sporadisch. So hat er dessen Realismus immer abgelehnt; Carnaps Empirismus stammt aus der deutschsprachigen Tradition des Neukantianismus und Empiriokritizismus und war somit grundlegend verschieden von Russells direkt von Hume und Mill abgeleitetem Sinnesdatenempirismus. Letztendlich ging Carnap mit seinem logischen Toleranzprinzip auch auf der formalen Seite der Philosophie eigene Wege. Dennoch blieb Russell für ihn immer das größte Vorbild, was auch in späteren Jahren Carnaps Umgang mit der als überlebensgroß empfundenen Persönlichkeit prägte. In Carnaps Psychoanalyse taucht Russell als Vaterfigur auf (TBA 28. VIII. 1953), eine Fotografie vor der Sorbonne (September 1935) zeigt Carnap in untypisch schüchterner Pose vor Russell stehend (Abb. ). Russell seinerseits begegnete Carnap stets äußerst zuvorkommend (wenn auch distanziert), was vor allem in der Anfangsphase ihrer Bekanntschaft verblüfft: Um ihm den Zugang zu den in Freiburg nicht verfügbaren und zu dieser Zeit vergriffenen Principia Mathematica
Wichtigstes Produkt der Arbeit am Aufbau bis 1925 ist‚ neben zwei weiteren kleinen Skizzen von 1921‚
dass es bei den vorliegenden, sehr schwerwiegenden Rissen nicht mit einigen Korrekturen getan ist, sondern ein völliger Neubau vom Grundstein an vorgenommen werden muss, der freilich in sehr vielen Zügen mit dem bisher üblichen Bau übereinstimmen wird. Damit nehmen wir auch die erkenntnistheoretische Fiktion des Aufbaus vom Chaos aus an. (RC 081‑05‑01)
1923 reifte auch der Plan einer wissenschaftlichen Karriere weiter. Als Thema einer möglichen Habilitation in Wien brachte Schlick im Sommer 1924 erneut Carnaps Aufbau-Projekt ins Spiel. Im Frühjahr 1925 begann er schließlich das Buch auszuarbeiten, mit einer Konsequenz und Arbeitsenergie, die nichts mehr von dem zaghaften Agieren der frühen 1920er-Jahre hatte. Ein halbes Jahr später lag ein zweibändiges Typoskript vor. Akribisch hatte Carnap täglich die jeweils verfassten Paragraphen des Buches auf Millimeterpapier eingezeichnet (RC 081‑05‑08). Neben der inhaltlichen Arbeit hatte er, wie schon bei der Dissertation, einige Wochen in der Universitätsbibliothek in Freiburg zugebracht, auf der Suche nach zusätzlichem Material, um „den Leser, dem das Ganze sicher fremdartig u. stellenweise unsinnig vorkommt, etwas zu besänftigen, indem er bemerkt, daß alle einzelnen Gedanken eigentlich längst schon da sind“.
Vor kurzem hab ich das Gesuch [nach Wien‚ C. D.] hingeschickt mit dem halben MS, das ganze wird in den nächsten Tagen fertig. Ich bin froh. Bisher war
16 noch keine Arbeit so aus meinem Herzen geschrieben wie diese […], wenn ich auch manche mit Freude geschrieben habe […]20 Carnap an Roh, 18. XII. 1925 (FR).
Der Aufbau oder, so der ursprüngliche Titel des Buches, der „Versuch einer Konstitutionstheorie der Begriffe“‚
Der Botaniker vollzieht in der Wahrnehmung ohne bewußte Denktätigkeit die Gegenstandsbildung einer einzelnen Pflanze als eines physischen Dinges und auch meist intuitiv die Erkennung dieses Dinges als Pflanze von der und der Art. Daß [dies] […] intuitiv geschieht, hat den Vorzug der Leichtigkeit, Schnelligkeit und Evidenz. Aber die intuitive Erkennung (z. B. der Pflanze) kann nur deshalb für weitere wissenschaftliche Verarbeitung verwertet werden, weil es möglich ist, die Kennzeichen (der betreffenden Pflanzenart) auch ausdrücklich anzugeben, mit der Wahrnehmung zu vergleichen und so die Intuition rational zu rechtfertigen. (§ 100)
Der Aufbau stellte die Weiterentwicklung der im „Chaos“-Typoskript und einigen weiteren theoretischen Skizzen protokollierten Überlegungen dar, die – wie Carnap einräumte – unter dem Einfluss der Lektüre Russells – neben den Principia Mathematica vor allem Our Knowledge of the External World – standen, aber auch beeinflusst waren durch eine Reihe von weiteren Autoren: von Frege sowie Denkern aus dem Umfeld des Marburger Neukantianismus, des Empiriokritizismus, der Phänomenologie, des Konventionalismus und der Dilthey-Schule.
Das Ziel der vorliegenden Untersuchungen ist die Aufstellung eines erkenntnismäßig-logischen Systems der Gegenstände oder Begriffe des „Konstitutionssystems“. […] Ein Gegenstand (oder Begriff) heißt auf einen oder mehrere andere Gegenstände „zurückführbar“ [bzw. kann aus ihnen „konstituiert“ werden‚ C. D.], wenn alle Aussagen über ihn sich umformen lassen in Aussagen über diese anderen Gegenstände. […] Unter einem „Konstitutionssystem“ verstehen wir eine stufenweise Ordnung der Gegenstände derart, daß die Gegenstände einer jeden Stufe aus denen der niederen Stufe konstituiert werden. (§§1–2)
Grundlage der Rückführung sind schon 1920 sichtbare Ideen über die Zusammenhänge der Gegenstandssphären, wie der psychophysische Parallelismus oder die Annahme, dass verschiedene menschliche Subjekte analog funktionieren. Wie aber sollten diese aus der modernen Psychophysik und Geisteswissenschaft stammenden Konzepte in einem analytischen Begriffssystem umgesetzt, also rein logisch ausgewertet werden?
Carnaps diesbezügliche Schlüsselidee ist eine Referenz auf Konzepte, die sich bei Mach und Avenarius ebenso finden wie in der Marburger Schule des Neukantianismus, bei Hermann Cohen, Cassirer und Natorp oder auch Schlick. Alle diese Philosophien lehnen den Substanzbegriff ab und propagieren stattdessen die wissenschaftliche Erfassung der Wirklichkeit allein über Funktionen und Beziehungen. So etwa Mach schon 1876: Die „einfachsten Thatsachen“ (Elemente, Atome) sind „an sich immer unverständlich, d. h. nicht weiter zerlegbar“, sie haben keine Eigenschaften oder Attribute, sondern können nur aus ihren Beziehungen zu anderen einfachsten Tatsachen verstanden werden: „Verstehn besteht eben im Zerlegen.“
Wenn dann immer noch zwei Glieder des Gegenstandsbereiches homotop [strukturgleich‚ C. D.] sind, so haben wir es eben mit zwei geographisch nicht unterscheidbaren Orten zu tun. Gehen wir dann zu einer neuen Art von Beziehungen über und berücksichtigen auch ebenso etwa alle historischen Beziehungen zwischen den Orten usf., so werden wir schließlich alle realwissenschaftlichen Begriffe, die physischen und die kulturellen, benutzt haben. Sollte nun nach Erschöpfung sämtlicher zu Gebote stehenden wissenschaftlichen Beziehungen sich noch kein Unterschied zwischen den beiden Orten ergeben haben, so sind sie eben nicht nur für die Geographie, sondern überhaupt für die Wissenschaft ununterscheidbar. Daß sie subjektiv verschieden sind, indem etwa ich mich an dem einen Orte befinde, an dem anderen nicht, bedeutet objektiv keine Unterscheidung; an dem anderen Orte wird ja dann ein genau gleich beschaffener Mensch sich befinden, der ebenso sagt: ich bin hier und nicht dort. (§ 14)
Da das Letztgenannte eine eher artifizielle Option ist geht Carnap davon aus, dass solche ‚für die Wissenschaft ununterscheidbaren‘ Gegenstände in der empirischen Wirklichkeit nicht vorkommen, sodass ‚rein strukturelle Kennzeichnungen‘ tatsächlich jeden empirischen Gegenstand eindeutig charakterisieren.
Die ‚Grundelemente‘ im Aufbau sind, wie schon 1920 im „Skelett der Erkenntnistheorie“ vorgezeichnet, sogenannte ‚Elementarerlebnisse‘ (‚Tatsachen des Bewusstseins‘), die Carnap wählt, weil er (hier noch im Gegensatz zur empiriokritizistischen Tradition) der Auffassung ist, diese seien ‚erkenntnismäßig primär‘ (§ 54). Dieser Gedanke, dass die Grundlage des Erkennens nur im ‚Eigenpsychischen‘ zu finden ist, stellt einen Restbestand an Phänomenologie, klassischem Positivismus und Kantianismus dar, den Carnap in den 1930er-Jahren verwirft.
Die begriffliche Welt des Aufbau ist, im Rahmen eines im weitesten Sinn verstandenen Empirismus, frei von erkenntnismindernden reduktionistischen Einschränkungen, wie sie etwa ein dogmatischer Behaviorismus mit sich bringt. Neben eigen- und fremdpsychischen sowie physischen Gegenständen sind auch ‚geistige Gegenstände‘ enthalten, die Carnap, im Anschluss an Hans Freyer und Wilhelm Dilthey, von ihren psychischen und physischen Manifestationen her analysiert (§ 24). Werte versteht er als in ihren eigenpsychischen Manifestationen (Werterlebnissen) gegeben (§ 152). Die Konstitutionstheorie deckt damit genau den Bereich der wissenschaftlichen Welt als der intersubjektiv-objektiven ab (§ 149). Restriktionen nimmt die Konstitutionstheorie nur hinsichtlich solcher Gegenstände bzw. solcher Unterscheidungen vor, die sich nicht intersubjektiv kommunizieren lassen und daher in der Wissenschaft nicht vorkommen. Private (nicht kommunizierbare) eigenpsychische Erfahrungen bleiben im Aufbau ebenso unberücksichtigt wie Geistiges, das sich nicht in psychischen oder physischen Gegenständen manifestiert. Traditionelle philosophische Unterscheidungen wie die zwischen Realismus, Idealismus und Phänomenalismus gehen dadurch verloren (§175). Konzeptuelle Rahmenwerke werden nicht mehr als beweis- oder widerlegbare Theorien aufgefasst, sondern sind eine Frage der Konvention.
Die Wiesnecker Jahre von 1919 bis 1926 wurden von Carnap im Rückblick als glückliche Zeit beschrieben.
After the depressing war, this was a happy period. The life with wife and children, in a house in the country surrounded by wooded hills and mountains; visits by friends, talks and music, in the summertime also visits by friends who spent their vacations in the neighborhood. We lived in the unconventional style that I had experienced before the war in the Youth Movement. We formed our lives, our relationships with others and the education of our children according to our own ideas, tastes and consciences. (AB‚ D1)
In dieser Zeit vollendete Carnap die Transformation seiner Weltanschauung, die bereits mit Kriegsende eingesetzt hatte. Er blieb ein Sozialist, der pflichtbewusst seinen Teil zum gesellschaftlichen Fortschritt beitragen wollte. Nach Gesprächen im Frühjahr 1920 mit Flitner, dem befreundeten Pfarrer Fritz von Baußnern und anderen (TB 22.-25. V. 1920) sagte er sich von der Kirche los:
Bei unsern Gesprächen über Christentum und Kirche wurde mir meine Skepsis über das, was von der Kirche Segensreiches für unsre Zeit zu erwarten sei, zu solcher Klarheit, daß ich ihr den Rücken wandte.
25 Carnap an die Serafreunde, 7. XI. 1920 (RC 081‑47‑01).
Die Abgrenzung Carnaps von der Kirche bedeutete zwar für ihn auch die Überwindung religiösen Glaubens, nicht aber die generelle Zurückweisung von Religiosität als einer Art moralischer Haltung. Diese hat Carnap zeitlebens hoch geschätzt:
Since I experienced the positive effect of a living religion in the lives of my parents and in my own life during childhood, my respect for any man whose character I esteem highly is not diminished by the fact that he embraces some form of religion, traditional or otherwise. At the present stage of development of our culture, many people still need religious mythological symbols and images. It seems to me wrong to try to deprive them of the support they obtain from these ideas, let alone to ridicule them. (SCH‚ 8)
Was Carnap 1920 überwand, war sein eigener Glaube. Sosehr er Religion als nicht mehr zeitgemäß empfand, respektierte er aber eine religiöse Haltung bei anderen, solange diese auf die Ebene der persönlichen Einstellung beschränkt blieb (vgl. die Einleitung zu Band 1, B.2 und C.1). Hier ganz dem Herbartianismus seines Großvaters Wilhelm Dörpfeld folgend‚
Es ist […] für mich eine Art von Postulat oder Glaubenssache, dass alles, was in irgend einem Sinne wirklich genannt werden soll, im Grunde in einem festen Zusammenhang mit meiner (einzigen) Wirklichkeit stehen muss. Ich glaube nicht an die Wirklichkeit eines Geschehens, das nicht in der Geschichte nach oben und unten in Fäden hinge […].
27 Carnap an Flitner, 10. XII. 1921 (RC 081‑48‑04).
Diese weltanschaulichen Entwicklungen und Klärungen führten, gemeinsam mit Carnaps schon 1918 stattgefundener Hinwendung zum Sozialismus, zu Spannungen in der Familie und waren mit-verantwortlich für das Zerbrechen von Carnaps erster Ehe. Man war „zu verschieden“ (TBA‚ 11. X. 1954). Spannungen gab es von Anfang an in Wiesneck, aber man entschloss sich immer wieder zu einem Neuanfang. Selbst die räumliche Trennung durch Carnaps Übersiedlung nach Wien (Frau und Kinder gingen gleichzeitig für einige Monate nach Mexiko) hinderte die Eheleute nicht, weiter über einen Neuanfang nachzudenken. Die Scheidung fand tatsächlich erst Ende 1929 statt.
Hintergrund der an die 1968er-Generation erinnernden sexuellen Befreiungserlebnisse der 1920er-Jahre war bei Carnap wie bei vielen anderen eine asexuelle Erziehung: „Sehr spät Sex; vorher auch nicht Masturbation. Puritanische Einstellung der Familie. […] Die Mutter war in vielem frei und offen, aber nicht im Sprechen über Sex.“ (TBA 8. X. 1954) Nach 1918 wandelte sich diese Einstellung, die Sex allenfalls in der Ehe zuließ (und auch dort nur eingeschränkt) in die geradezu gegenteilige Weltanschauung, die Carnap 1954 seinem Psychoanalytiker auseinandersetzte: „Wenn man einen Menschen liebt, ist es doch klar,
Carnaps Familienleben mag unter den außerehelichen Beziehungen und weltanschaulichen Konflikten der Eheleute gelitten haben, mehr aber darunter, dass er schon in den frühen 1920er-Jahren wenig Anstalten machte, sich eingehend mit seinen Kindern zu beschäftigen. Die Kinder spielen im Tagebuch und, so hat es den Anschein, in Carnaps Leben insgesamt eine Nebenrolle. Sie mussten, so der retrospektive Bericht von Hannah Thost‚
Carnap war, an heutigen Maßstäben gemessen, kein Familienmensch. Er hatte zwar fünf Kinder, aber selbst zu den drei ehelichen Kindern entwickelte er keine intensive väterliche Beziehung. Er selbst sprach in diesem Zusammenhang oft von (nicht näher erläuterten) „Hemmungen und inneren Beschränkungen“. Diese Hemmungen führten auch dazu, dass Carnap in seiner zweiten Ehe den Kinderwunsch seiner Frau ablehnte (TBA‚ 13. VI. 1955). Dennoch konnte er, wenn sich die rare Gelegenheit bot, durchaus ein liebevoller Vater sein, offen für Diskussionen und Spiele. Auch hielt er den Kontakt zu seiner ersten Frau Elisabeth, zu Maue Gramm und den Kindern, über die Emigration hinaus. Nach dem Tod seiner Frau Ina im Jahr 1964 übersiedelte seine Tochter Hannah Thost mit ihrer Tochter Erika 1966 nach Kalifornien. In den letzten Jahren von Carnaps Leben entstand so vielleicht doch noch ein Stück von dem Familienleben, das er in früheren Jahren versäumt hatte.
Ab 1919 entwickelte sich in Wiesneck, wie Wilhelm Flitner in seinen Erinnerungen ausführt,
eine kleine Zelle der Jugendbewegung um Carnap. Seine Schwägerin [Grete Schöndube‚ C. D.] eröffnete eine Gymnastikschule im Lohelandstil und ge
23 wann dafür den Musikus und Komponisten [Christian] Lahusen; zwei Naumburger Seramädchen, Schneiderin [Margret Arends‚ C. D.] und Buchbinderin [Hanne Küstermann‚ C. D.], quartierten sich beim Pächter des Bauerngutes [Kiechle‚ C. D.] ein. Wie allerorten war eine Art kurzlebiger Siedlung im Entstehen.
Die regelmäßigen Treffen mit Flitners, Rohs und Freyer fanden seit 1919 meist im Sommer statt. Man traf sich in Wiesneck und die Freunde waren entweder dort oder in Buchenbach, gelegentlich auch im nahen St. Peter einquartiert. Es gab Diskussionen, Tänze, Ausflüge zu kulturellen Aktivitäten ins nahe Freiburg und Wanderungen in Hinterzarten bzw. Schitouren auf dem Feldberg, mit der Bahn, gelegentlich per Rad und immer häufiger mit dem Auto.
Im August 1920 (TB 11. – 14.) traf man sich in Wiesneck zu wissenschaftsphilosophischen Diskussionen mit den Freunden aus der Jugendbewegung: neben Flitner, seiner philosophisch ebenfalls interessierten Frau Elisabeth (Lisi) und dem aufstrebenden Soziologen Hans Freyer der Kunsthistoriker und Verfechter der Neuen Sachlichkeit in Malerei und Fotografie Franz Roh und dessen Frau Hilde.
[Die] gemeinsamen wissenschaftlichen Gespräche [sind] Rudi von grosser Wichtigkeit […]. Er sieht jetzt immer so gesund und heiter aus. Er strahlt richtig, wenn er mit den Freunden von ihrem Beratungshügel zum Essen herabsteigen [sic], um auch an irdische Speise zu denken. […Der Brief wird am folgenden Tag fortgesetzt‚ C. D.:]
Heute morgen bin ich mit auf dem Hügel gesessen. Sie lagen alle vor Rudi auf dem Bauch, der hockte am Boden u. referierte, ringsum blühten die Erikas und Silberdisteln und die Berge umschleierte ein blauer Dunst. Vor dem Essen musizierten sie noch unten zu dritt und H[ilde] Roh massierte mich auf d. Veranda, wo auch Lisi’s Kleine unter den vielen Blumen lag, die mir in den Kästen so schön gediehen sind.
32 Elisabeth an Anna Carnap, 12. – 13. VIII. 1920 (RC 025‑85‑29).
Carnap selbst berichtet im Herbst in einem Brief an die Sera-Freunde von den Wiesnecker Diskussionen:
August und September hatten wir eine schöne Zeit mit Flitners zusammen, die hier bei uns waren. Im August haben wir eine Woche Wissenschaftslehre zusammen getrieben. Da wohnten nämlich noch Franz und Hilde Roh und Freyer hier im Dorfe. Wir besprachen da […] das System der Wissenschaften, insbesondere die Zusammenhänge zwischen Logik, Mathematik, Physik, Psychologie. Diese Besprechungen waren besonders für mich sehr fördernd, teils klärend, teils durch unbehobene Unklarheiten anregend; kein Wunder, da ich egoistischerweise mein Hauptinteressengebiet als Thema vorgeschlagen hatte.
33 Carnap an die Serafreunde, 7. XI. 1920 (RC 081‑47‑01).
Ausgangspunkt der Diskussionen war eine von Carnap verteilte Skizze von Wilhelm Ostwalds „Pyramide der Wissenschaften“‚
Ab 1921 setzte sich die Wiesnecker Idylle nur bedingt fort. Carnap entwickelte für ein Jahr große intellektuelle Betriebsamkeit, mit der Fertigstellung seiner Dissertation, dem Verfassen von zwei philosophischen Aufsätzen, einer Reihe von Skizzen zu Aufbau und Raum-Zeit-Topologie. Er trat in brieflichen Kontakt mit Hugo Dingler (Sept. 20) und Bertrand Russell (Nov. 21). Trotz des Entschlusses zu einer akademischen Karriere blieb Carnap aber in dieser Zeit noch im Kontakt mit der freien Schul- und Volkshochschulszene. So etwa im Rahmen der Wartburgwoche (TB 27. V. – 2. VI. 1920) und der Weimarwoche (TB 21. – 28. VIII. 1921) der Volkshochschule Jena. Im März 1922 unterrichtete er für einige Wochen an der freien Schulgemeinde Wickersdorf (TB 11. III. – 3. IV. 1922).
Vor dem Hintergrund dieser zum Teil in die Ferne weisenden Aktivitäten gab die Gymnastikschule der Schwägerin Grete Schöndube der ‚Zelle der Jugendbewegung um Carnap‘ einen neuen Impuls. Vermutlich im Rahmen einer Tätigkeit als Gymnastiklehrerin an dessen Münchner Schule für Gymnastik und Tanz lernte Schöndube den Komponisten und Choreographen Christian Lahusen kennen und gründete mit diesem die Schwarzwaldschule für Gymnastik, Einzel- und Chorbewegung – Haushalt Gärtnerei, die am 1. X. 1922 ihren Betrieb aufnahm, und zwar direkt neben dem Gut Wiesneck der Familie Schöndube. Es handelte sich
Die Schwarzwaldschule ist eine Fachschule für Gymnastik, Tanz und Chorbewegung. Neben der beruflichen Ausbildung vermittelt sie gründliche Kenntnisse in Haushalt und Gärtnerei. Ergänzt wird diese körperliche Arbeit durch die Pflege wissenschaftlicher und künstlerischer Gebiete. […] Daneben ermöglicht die Schule solchen Schülerinnen, die den künstlerischen Einzeltanz zu ihrem Beruf machen wollen, eine vollständige Ausbildung, indem sie den Sinn für Raum und Musik entwickelt und selbständiges Gestalten kritisch fördert.
35 „Schwarzwaldschule für Gymnasik, Einzel. und Chorbewegung, Haushalt, Gärtnerei“, Universitäts"= und Landesbibliothek Münster, Nachlass Christian Lahusen, Kapsel 3, Sigle 3‚108.
Carnap verfolgte die Aktivitäten der Schule im ersten Semester als permanenter Zaungast. Die wissenschaftlichen Aktivitäten traten im Jahr 1922 hingegen erneut in den Hintergrund (neben dem in wenigen Tagen geschriebenen „Chaos“-Manuskript und dem zu Jahresende verfassten, ebenfalls dem Aufbau zugehörigen Text „Die Quasizerlegung“
Die Tagung war in zwei Teilen – „Beziehungslehre“ und „Aufbau der Wirklichkeit (Strukturtheorie des Erkenntnisgegenstandes)“ – konzipiert. Diesen programmatisch auf sein Aufbau-Projekt zugeschneiderten Themen entsprechend präsentierte Carnap zwei Kernstücke davon. Zum ersten Thema die Ideen über „Charakterisierung von Strukturen“ (TB 10. II. 1923R), die auf der „Quasizerlegung“ basieren; zum zweiten Teil „Vom Chaos zur Wirklichkeit“. Die Diskussionen in Erlangen führten zunächst jedoch überraschender Weise dazu, dass Carnap erneut seine gesamte Energie in das im Frühjahr 1920 begonnene, 1921 aber liegen gelassene Projekt einer „Topologie der Raum-Zeit-Welt“ investierte (TB 21. V. 1923R) und nicht in das Aufbau-Projekt. Die Tagung war für Carnap persönlich also ein Misserfolg. Über die Gründe kann man nur spekulieren. Kritik löste jedenfalls nicht der erste formallogische Teil über Strukturaussagen („Quasizerlegung“) aus, sondern das auf dem „Chaos“-Manuskript basierende „Hauptreferat: Aufbau der Wirklichkeit“. Es gab einen „heftigen Kampf über die ‚Bestandteile‘ des Momentanerlebnisses und die verknüpfende Beziehung Q“ (TB 9. III. 23), dann, drei Tage später, nochmals ein „heftiger Kampf um die Frage der zeitlosen Geltung der logischen Gesetze“ (TB 12. III. 23). Worin genau die ‚Kämpfe‘ bestanden, ist unklar. Dass einigen Tagungsteilnehmern die moderne Logik nicht vertraut war, mag eine Rolle gespielt haben. Aber auch Logiker wie Behmann waren möglicherweise von Carnaps zutiefst philosophischen Zielsetzungen wenig angetan. Ganz sicher gilt dies für Reichenbach, der Carnap und den Wiener Kreis stets dafür kritisiert hat, eine seiner Meinung nach zu wenig puristisch wissenschaftstheoretische Haltung einzunehmen. Fest steht jedenfalls, dass die Rückmeldungen von der Erlanger Tagung Carnap davon überzeugten, das Aufbau-Projekt vorerst ad acta zu legen und stattdessen, hier wohl der Empfehlung Reichenbachs folgend, das philosophisch weniger provokante Projekt der Raum-Zeit-Topologie erneut in Angriff zu nehmen.
Nach der Erlanger Tagung reisten Carnap und seine Frau, begleitet von dem einjährigen Sohn Johannes (die beiden Töchter blieben unter der Obhut von Carnaps Mutter in Wiesneck) für ein halbes Jahr nach Mexiko. Auf dem Hinweg hatte Carnap Gelegenheit, beim Treffen der American Mathematical Society in New York Kontakte zu den Mathematikern und Esperantisten John Wesley Young und Edward Huntington zu knüpfen (TB 28. IV. 1923R). Es ging in den Gesprächen unter anderem um einen Zeitschriftenplan, den Carnap zuvor gemeinsam mit Reichenbach ausgearbeitet hatte und der letztlich in die Gründung der Erkenntnis (als Nachfolgeorgan zu den Annalen der Philosophie) im Jahr 1930 mündete (TB 6. IV. u. 2. V. 1923). Die New Yorker Gespräche fand Carnap insgesamt ermutigend: „das Resultat: ich sehe die Sache nicht mehr so zaghaft u. skeptisch an wie vorher“.
In Mexiko hielt man sich zeitweise im Haus der Familie Schöndube in Mexiko-Stadt auf, unternahm Bergtouren auf die großen Vulkane in Stadtnähe – den Ajusco (Abb. ) am 27. V. und den Popocatépetl am 4./5. IX. – und verbrachte Zeit auf der 500 km westlich von Mexiko-Stadt gelegenen, im Familienbesitz der Schöndubes befindlichen Hacienda de la Esperanza. In Mexiko-Stadt war das gesellschaftliche Leben durchaus anregend. Elisabeth Carnap organisierte eine Ausstellung der zu dieser Zeit dort lebenden Malerin und Wegbereiterin der Moderne Ottilie Reylaender (TB 25. VIII.). Carnap begegnete dem in Mexiko-Stadt lehrenden Ökonomen Alfons Goldschmidt, eine Art Vorwegnahme der für Carnaps späteres Leben so wichtigen Persönlichkeit Otto Neurath (TB 17. VIII.). Und: Carnap stürzte sich während des gesamten Aufenthaltes in intensive Arbeit an der ‚Raum-Zeit-Topologie‘.
Noch während des Aufenthaltes in Mexiko zeichneten sich wirtschaftliche Probleme ab: Die Hyperinflation in Deutschland im Jahr 1923 hatte das Familienvermögen, von dem Carnap bis dahin unbeschwert leben konnte, weitgehend aufgezehrt.
Zurück von der Mexiko-Reise widmete sich Carnap mit Elan der Auslotung von Perspektiven für den Aufbau einer wissenschaftlichen Karriere. Zunächst schien ihm die Option einer Habilitation bei Husserl in Freiburg am plausibelsten, wegen der räumlichen Nähe zu seinem Wohnort. Er besuchte Lehrveranstaltungen Husserls im Wintersemester 23/24 (TB 13. XI. 1923R), Husserl verhielt sich aber ablehnend. Pläne einer Habilitation in Jena und (auf Einladung durch Heinrich Scholz) in Kiel verfolgte Carnap nur zögerlich weiter – er war, wie er Flitner eher zwiespältig schrieb, „nicht unbedingt abgeneigt“
Im Jänner 1924 bildete sich ein vielleicht von Carnap initiierter kurzlebiger Donnerstags-Zirkel über Erkenntnistheorie bei Carnaps Freund Bernhard Merten, der bei Husserl studiert hatte (TB 17. I. bis 28. II. 24). Nach dem Fehlschlag in Freiburg und Carnaps zögerlicher Haltung zu anderen möglichen Optionen einer Habilitation (Kiel) eröffnete sich schließlich im Sommer 1924 eine andere Möglichkeit, als Schlick, via Reichenbach, an Carnap herantrat und ihm die Möglichkeit einer Habilitation in Wien anbot (TB 6. VII., 15. – 17. VIII. 1924): „soeben erhalte ich von Schlick Nachricht. Er würde sich sehr gern für Ihre Habilitation bemühen und schätzt Ihre Arbeiten sehr.“
Im Sommer reiste Carnap zum Esperanto-Kongress nach Wien (TB 4. –21. VIII. 24). Dort traf er erstmals den Philosophen und Ökonomen Otto Neurath, Leiter des Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseums (damals noch „Museum für Siedlungs- und Städtebau“), einer Institution des Roten Wien, mit dem er bereits Ende 1923, auf Vermittlung des gemeinsamen Freundes Roh, zum ersten Mal Briefe gewechselt hatte.
Sie wissen wohl von Roh, wie groß mein Interesse für die Bestrebungen ist, die in Ihrem Kreise gepflegt werden, aber ich komme freilich immer mehr zur Anschauung, daß eine grundsätzliche Änderung unserer Zeit auf breitester Basis vor sich geht und daß das, was wir Intellektuellen ausdenken, nur ein schwaches Element in dem ganzen Getriebe ist, dessen Wesen besser zu erkennen vor allem wichtig ist – auch für die Tat!
Im Anschluss an die vielversprechenden Treffen mit Neurath (TB 8. u. 12. VIII. 24) reiste Carnap nach Längenfeld in Tirol und besprach dort mit Schlick den Plan der Habilitation in Wien (TB 15. u. 16. VIII. 24). Zurück in Wiesneck arbeitete er an einer philosophischen Terminologie in Esperanto (TB 29. VIII. – 28. IX.), im Herbst unterrichtete er an der Volkshochschule Freiburg zum Thema „Wie gewinnen und prüfen wir unsere Meinungen“ (4. XI.). Dann rückte immer mehr die „Konstitutionstheorie“ in den Fokus.
Als Carnap Anfang 1925 auf Einladung Schlicks eine Präsentation im Wiener Kreis gab, wählte er dennoch – wohl mit dem Ziel, einen erneuten Fehlschlag im Stil der Erlanger Tagung zu vermeiden – wieder das Projekt der „Raum-Zeit-Topologie“ (TB 15. I. 1925R) und musste erst von den Wienern überredet werden, eine Woche später einen weiteren Vortrag zu halten, diesmal zum Aufbau: „Prolegomena zu einer Konstitutionstheorie“ (TB 22. I.). Carnap war auch dann noch der Auffassung, er würde lediglich das 14seitige „Chaos“-Typoskript in leicht modifizierter Form und auf 30 Seiten erweitert zur Habilitation einreichen. Erst die begeisterten Reaktionen Schlicks und von dessen Schülern Friedrich Waismann und Herbert Feigl (und vielleicht deren und des Mathematikers Hans Hahn eher reservierte Rückmeldungen zur Raum-Zeit-Topologie) bewogen ihn dazu, seine gesamte Arbeitsenergie erneut umzulenken und auf das Aufbau-Projekt zu konzentrieren.
Neben den Wiener Vorträgen blieb aber immer noch Zeit für einen Monat Schiurlaub in der Schweiz, teilweise gemeinsam mit Roh und dem Architekturhistoriker Sigfried Giedion. Erst Ende März kam Carnap wieder zur Arbeit an der Habilitation (28. III.). Es folgten Monate intensiver Arbeit, aufgelockert durch Ausflüge zum Feldberg, eine Reise zum Esperantokongress in Genf (TB 31. VII. – 7. VIII. 25) sowie Arbeitsreisen nach Leipzig, Jena (TB 30. IV. – 18. V. 25) und Kiel (21.-22. VII. 25) und die Hochzeit seiner Schwägerin Grete Schöndube (TB 17. IX. 25). Am 27. XII. war die Konstitutionstheorie „fertig getippt“: Zeit für einen Schiurlaub in Glaris bei Davos, diesmal gemeinsam mit Giedion, der Kunsthistorikerin Carola Giedion-Welcker, dem Künstler und Kunsttheoretiker László Moholy-Nagy und dem Musikwissenschaftler Heinrich
Zurück in Wiesneck kamen Carnap und Dorothea (Maue) Gramm einander näher (Abb. , TB 16. I. 1926R), die mit ihrem Ehemann, dem Münchner Philosophen Josef Gramm, in Buchenbach bei Christiansen zu Gast war. Die sich rasch entwickelnde Beziehung wurde von Josef Gramm toleriert, der die von Carnap gezeugten Kinder als Vater annahm. Maue Gramm und Carnap erwogen in den folgenden Jahren immer wieder ein gemeinsames Leben, bis Letzterer 1930 Ina Stöger kennenlernte. Die letzten Monate in Wiesneck waren geprägt von einem Gefühlswirrwarr, hervorgerufen durch Elisabeths uneheliches Kind (TB 7. II. 1926R); den Vater Christiansen als familiären Dauergast und gleichzeitig philosophischen Diskussionspartner Carnaps; die Ausflüge zu und mit Maue Gramm. Das Zerbrechen von Carnaps Ehe ging in diesem Trubel beinahe unter: „Elisabeth ist ziemlich bitter; ihr ist die Zeit doch schwer geworden. Sie sagt aber, hauptsächlich werde ihr mein Hiersein schwer, nicht meine Abwesenheit“. (TB 24. IV.) Am 3. V. bezog Carnap ein „trübseliges Zimmer im Hotel Westbahn“ in Wien; am 20. VIII. bestieg Elisabeth Carnap mit den vier Kindern den Dampfer nach Mexiko, wo sie die folgenden vierzehn Monate verbrachten (Abb. ).
Zwar sind die knapp fünfeinhalb Jahre, die Carnap, allerdings mit längeren Unterbrechungen, in Wien verbrachte, die wichtigste Zeit seiner intellektuellen Biografie – dort wurde er zu dem Philosophen des Wiener Kreises, als der er bis heute primär wahrgenommen wird –, aber als Ort der persönlichen und beruflichen Entfaltung war Wien von Anfang an als Zwischenstation angelegt (Abschnitt ). Die Wiener Zeit Carnaps war intensiv und ereignisreich, aber die philosophischen Werke, die in diesen Jahren entstanden, sind überschaubar (Abschnitt ). Wien brachte wichtige Veränderungen in privater Hinsicht – 1930 lernte Carnap seine zweite Frau Ina kennen – sowie Weichenstellungen für seine wissenschaftliche Karriere (Abschnitt ). Darüber hinaus wurde Carnap über den Wiener Kreis zum Repräsentanten einer Spielart Wienerischer Kultur der Zwischenkriegszeit, was sich an wesentlichen Einflüssen von Wiener Philosophen auf sein Denken illustrieren lässt (Abschnitt ).
Mit der Übersiedlung nach Wien als Privatdozent ohne feste Besoldung begann Carnaps steile wissenschaftliche Karriere: Nur zehn Jahre später war er Professor an der University of Chicago und angesehen als einer der führenden Vertreter der neuen, an den Wissenschaften orientierten Spielart von Philosophie. Dennoch war der Weg dorthin durchaus von Hindernissen durchzogen. Gleichzeitig setzte mit der Wiener Zeit eine Entwicklung ein, die Carnap auf der persönlichen Ebene im Rückblick eher als negativ empfand, wie eine Passage der ersten Fassung seiner Autobiografie verdeutlicht:
After the war, in the Buchenbach period, the same spirit [of the German Youth Movement] was still vivid in the life of my newly founded family and in the relations with friends. When I went to Vienna, however, the situation changed. I still preserved the same spirit in my personal attitude, but I missed it painfully in the social life with others. None of the members of the Vienna Circle had taken part in the Youth Movement, and I did not feel myself strong and productive enough to transform single-handedly the group of friends into a living community, sharing the style of life which I wanted. Although I was able to play a leading role in the philosophical work of the group, I was unable to fulfil the task of a missionary or prophet. Thus I often felt as perhaps a man might feel who has lived in a religiously inspired community and suddenly finds himself isolated in the Diaspora and not strong enough to convert the heathens. The same feeling I had in a still greater measure later in America, where the power of traditional social conventions is much stronger than it was in Vienna and where also the number of those who have at least sensed some dissatisfaction with the traditional forms of life is smaller than anywhere on the European continent. (AB‚ B35f)
Vielleicht sind die Gefühle, die Carnap hier beschreibt, vor allem die in den jeweiligen Anfangsphasen der Übersiedlungen (nach Wien und Chicago) stark empfundenen Verlustgefühle. Die Ankunft in Wien war jedenfalls nicht einfach. Carnap stürzte aus dem Wiesnecker Gefühlskuddelmuddel auf den harten Boden der noch unbekannten Wiener Realität. Er war und blieb kein Mensch der Groß
Plötzlich allein, kam ich zum Grübeln über allerhand Dinge, dazu kam Deine Nachricht über die Reise nach Mexico, die die Ablösung von Wiesneck und vielleicht von der Familie stärker zum Bewußtsein brachte, als ich sie vorher gesehen hatte; dazu die Spannung infolge der Ungewißheit dessen, was sich hier entwickeln würde, sowohl beruflich als persönlich.
47 Rudolf an Elisabeth Carnap, 20. VI. 1926 (RC 025‑31‑63).
Wichtige Teile der bisherigen Existenz waren verloren: die Familie, das jugendbewegte Leben. Diese Verluste waren, wie sich im Laufe der Jahre zeigen sollte, endgültig. Carnap lebte sich allerdings in Wien rasch ein. „Inzwischen bin ich wieder innerlich zur Ruhe gekommen und habe eine schöne Zeit verlebt“, fügt er in dem zitierten Brief hinzu. „Die verschiedenen Dinge entwickelten sich natürlicher und selbstverständlicher, als ich vorher gedacht hatte“; die Entwicklung der Familie sah er „ruhig und zuversichtlich an“, auch wenn ihm „Bedenken“ blieben, hinsichtlich der „erzieherischen Einflüße“ „auf kleine und große Leute“ „durch Milieu, Lebensgewohnheiten, unausgesprochene Wertungen“.
Trotz persönlicher Verlusterfahrungen, die eine Grundstimmung der Jahre in Wien bildeten, erlebte Carnap spätestens ab dem Herbst 1926 im Wiener Kreis einen ungeahnten intellektuellen Höhenflug: „For my philosophical work the period in Vienna was one of the most stimulating, enjoyable, and fruitful periods of my life.“ (SCH‚ 20) Dies, obwohl Carnap ab Herbst 1926 erstmals in seinem Leben mit einer ernsten Erkrankung zu kämpfen hatte. Die anfangs (TB 2. IX.) als asthmatisch diagnostizierten Beschwerden entpuppten sich als tuberkulöse Erkrankung, die Carnap für mehrere Jahre behinderten und von Sept. 27 bis April 28 Kur- und Erholungsaufenthalte in Lichtental, Davos und Seefeld erforderlich machten.
Vielleicht war die Aussicht, Wien nur für eine gewisse Zeit erleben zu können, für Carnap zusätzlicher Ansporn, neue Türen aufzustoßen. Nach überwundener Lungenerkrankung warf er sich in den Jahren 1928 bis 1931, wie das Tagebuch eindrucksvoll dokumentiert, in ein intensives semi-akademisches Leben, das neben philosophischer Tätigkeit (dies eine Kontinuität zur Wiesnecker Zeit) von kulturellen Genüssen (vor allem Kino und Theater), erotischen Abenteuern und allen Arten von Freiluftaktivitäten gekennzeichnet war. An die Stelle des früheren, eher geruhsamen Arbeitsrhythmus trat geradezu atemlose Betriebsamkeit,
Carnaps Lehrtätigkeit umfasste in jedem Semester zwei zweistündige Lehrveranstaltungen (siehe den Anhang, S. ff.). Informationen über prominente Hörer Carnaps liegen, abgesehen von den im Tagebuch erwähnten Feigl, Waismann und anderen Mitgliedern und Zaungästen des Wiener Kreises wie Kurt Gödel, Olga Neurath, Marcel Natkin, Heinz Neider, Eino Kaila und der mit Leo Trotzki korrespondierenden politischen Aktivistin Anna Feix, kaum vor. Erwähnenswert ist aber Hermann Broch, der beide Lehrveranstaltungen Carnaps im WS 28/29 besucht hat und dessen Mitschriften davon erhalten sind.
In dem bereits in den späten zwanziger Jahren antidemokratischen, antisemitischen und jeder Art von empiristischer Philosophie feindseligen Klima an der Universität Wien war für Carnap jedenfalls an eine akademische Karriere nicht zu denken. Schlick konnte als Empirist seine Stellung am Institut für Philosophie zwar vorläufig (und gegen die wütendsten Anfeindungen, die letztlich 1936 zu seiner Ermordung führten) behaupten, für einen weiteren Antimetaphysiker war dort jedoch kein Platz.
Den Kuraufenthalt im Herbst und Winter 1927/28 nützte Carnap zur Fertigstellung des Aufbau für die Drucklegung. Aus Zeitgründen hatte er die intensiven Diskussionen mit Feigl, Waismann, Schlick, vor allem aber Neurath (TB 21. XI. 26) nicht zu einer vollständigen Überarbeitung des Manuskripts ausgewertet, zumal die Verlagsforderung im Raum stand, das Manuskript stark zu kürzen. Carnap entschloss sich also, in der Hauptsache Kürzungen vorzunehmen, um Irrelevantes bzw. im Wiener Klima nicht mehr Konsensfähiges zu streichen. Regelrechte Änderungen und Hinzufügungen gab es hingegen nur wenige, vor allem scheinen es die am Ende des Buches zu findenden §§ 179–183 zu sein, die Carnap im Juni 1926 unter dem Eindruck der Wittgenstein-Diskussionen im Wiener Kreis verfasst hat. Wichtigste Ergänzung aus der Wiener Zeit ist damit das von Carnap im
Das Vorwort des Aufbau reflektiert Carnaps radikale Modernität, wie sie sich aus den Kontakten der vergangenen Jahre, mit dem Wiener Kreis und dort vor allem mit Otto Neurath sowie mit der Bauhaus- und Modernisten-Szene um László Moholy-Nagy, die Fotografin Lucia Moholy, Carola Giedion-Welcker, Sigfried Giedion und dem Typografen Jan Tschichold, ergeben hat. Diese Episode beschränkte sich zwar auf eine Anzahl von winterlichen Urlaubstreffen zwischen 1925 und 1930 in Davos, St. Moritz, St. Anton und Seefeld.
Um dieser Verbannung der Metaphysik Nachdruck zu verleihen, publizierte Carnap zeitgleich mit dem Aufbau (im selben Verlag) die im Sommer 1927 entstandene „Broschüre“ Scheinprobleme in der Philosophie.
So trat er in diesem Jahr mit einer Reihe von Arbeiten zur Logik hervor, in deren Zentrum der Abriß der Logistik steht, ein Buch, das Carnap schon 1922 geplant hatte, zunächst als vereinfachte deutsche Fassung der Principia Mathematica, auf der Grundlage des ihm von Russell geschickten Exzerpts. Carnap plante, diese Zusammenstellung „mit erläuterndem Text“ herauszugeben.
Neben den Schriften im Umfeld der Logik brachte das Jahr 1929 wichtige Resultate in dem bei Carnap komplementären Bereich der Antimetaphysik und der praktischen Philosophie hervor. Eine vorbereitende Rolle spielte dabei Carnaps Aufenthalt in Davos, als Zuhörer bei den dortigen Hochschultagen mit der legendären Konfrontation zwischen Heidegger und Cassirer. Schon dort trat er
[…] sehr eindrucksvoll […] auch die Vorträge von Heidegger. Dass wir Wiener das […] nicht für Wissenschaft, sondern Dichtung ansehen, weisst Du ja. […] Hab […] jetzt einige Male in kleinerem Kreise ein wenig [damit] herausgerückt. Es wurde mit Erstaunen, Verachtung, Empörung und heftigem Diskutieren reagiert. Ich werde froh sein, wenn ich mit unzerschlagenem Schäedel wieder herauskomme.
62 Carnap an Maue Gramm, 24. III. 1929 (RC 024‑30‑05)
Aus Davos nahm Carnap den Eindruck von Cassirer als eines zwar „etwas pastoral“ sprechenden, aber dem eigenen Denken nahestehenden Philosophen mit. Heidegger hingegen erschien ihm als „menschlich sehr anziehend[er]“ leibhaftiger Metaphysiker (TB 19. III. 1929R), gegen dessen Arbeiten die wissenschaftliche Weltauffassung primär vorzugehen hatte.
Am 14. VI. 1929 hielt Carnap im Verein Ernst Mach – der öffentlichen und von 1928 bis 1934 aktiven Erscheinungsform des Wiener Kreises
Wir müssen unterscheiden zwischen Tatsachen und Werten. Das, was ist, und das, was ich möchte, wünsche, fordere. […] Aufgabe der Wissenschaft: Erkenntnis von Tatsachen. […] Die Wertung selbst kann nicht durch theoretische Erkenntnis gefunden werden, denn sie ist nicht Erfassung einer Tatsache, sondern persönliche Einstellung. […] Durch Denken, Theorie, Erkenntnis, Wissenschaft kann und muss 1. Die innere Konsequenz einer wertenden Einstellung geprüft werden. […] Die theoretische Erkenntnis belehrt uns 2. Über die Mittel zu einem gewollten Zweck. (RC 110‑07‑49)
Carnap geht in seinem Vertrauen in die Wissenschaft sehr weit und identifiziert sie, in paradoxer Wendung, als „lustvolle Tätigkeit“:
Musik oder Erotik könnten entbehrt werden, aber kein Mensch kann die Überlegung entbehren, wenn er überhaupt leben will. […] Aber auch diese Tätigkeit, wie jede, kann an sich lustvoll werden […] und ist dann besonders beglückend. (ebd.)
Das Manifest konnte im Schutz relativer Anonymität – Hahn, Neurath und Carnap unterschrieben das Vorwort nur in ihrer Eigenschaft als Vereinsfunktionäre – die philosophischen Thesen weiter verdeutlichen, die davor schon im Vorwort zum Aufbau und danach im zitierten Bauhaus-Vortrag zur Sprache kommen. Gegen „metaphysisches und theologisierendes Denken“ wird „der entgegengesetzte Geist der Aufklärung und der antimetaphysischen Tatsachenforschung“ ins Feld geführt (9). Im Manifest geht es vordergründig um die Verankerung des Wiener Kreises in der österreichischen Philosophietradition, verbunden mit dem Ziel, Moritz Schlick, dem der Text gewidmet ist, von der Annahme eines 1929 erfolgten Rufes nach Bonn abzuhalten. – Dieses Ziel wurde zwar erreicht, dennoch war Schlick von den Ideen des Manifestes und seinem politischen Tonfall wenig begeistert. Das Manifest drückt die Grundideen des später von Neurath so genannten „linken Flügels“ des Wiener Kreises aus‚
Die wissenschaftliche Weltauffassung ist „empiristisch und positivistisch“ und bedient sich der Methode der „logischen Analyse“ (19), als deren Problemgebiete die Erforschung der Grundlagen von Arithmetik, Physik, Geometrie, Biologie, Psychologie und Sozialwissenschaften angegeben werden (20–27). Am Ende des Manifestes wird diese Haltung auch in einem ihre praktische Perspektive bestimmenden „Ausblick“ charakterisiert. Die Gegenwart, so die Autoren des Manifests, ist gekennzeichnet durch den Kampf zwischen „metaphysischen und theologisierenden Neigungen“ und einer Gruppe, die „besonders in Mitteleuropa diese Einstellung ablehnt und sich auf den Boden der Erfahrungswissenschaft stellt“ (29).
Das Wort „sozialistisch“, von Neurath am Ende des Bearbeitungsprozesses in den Text hineinreklamiert – „es ist komisch, wenn wir es ganz vermeiden“
In früherer Zeit war der Materialismus der Ausdruck für diese [also die sozialistische‚ C. D.] Auffassung; inzwischen aber hat der moderne Empirismus sich aus manchen unzulänglichen Formen herausentwickelt und in der wissenschaftlichen Weltauffassung eine haltbare Gestalt gewonnen. (ebd.)
Diese explizit politische Ausrichtung wird besonders deutlich in dem 1930 für eine kurze Zeit veranstalteten montäglichen „Neurath-Zirkel“, dessen Protokolle teilweise erhalten sind. Marxismus wird dort als im Grunde identisch mit wissenschaftlicher Weltauffassung verstanden.
Der Marxismus als Lehre bringt Aussagen über die Wirklichkeit. Er spricht von dem was war, was ist und was sein wird, was unter bestimmten Bedin
40 gungen eintreten kann, aber aus alldem folgt keine bestimmte Handlungsweise des einzelnen.68 Österreichisches Staatsarchiv, Nachlass Otto Neurath, AdN 1433, 1–11, Wiener Kreis Protokolle, Abschnitt „III.5. Tat“.
Die so umrissene „Weltanschauung der Tat“ läuft erneut auf die schon in den oben zitierten Texten von 1928/29 zu findende Wertphilosophie hinaus. Auch wenn der in diesen Diskussionen ebenfalls zu findende explizit politische Impetus später verloren ging: Das Projekt einer logisch-empiristischen Grundlegung des Marxismus wurde auf der Ebene der Metaethik stillschweigend verwirklicht (vgl. Abschnitt ).
Das Manifest endet mit einer erneuten Inbezugsetzung der wissenschaftlichen Weltauffassung mit dem „Leben der Gegenwart“, unter Angabe möglicher Ausnahmen:
Freilich wird nicht jeder Anhänger der wissenschaftlichen Weltauffassung ein Kämpfer sein. Mancher wird, der Vereinsamung froh, auf den eisigen Firnen der Logik ein zurückgezogenes Dasein führen; mancher vielleicht sogar die Vermengung mit der Masse schmähen, die bei der Ausbreitung unvermeidliche „Trivialisierung“ bedauern. (30)
Es fällt schwer, hier nicht an Carnap zu denken: Ist er als Kritiker oder Repräsentant dieses Modus „auf den eisigen Firnen der Logik“ zu sehen?
Spätestens als seine Ehe Ende 1929 geschieden war, empfand Carnap das Verhältnis mit Maue Gramm als unbefriedigend. Die von ihr angestrebte Zweiteilung ihres Lebens zwischen Carnap und ihrem Ehemann behagte ihm wenig. Nach einer turbulenten Affäre mit Edith Tschichold (TB 1. I. 1930R) verliebte sich Carnap im März 1930, nur drei Monate nach der Scheidung, in die um 13 Jahre jüngere Studentin Ina (eigentlich Elisabeth Ignatia Theresia) Stöger (Abb. ). Stöger, die seit Herbst 1928 alle Lehrveranstaltungen Carnaps besucht hatte‚
Vor dem Hintergrund dieser im Privaten intensiven Zeit entwickelte Carnap ab 1931 eine nochmals gesteigerte geistige Produktivität. Dagegen stehen 1930 eher Aktivitäten in diversen Netzwerken im Vordergrund. Zunächst die nach jahrelangen Verhandlungen endlich erfolgte Gründung einer eigenen Zeitschrift der logisch-empiristischen Bewegung. Hans Reichenbach war es gelungen, die zuvor von Hans Vaihinger und Raymund Schmidt edierten Annalen der Philosophie unter dem neuen Titel Erkenntnis für diesen Zweck umzuwidmen, was allerdings nicht friktionsfrei ablief. Es gab Spannungen zwischen Wien und Berlin zu überwinden, die mit Fragen des Einflusses und der inhaltlichen Ausrichtung zusammenhingen. Reichenbach befürwortete, obwohl selbst politisch links orientiert, eine weltanschaulich weitgehend neutrale Ausrichtung in der Philosophie, mit der Fokussierung auf philosophische Probleme der Naturwissenschaft. Der Wiener Kreis insgesamt hingegen, vor allem, aber nicht nur (siehe etwa Schlicks Natur und Kultur) dessen linker Flügel um Neurath und Carnap, sah die Mission der Philosophie im Aufbau und der Propagierung der wissenschaftlichen Weltauffassung als einer lebensreformerischen Angelegenheit sowie in der damit im Zusammenhang stehenden Bekämpfung von Metaphysik. Vor allem Neurath hätte sehr gern auf die Bezeichnung Philosophie gänzlich verzichtet (siehe Abschnitt ). Um dieses Ziel zu erreichen, konnte man sich, anders als Reichenbach, kaum auf Neutralität verpflichten und musste zumindest etwas (wenn auch häufig sehr Negatives) über die großen Fragen der Erkenntnistheorie und der praktischen Philosophie mitteilen. Für die Erkenntnis bedeutete dieser Konflikt, in dem sich Reichenbach durchsetzte, eine weitgehende Beschränkung auf die engere wissenschaftstheoretische Perspektive. Davon Abweichendes musste gegen Reichenbach jeweils mühsam durchgeboxt werden.
Ebenfalls 1930 fand auch die bereits 1929 mit der Ersten Tagung für Erkenntnislehre der exakten Wissenschaften in Prag (15. – 17.IX) begonnene Tagungstätigkeit des Wiener Kreises ihre Fortsetzung in der in Königsberg abgehaltenen zweiten Tagung, die durch die dort erfolgte erstmalige öffentliche Präsentation
Neben diesen Interaktionen und Gründungen führten die Debatten im Wiener Kreis und seinem Umfeld zu wichtigen theoretischen Impulsen. Das gilt zum einen für den Donnerstags-Zirkel selbst. Im Jahr 1930 bildeten sich zum anderen, wohl aufgrund der im Donnerstags-Zirkel immer stärker werdenden Dominanz des ‚rechten Flügels‘ um Schlick und Waismann, zwei wichtige Parallelaktionen heraus: die von Else Frenkel-Brunswik angeregte, offiziell von Carnap geleitete „Studiengruppe für wissenschaftliche Zusammenarbeit“ (TB 27. I., 4. II. usw.), in der vor allem sozialwissenschaftliche Themen, aber etwa auch die Psychoanalyse diskutiert wurden, sowie der gleichzeitig mit der Studiengruppe entstandene bereits angesprochene Neurath-Zirkel.
Carnaps Wiener Zeit ging im Frühjahr 1931 mit einer Phase intensivster Schreibtätigkeit zu Ende. Ende Jänner begann er in einer „schlaflosen Nacht“
Der Unterschied dieses Projektes zur Metalogik bestand darin, dass Carnap hier (meta)logische und (meta)philosophische Überlegungen eher kurz und allgemeinverständlich halten, dafür aber einer Diskussion der Grundlagen der Einzelwissenschaften breiten Raum geben wollte in Gestalt von umfassenden axiomatischen Darstellungen, beginnend bei der Mathematik über die Physik zu den
Das kulturelle Umfeld in Wien, das, wie von Alan Janik und Stephen Toulmin rekonstruiert, Wittgensteins Philosophie geprägt hatte‚
Only slowly did I recognize how large the divergence is between the views of the two wings of analytic philosophy in the question of natural versus constructed languages: the view which I shared with my friends in the Vienna Circle and later with many philosophers in the United States and the view of
44 those philosophers who are chiefly influenced by G. E. Moore and Wittgenstein. (SCH‚ 68)
Wenn Carnap also an einer früheren Stelle seiner Autobiografie ausführt, dass „for me personally, Wittgenstein was perhaps the philosopher who, besides Russell and Frege, had the greatest influence on my thinking“ (25), dann stimmt das wohl im positiven Sinn. Etwa für die von Carnap an dieser Stelle angeführte These, dass sich die Wahrheit einer logischen Aussage als Wahrheit unter allen denkbaren Umständen beschreiben lässt. Auch scheint eine frühe Spielart von Carnaps Physikalismus Ähnlichkeiten mit Thesen von Wittgenstein aufzuweisen (Wittgenstein bezichtigte Carnap deswegen geradezu des Plagiats).
Wittgensteins Wien gehört zu einer Moderne, der man sich, wie z. B. Karl Kraus und Adolf Loos, zugehörig fühlte und die man gleichzeitig kritisierte. Zumindest in der Sicht von Carnap und Neurath stand Wittgenstein für den von Edgar Zilsel so vehement kritisierten „Geniekult“ des neunzehnten Jahrhunderts.
Im positiven Sinn war Carnaps Wien daher vor allem von einer Persönlichkeit geprägt, die in seiner Autobiografie seltsamerweise nicht (neben Russell, Frege und Wittgenstein) unter die für seine philosophische Entwicklung wichtigsten gerechnet wird, nämlich dem umtriebigen und äußerst vielseitigen Sozialwissenschaftler Otto Neurath. Neuraths Einfluss auf Carnap spielte zwar in den Bereichen, die er in der Autobiografie hervorhebt, eine wichtige Rolle, in der Gestalt von Neuraths sozialwissenschaftlicher Herangehensweise an die Philosophie:
He criticized strongly the customary view, held among others by Schlick and by Russell, that a wide-spread acceptance of a philosophical doctrine depends chielfy on its truth. He emphasized that the sociological situation in a given culture and in a given historical period is favorable to certain kinds of ideology or philosophical attitude and unfavorable to others. (SCH‚ 22)
Carnap hat diesen Standpunkt geteilt. Neurath hat aber Carnap nicht nur indirekt, durch die Verteidigung eines sozialwissenschaftlichen Standpunktes, beeinflusst. Am Ende sind sowohl die von Carnap in seiner Wiener Zeit entwickelte praktische Philosophie (Nonkognitivismus, Antimetaphysik) als auch der Physikalismus und die Protokollsatztheorie Carnaps das Produkt der Kooperation mit Neurath. Dieser Einfluss geht zurück bis in die frühen 1920er-Jahre, als Franz Roh den Kontakt hergestellt hatte. Von der ersten Begegnung an entwickelte sich eine intensive, wenn auch nie von inhaltlichen Differenzen und anderen Konflikten freie Freundschaft, die in einer mehr als 500 Briefe umfassenden Korrespondenz eindrucksvoll dokumentiert ist. Carnap war vom Charme und der Energie Neuraths ebenso angezogen, wie ihn dessen Impulsivität und die daraus resultierenden oft unausgegorenen Ideen verärgern konnten. Er nahm jedoch die in Neuraths Schriften immer wieder aufblitzenden verblüffenden Einfälle durchaus zur Kenntnis. Gleichzeitig orientiert sich Neuraths Philosophie in manchem offensichtlich an Carnap, was Thomas Uebel in dem Konzept der „bipartite metatheory“ zusammenfasst. Demzufolge liefern Neurath und Carnap in ihren Theorien zwei komplementäre Ansätze der philosophischen Metatheorie: Carnap den formalen, Neurath den empirisch-sozialwissenschaftlichen, oftmals aufeinander abgestimmt auch bei Publikationen und Vorträgen.
Es gab, was Carnap in seiner Autobiographie nicht verschweigt, grundsätzliche Divergenzen mit Neurath. So lehnte Carnap etwa, im Konsens mit anderen Repräsentanten des Wiener Kreises, eine gewisse Tendenz Neuraths ab, wissenschaftliche Untersuchungen zu bevorzugen, die unmittelbar dem gesellschaftlichen Fortschritt dienen:
We in turn defended the right to examine objectively and scientifically all processes or alleged processes without regard for the question of whether other people use or misuse the results. (SCH 23)
Dieser Standpunkt einer im Sinne Webers wertfrei, also politisch neutral agierenden Wissenschaft
Of particular importance for me personally was his [Neurath’s‚ C. D.] emphasis on the connection between our philosophical activity and the great historical processes going on in the world: Philosophy [bzw. die wissenschaftliche Weltauffassung‚ C. D.] leads to […] a better understanding of all that is going on in the world, both in nature and in society: this understanding in turn serves to improve human life. (SCH 23–24)
Die Einflüsse durch Wittgenstein und Neurath waren die entscheidenden Faktoren in Carnaps Wien. Daneben kam jüngeren Kollegen wie Herbert Feigl, Carl-Gustav Hempel, Friedrich Waismann, Heinrich Neider eine wichtige Rolle als Katalysatoren zu. Feigl und Hempel wurden für Carnap später, in den USA, zu zentralen intellektuellen Bezugspersonen. Am inspirierendsten in der Gruppe der jüngeren Mitstreiter wirkte sicher Kurt Gödel (siehe Abschnitt ). Weitere wichtige Einflüsse waren Alfred Tarski, der schon im Frühjahr 1930 seine metamathematischen Resultate im Wiener Kreis präsentierte und damit vor allem Carnap beeindruckte und hauptverantwortlich für die Entwicklung von dessen semantischer Periode wurde. Dann Karl Popper, der in intensiven, tagelangen Diskussionen im Tiroler Ötztal (TB 3. VIII.-21. VIII. 1932) Einfluss auf die Entwicklung von Carnaps Protokollsatztheorie nahm. Philosophisch am wenigsten wichtig war für Carnap unter den Schlüsselfiguren des Wiener Kreises vielleicht Moritz Schlick selbst, der jedoch als Freund und Mentor für Carnaps wissen
In Prag konnte Carnap all die philosophischen Ideen zu Papier bringen, die in Wien entstanden waren, für deren Ausarbeitung aber im Trubel der dortigen Ereignisse keine Zeit geblieben war (Abschnitt ). Prag bildete in den 1930er-Jahren eine Insel in einem im Faschismus versinkenden Mitteleuropa. Carnap und der linke Flügel des Wiener Kreises reagierten auf die Entwicklungen in theoretischer Hinsicht durch Präzisierung und zeitweilige Radikalisierung des eigenen philosophischen Programms (Abschnitt ). Gleichzeitig knüpfte man Kontakte im Hinblick auf eine mögliche Emigration. So wurden Carnaps Prager Jahre erneut zu einer Übergangszeit, die noch stark von den in Wien empfangenen Anregungen und dem dort geknüpften Netzwerk geprägt waren, gleichzeitig aber in eine Zukunft außerhalb Europas wiesen (Abschnitt ).
Carnaps zweites Hauptwerk, die Logische Syntax, war, anders als der in einem halben Jahr hingeworfene Aufbau‚ das Produkt jahrelanger intensiver Arbeit.
Für Carnaps wissenschaftliche Karriere war die Logische Syntax von entscheidender Bedeutung. Anders als der Aufbau wurde das Buch von zahlreichen britischen und amerikanischen Philosophen sofort rezipiert, teilweise schon in der deutschen Fassung, spätestens aber in der englischen Übersetzung; es positionierte Carnap als führenden Philosophen der logisch-empiristischen Richtung und war eine wichtige Voraussetzung für seine erfolgreiche Emigration in die USA.
Worum geht es in dem Buch? Im Zentrum steht eine formale Theorie über Sprachformen, in denen Begriffe wie „analytisch“ als wahr unter allen möglichen Umständen oder „synthetisch“ als wahr unter bestimmten (empirischen) Gegebenheiten definiert werden können. Diese Theorie wurde allerdings noch während der Niederschrift des Buches grundlegend modifiziert. Zwar lagen die für das Buch entscheidenden metalogischen Studien von Gödel und Tarski bei Beginn der Arbeit bereits vor. Carnap zog jedoch die nötigen Schlüsse erst nach der kritischen Lektüre Gödels. Zunächst hatte Carnap versucht, eine Definition von „analytisch“ innerhalb einer am Beginn der „Metalogik“ festgelegten Sprache (heute würde man sagen, in der ersten Stufe) zu geben, was, wie ihm Gödel demonstrierte, zu einem Widerspruch im Stil des Lügner-Paradoxons (der Kreter sagt: „Alle Kreter sind Lügner“) führt. Erst wenn man den Begriff ‚analytisch‘ in einer zweiten, einer Meta-Sprache definiert, die über die Objekt-Sprache spricht, ist eine widerspruchsfreie Definition möglich.
Diese Einsicht hatte weitreichende Konsequenzen für Carnaps Philosophie. Sie zeigte einen Weg, die von ihm und Neurath von jeher abgelehnte Auffassung Wittgensteins, dass ein Sprechen über Sprache unmöglich sei, auch auf einer formalen Ebene zu überwinden: Ein Sprechen über Sprache ist in der Logik nicht
In der Logik gibt es keine Moral. Jeder mag seine Logik, d. h. seine Sprachform, aufbauen wie er will. Nur muß er, wenn er mit uns diskutieren will, deutlich angeben, wie er es machen will, syntaktische Bestimmungen geben anstatt philosophischer Erörterungen. (45)
Diese Theorie ist unmittelbar von Gödel beeinflusst:
Die Grundzüge von Carnaps Nonkognitivismus und Antimetaphysik wurden, auch mit Bezugnahme auf Texte der Prager Zeit, bereits in der Einleitung zum
So etwa der zeitweilige Freund Carnaps und Vertreter der konservativen Revolution in der Weimarer Republik Hans Freyer.
Die Wissenschaftliche Weltauffassung fordert, die logischen Zusammenhänge zwischen unterschiedlichen Wertsetzungen zu studieren (passen meine Werte und die des selbsternannten Führers zusammen?), sich mit vorhandenen Werthaltungen diskursiv auseinanderzusetzen sowie die zu erwartenden Konsequenzen einer Entscheidung zu überprüfen und erst auf dieser Grundlage zu agieren. Die Entscheidung bleibt nonkognitiv. Auch wenn ich weiß, dass dieser Apfel vergiftet ist, hängt die Frage, ob ich ihn esse, von meiner Einstellung ab (will ich meinen Hunger stillen? will ich Suizid begehen?).
Diese Haltung steht damit in einer engen Beziehung zur antimetaphysischen Einstellung bei Carnap, die er in „Überwindung der Metaphysik“ in der neuen Sprache der Logischen Syntax artikuliert. Demnach können wir jede Formulierung daraufhin überprüfen, ob sie metaphysisch ist, indem wir die Bedeutung der darin vorkommenden Wörter analysieren oder den Satzbau der in ihr vorkommenden Aussagen.
Metaphysisch und daher sinnlos ist als Resultat dieser logischen Sprachanalyse „jede spekulative Metaphysik, jede vorgebliche Erkenntnis aus reinem Denken oder aus reiner Intuition“, aber auch alle „Wert- oder Normphilosophie“ und schließlich auch alle „erkenntnistheoretischen Richtungen“ wie Realismus, Idealismus, Solipsismus, Phänomenalismus, „Positivismus (im früheren Sinn)“.
Die Verbindung der Antimetaphysik zum Nonkognitivismus stellt Carnap im letzten Abschnitt seines Aufsatzes her. Die Sinnlosigkeit metaphysischer Sätze bedeutet nur, dass diese „keinen theoretischen Gehalt haben“, keine konkreten Wahrheitsbedingungen. Sie „dienen nicht zur Darstellung von Sachverhalten“. Dennoch ist Metaphysik nicht in jeder Hinsicht gehaltlos und leer: metaphysische Sätze „dienen zum Ausdruck des Lebensgefühls“.
An und für sich wäre natürlich gegen die Verwendung irgendeines beliebigen Ausdrucksmittels [für das Lebensgefühl] nichts einzuwenden. Bei der Metaphysik liegt jedoch die Sache so, daß sie durch die Form ihrer Werke etwas
52 vortäuscht, was sie nicht ist. […] Der Metaphysiker glaubt sich in dem Gebiet zu bewegen, in dem es um wahr und falsch geht. In Wirklichkeit hat er jedoch nichts ausgesagt, sondern nur etwas zum Ausdruck gebracht, wie ein Künstler.95 Carnap, „Überwindung der Metaphysik“, 239 f.
Für Carnap entscheidend ist also die scharfe Trennung zwischen solchen Aussagen, die einen theoretischen Gehalt haben und daher kraft logischer oder empirischer Gegebenheiten eindeutig als wahr oder falsch identifiziert werden können, und solchen Aussagen, wo dies nicht der Fall ist, weil sie nur einer Einstellung, einem Lebensgefühl Ausdruck verleihen. Beide Arten von Aussagen sind legitim, sie dürfen aber, so die szientistische Ethik des Wiener Kreises, nicht miteinander vermischt werden. Wegen der Sünde dieser Vermischung ist die Metaphysik für Carnap abzulehnen.
Im Zentrum der philosophischen Entwicklung Carnaps zwischen 1930 und 1935 stand die Protokollsatzdebatte des Wiener Kreises und der von ihm vor diesem Hintergrund entwickelte Standpunkt des Physikalismus. Hier lässt sich ein Bogen spannen, der mit dem Aufbau beginnt und in intensiver Auseinandersetzung vor allem mit Otto Neurath, aber auch mit Karl Popper und Moritz Schlick bis 1935 zur Formulierung einer um die Begriffe „Physikalismus“ und „Dingsprache“ aufgebauten Theorie führt, die Carnap dann bis zum Ende seines Lebens in dieser Form beibehielt.
Der Aufbau hatte, aus Sicht der Entwicklungen am linken Flügel des Wiener Kreises, eine entscheidende Schwäche darin, dass er das Eigenpsychische ins Zentrum der Wissenschaft stellte. Carnap befand sich damit zwar in der Nähe von in der zeitgenössischen Philosophie (Husserl, Neukantianismus, Wundt, Külpe) nach wie vor gängigen Auffassungen eines Aufbaus der Wirklichkeit aus ‚meinen Erlebnissen‘ (die dann etwa auch in der Psychologie durch ‚Introspektion‘ wissenschaftlich ausgewertet werden können). Allerdings war diese Konzeption schon im Empiriokritizismus des späten neunzehnten Jahrhunderts verworfen worden zugunsten einer vor allem bei Richard Avenarius sichtbar werdenden Konstruktion der Wirklichkeit aus dem Fremdpsychischen in Gestalt der durch
Die Protokollsatzdebatte im Wiener Kreis kreist um diesen Streit über die Anerkennung der fundamentalen Neuerung des Empiriokritizismus: Verwerfen der Idee einer eigenpsychischen Basis (via Introspektion und Elementarerlebnissen) zugunsten der in den Äußerungen anderer (Verhalten, Gesten, sprachliche Äußerung) empirisch kontrollierbaren fremdpsychischen Basis. Der Philosoph, der diese Neuerung im Wiener Kreis propagiert und letztlich Carnap auf seine Seite gezogen hat, war Otto Neurath. Nur eingeschränkt mitgemacht hat die Entwicklung hingegen Schlick, dessen Beitrag zur Protokollsatzdebatte keine Absage an das Eigenpsychische bedeutet: „Eine echte Konstatierung kann nicht aufgeschrieben werden, denn sowie ich die hinweisenden Worte ‚hier‘, ‚jetzt‘ aufzeichne, verlieren sie ihren Sinn.“
„Die physikalische Sprache ist universal und intersubjektiv“, lautet diese „These des Physikalismus“‚
Carnaps konkreter Beitrag zur Protokollsatzdebatte, den er, nach anfänglichem Zögern (er dachte zunächst daran, die Art und Weise, wie Protokolle formuliert werden sollen, gänzlich offen zu lassen) Mitte der 1930er-Jahre vorlegte, steht in einem interessanten Komplementaritätsverhältnis zu Neuraths einschlägiger Theorie, das hier jedoch aus Raumgründen nicht näher beleuchtet werden kann.
Carnap schlägt vor, sich auf Aussagen einer „Dingsprache“ zu beschränken, die nur Wörter für wahrnehmbare raumzeitliche Gegenstände und deren Eigenschaften enthält. Dabei wird von unterschiedlichen Repräsentationsformen dieser Dinge in verschiedenen Wissenschaften – eine Kuh als Elektronenkonstellation in der Physik, als lebendiges Ganzes in der Biologie, als ökonomisches Objekt
Während sich der Faschismus in Teilen Europas ausbreitete, konnte Carnap in den Jahren in Prag seine Ideen frei entfalten. Hitler wurde am 30. I. 1933 zum Reichskanzler ernannt und die Nazis zerstörten in den darauffolgenden Wochen die demokratischen Institutionen Deutschlands. Am 4. III. desselben Jahres erfolgte in Österreich ein Staatsstreich unter dem christlichsozialen Kanzler Engelbert Dollfuß, der nach dem Bürgerkrieg vom Februar 1934 in eine offene Diktatur mündete. Sozialdemokraten wie Otto Neurath waren dadurch zur Emigration gezwungen.
Im Manifest des Wiener Kreises sind durchaus politische Botschaften enthalten, die dann im Neurath-Zirkel weiter diskutiert wurden.
Trotz des fortan weitgehend gemiedenen marxistischen Narrativs war manches von dem, was Carnap in den frühen 1930ern öffentlich sagte, durchaus explizit politisch. Diese politische Seite ist in den sozusagen offiziellen wissenschaftlichen Publikationen und Äußerungen Carnaps – den Aufsätzen in Erkenntnis, den Vorträgen bei den großen Kongressen 1934 und 1935, der Logischen Syntax – nicht zu finden. Sichtbar wird sie jedoch in einer eher randständigen Publikation, „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“, sowie in mehreren Vorträgen, die Carnap offensichtlich unter dem Eindruck der Februar-Ereignisse in Österreich und in Anwesenheit prominenter Sozialdemokraten im April und Mai 1934 gehalten hat: in Bratislava „Von Gott und Seele“ (TB 4. IV. 34), in Brno „Philosophie – Opium für die Gebildeten“ (TB 5. IV. 34), in Prag „Über die soziologische Funktion der Metaphysik in der Gegenwart“ (TB 14. V. 34).
„Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ war schon ein Jahr vor Erscheinen (TB 2. – 3. IV. 1933) auf Anregung des Leiters des deutschen Monistenbundes Heinrich Schmidt entstanden. Carnap hatte sich bei Schmidt über den in der Zeitschrift des Monistenbundes laut gewordenen Vorwurf, der Wiener
Theoretisch beweisen läßt sich nur, daß philosophische und religiöse Metaphysik ein unter Umständen gefährliches, vernunftschädigendes Narkotikum ist. Wir lehnen dieses Narkotikum ab. Wenn andere seinen Genuß lieben, so können wir sie nicht theoretisch widerlegen. Das bedeutet aber keineswegs, daß es uns gleichgültig sein muß, wie die Menschen sich in diesem Punkt entscheiden. Wir können theoretische Aufklärung über Ursprung und Wirkungen des Narkotikums geben. Ferner können wir durch Aufruf, Erziehung, Vorbild auf die praktische Entscheidung der Menschen in diesem Punkt einwirken. Nur wollen wir uns dabei klar sein, daß diese Einwirkung außerhalb des theoretischen Gebietes der Wissenschaft liegt.
111 Carnap, „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“‚ 260.
Diese Aufforderung zur Rationalität als einer moralisch-politischen Einstellung, hier in einem der nationalsozialistischen Zensur unterworfenen Publikationsorgan eher defensiv, wird im Brünner Vortrag „Philososophie – Opium für die Gebildeten“ explizit politisch artikuliert: „Philosophie ist aus der Religion entstanden, zuerst als Stütze (‚Magd‘), später als Ersatz. [Sie] dient heute als Opium (Lähmung der Gehirne und Ablenkung gefährlicher Aktivität)“.
Über das Ziel kann man nicht theoretisch diskutieren, nur über Mittel und Weg. […] Beispiel: Sozialismus; man kann ihn nicht beweisen, sondern nur: seine Folge, und der Weg zu ihm. Also: nicht sagen: der Gegner hat unrecht, sondern: wir wollen dies, er will das nicht. Das bedeutet keine Lösung des Kampfes; wir können entschieden sagen: wir wollen dies, wer das nicht will, den bekämpfen wir. (RC 110‑08‑17)
Politische Unterdrückung derer, die umgestalten wollen; und auf ideologischem Gebiet anti-rationale und anti-wissenschaftliche Strömungen; […] In Deutschland Bücher verbrannt […] In Österreich nicht nur Freidenker verboten, sondern Machverein! Ergebnis: Die traditionelle Philosophie, Metaphysik und Ethik, heute keine bloß theoretisch-akademische Angelegenheit, sondern ein Kampfmittel. (RC 110‑08‑17)
Wir können, fasst Carnap zusammen, „die Gesellschaftsordnung“ nur dann „umgestalten“, wenn wir „nüchterne Klarheit, rationale Analyse, Entschluss zum planmäßigen Eingreifen“ wählen. Die Philosophie hingegen, deren Rolle es ist, „diese Klarheit zu vernebeln, diesen Entschluss zu lähmen“, sollten wir zu überwinden trachten:
Wer die Umgestaltung will, hüte sich vor den Fallen der Pseudowissenschaft, ganz gleich, ob theologisches oder philosophisches Gewand. Wer Klarheit will, muß das Opium wegwerfen! (RC 110‑08‑17)
Dieser Plan setzt natürlich voraus, dass die zur Klarheit Entschlossenen auch politisch an einem Strang ziehen – dahin kann man nur auf emotionaler Ebene wirken und wird notfalls die Gegner bekämpfen müssen. Aber, so Carnaps These: Vieles an den Problemen, die wir haben, liegt überhaupt nicht am Willen und der Einstellung, sondern gründet in der Abwesenheit von Rationalität, Wissenschaft und Klarheit. Führen wir diese herbei, dann können wir guter Hoffnung sein, dass wir einander auch auf der Ebene der Werte annähern werden.
Bei genauem Hinsehen enthält die Konzeption Carnaps von 1934, in ihrer konkreten politischen Konnotation durchaus nachvollziehbar, eine Spitze gegen die Philosophie insgesamt, die, wie sich zeigt, eine innerhalb der Wissenschaften geradezu militante Haltung impliziert. Neurath hatte in dieser Zeit ständig polemisch dazu aufgerufen, den Ausdruck ‚Philosophie‘ überhaupt zu verwerfen. So kommentierte er das Manuskript der Logischen Syntax wie folgt: „ich hoffe, daß das üble Wort ‚Philosophie‘ nicht mehr darin vorkommt“.
Angesichts der zunehmenden Polarisierungen verwarf Carnap 1934 allerdings jeden Gedanken an eine moralische oder politische Diskussion. Die Zeit für nutzlose Debatten war vorbei. Was blieb, war nur der Kampf. Als Sozialist müsse man, so das militante Denken Carnaps in dieser Zeit, aufhören, politische und moralische Ideen überhaupt zu artikulieren, um stattdessen diesen (sozialistischen) Ideen gemäß zu handeln.
Das führte jedoch zu durchaus missverständlichen Formulierungen der eigenen Haltung zur Ethik, vor allem in dem 1935 erschienenen Text Philosophy and Logical Syntax.
Stattdessen wird in Philosophy and Logical Syntax eine wissenschaftliche Untersuchung von Werten als nur im Bereich der Geschichte, Soziologie und der Psychologie über faktische Wertsetzungen in der menschlichen Gesellschaft möglich erachtet. Nur: Wozu dienen diese Untersuchungen, wenn wir über unsere Wertsetzungen überhaupt nicht rational nachdenken können? Dadurch dass Carnap diese entscheidenden Gesichtspunkte des Nonkognitivismus unerwähnt lässt, muten die spärlichen sprachphilosophischen Ausführungen des Textes über Sätze wie „Do not kill!“ als bloße Imperative – „[they do] not assert anything and can neither be proved nor disproved“
Carnaps knappe Ausführungen über Werte in Philosophy and Logical Syntax haben, zusammen mit der 1936 erschienenen (und ihrerseits von Carnaps Text beeinflussten) Darstellung Ayers
Die gut vier Jahre in Prag bis zur Emigration nach Chicago waren eine Zeit, in der Carnap die Früchte der Anstrengungen in Wien ernten konnte.
My life in Prague, without the Circle, was more solitary than it had been in Vienna. I used most of my time for concentrated work, especially on the book on logical syntax. By frequent visits I also stayed in close contact with my philosophical friends in Vienna. (SCH 33)
Die meisten maßgeblichen Beiträge Carnaps zur Philosophie des Wiener Kreises sind in der Prager Zeit entstanden und publiziert worden. Möglich war dies dadurch, dass das Leben in Prag ungleich geruhsamer ablief als in Wien. Obwohl fest angestellt, musste Carnap nicht mehr unterrichten als zuvor (einzige Änderung: die Arbeit in Fakultätssitzungen kam hinzu). Anders als in Wien stand Carnap aber in Prag mit seiner Philosophie eher allein auf weiter Flur. Als Mitstreiter konnte nur Philipp Frank fungieren, als Physiker aber in einem anderen Teil der Fakultät angesiedelt. Ein Versuch, auch in Prag einen Donnerstagszirkel einzurichten (vgl. TB 14. I. 1932R), verlief letztlich im Sande.
I heard from the students that in one of his seminars he characterized my thesis of the nature of value statements as so dangerous for the morality of youth that he had seriously pondered the question whether it was not his duty to call on the state authorities to put me in jail. But, he said, he finally came to the conclusion that this would not be the right thing to do because, though my doctrine was very wrong, I was not actually a wicked man. (SCH 82)
Die Randständigkeit der Philosophie des Wiener Kreises an der Prager Universität hatte durchaus Nachteile. So hatte Carnap auf einmal nicht mehr wie in Wien bis zu 80 Hörer in seinen Vorlesungen, sondern musste froh sein, wenn 15 den Weg zu ihm fanden, gelegentlich waren es aber auch nur zwei oder drei (z. B. TB 30. V. 1932R). Der Vorteil der neuen Situation war, dass ohne die unzähligen Treffen in allen Arten von Zirkelderivaten auf einmal ein Vielfaches an Zeit zum Schreiben wissenschaftlicher Arbeiten zur Verfügung stand.
Auch lebte sich Carnap in Prag rasch ein und erlebte dort eine glückliche Zeit. Er konnte sich in der weltoffenen Atmosphäre Prags unbehelligt politisch engagieren und im Privaten, wie er sich später fast wehmütig erinnert, „alle traditionellen moralischen Konventionen übertreten“ (TBA‚ 2. II. 1953). Ein Stück weit ähnelte das Leben in Prag der idyllischen Zeit in Wiesneck. Carnap stand wieder im Zentrum und sein Haus wurde erneut zum intellektuell-geselligen Mittelpunkt. Freunde der Familie und zahlreiche, teils junge Kollegen besuchten die Carnaps in ihrem Haus am Stadtrand von Prag. W. V. O. Quine, Ernest Nagel, Carl Gustav und Eva Hempel sowie selbstverständlich Neurath waren zu Gast. Im Sommer traf man sich mit Feigl und anderen im Ötztal. Bei einem dieser Urlaube war für zweieinhalb Wochen der junge Karl Popper dabei (TB 3. – 21. VIII. 1932). Es gab teils hitzige, immer aber anregende Diskussionen und Carnap ließ sich von Popper zur Endfassung seines Aufsatzes „Über Protokollsätze“ (vgl. ebd.‚ 223 f.) inspirieren. Trotzkistische Freunde aus der Wiener Zeit wie Dr. Barton (TB 28. I. u. 17. III. 1934) und Erna Löwenberg, Letztere eine lebenslange Freundin der Carnaps, kamen nach Prag auf Besuch. Politische Diskussionen gab es auch mit dem Ehepaar Gertrud und Kostja Zetkin: beide Marxisten, er einst Liebhaber von Rosa Luxemburg, die Carnaps fungierten als Fluchthelfer bei deren Emigration
Der Wiener Kreis und sein Umfeld blieben über die gesamte Prager Zeit eine wichtige Konstante in Carnaps Leben, auch in der Gestalt von Wien-Aufenthalten. Fünf Mal reiste er in den Prager Jahren nach Wien, immer gab es zahlreiche Diskussionen mit Leuten aus dem Umfeld des Schlick-Zirkels, allerdings nur einmal mit erneuten Auftritten in demselben (TB 10. u. 13. VII. 1933). Die Atmosphäre im Schlick-Zirkel wurde vom linken Flügel zusehends als unerquicklich empfunden. Waren schon die Abgänge von Carnap und Feigl schwere Verluste für den Zirkel, wurde dieser nach der erzwungenen Emigration Neuraths und dem fast zeitgleichen Tod von Hans Hahn zu einer einseitigen Angelegenheit. Ernest Nagel, der im Jänner 1935 Wien besuchte, kommentierte belustigt und ernüchtert zugleich: „My own impression of the meeting is that, with the exception of Menger and Kaufmann, it had the air of congregation with the members singing in chorus with Schlick“.
Mit Auslandsreisen hielt sich Carnap neben sommerlichen Aufenthalten in den Tiroler Alpen und winterlichen im Riesengebirge eher zurück. Er besuchte ein oder zweimal im Jahr Familie und alte Freunde, vor allem in München oder Bergneustadt, wo die Schwester Agnes Kaufmann mit ihrer Familie lebte. Im Juli 1932 (TB 3. – 6.) hielt er in Berlin drei von Reichenbach arrangierte Vorträge, darunter einen Rundfunkvortrag „Alte und moderne Trugschlüsse“. Im November desselben Jahres (TB 12. – 22.) reiste er zu Vorträgen nach Kopenhagen und dann weiter nach Schweden. Für seine weitere Karriere war jedoch vor allem die auf Einladung von Susan Stebbing zustande gekommene Reise zu drei Vorträgen an der University of London bedeutsam (TB 20. IX. – 4. X. 1934). Auf dieser kam es zu einer längeren Begegnung mit Russell in dessen Haus in Cambridge (TB 2. X. 1934R); Carnap traf C. K. Ogden und lernte A. J. Ayer kennen. An internen Treffen der logisch-empiristischen Community gab es in der Prager Zeit zunächst 1934 die dort angesetzte „Vorkonferenz“ nebst wichtigen Auftritten des
Spätestens 1933 war für Carnap klar, dass für ihn keine Aussicht auf eine akademische Karriere im deutschsprachigen Raum bestand. Zwar war er weder Jude noch politisch von Verfolgung unmittelbar bedroht (dafür war seine Philosophie zu wissenschaftslastig, zu wenig als politisch erkennbar). Aber er lehnte das politische Regime in Deutschland und Österreich zutiefst ab. Darüber hinaus war zu dieser Zeit auch für einen unpolitisch erscheinenden wissenschaftlichen Philosophen keine Karriere zu machen. Diese Situation, die schon in den 1920ern bestanden hatte, war durch die politischen Umwälzungen nur weiter verschärft worden: Die Metaphysiker und Theologen hatten an allen Philosophiefakultäten im deutschsprachigen Raum das Heft in der Hand. Die Wissenschaftsphilosophie wurde zur Emigration gezwungen und kehrte nach 1945 nur sehr langsam wieder zurück.
Carnap knüpfte Kontakte nach England (Stebbing, Ogden, Russell), vor allem aber in die USA, wo seine Ambitionen, unter tatkräftiger Mithilfe von jungen Gelehrten wie Nagel und Quine (vor allem Letzterer hatte als Harvard-Fellow, obwohl selbst noch ohne Anstellung, einigen Einfluss), Gehör fanden bei arrivierten und einflussreichen Professoren wie C. I. Lewis, John Dewey oder Alfred North Whitehead. Zwar zerschlugen sich vielversprechende Aussichten in Harvard und Princeton vorläufig wieder, aber Carnap war spätestens seit 1934 im Gespräch als ein Philosoph, den es zu gewinnen galt, selbst dann, wenn man als verantwortliche Person seiner Philosophie fernstand. Als Carnap schließlich 1935 die Einladung zu der großen Konferenz der 300‑Jahr Feier der Harvard University, nebst Verleihung des Ehrendoktorats erreichte (TB 28. II. 1935R) waren seine Karriereaussichten in den USA vollends exzellent. So ergab es sich, dass es Charles Morris, als niedrig besoldeter Lehrbeauftragter an der University of Chicago eigentlich nicht besonders einflussreich, gelang, Carnap dort eine Stelle zu verschaffen, obwohl der Dekan der philosophischen Fakultät, Richard McKeon, und der Präsident der Universität, Robert Hutchins, Carnaps Philosophie geradezu feindselig gegenüberstanden: er wurde angestellt, weil man sich (zu Recht, wie sich zeigen sollte) von Carnap eine Aufwertung des Ansehens des philosophischen Institutes erwartete. Carnap verpackte sein bereits umfangreiches Archiv
Die Wiedergabe von Auszügen der Fotosammlung im Nachlass Carnaps wird hier chronologisch fortgesetzt (vgl. zur Auswahl der Aufnahmen den editorischen Anhang ).
Carnaps Entwicklung vom jugendbewegten Tatmenschen der 1910er-Jahre zum Chicagoer Philosophieprofessor lässt sich auch an seinem äußeren Erscheinungsbild festmachen. Während alle erhaltenen Aufnahmen bis 1919 Carnap ohne Brille zeigen, dagegen häufiger in heute befremdlich wirkender mittelalterlicher Scholaren-Tracht der Jugendbewegung, trägt er seit den frühen 1920er-Jahren eine runde Nickelbrille, anfangs noch in legerem Outfit und mit Schnurrbart (Abb. ). Ab Ende der zwanziger Jahre entstehen zum Teil aufwändig komponierte Portraitaufnahmen. Neben der Inszenierung durch den Wiesnecker Bekannten Hellmuth Gall als akkurat gekleideter Professor (Abb. ) und dem davon abstechenden Passfoto, dessen ästhetische Qualität durch die Einnahme einer vorgeschriebenen Haltung – hängende Schultern und verdrehter Kopf – definiert ist (Abb. ), sind hier vor allem die Aufnahmen der fotografischen Chronistin Wiens der Zwischenkriegszeit, Trude Fleischmann, zu nennen‚
Neben diesen Portraitaufnahmen – darunter auch die Aufnahmen von Maue Gramm (Abb. ), den gemeinsamen Kindern Birgit und Gerhard (Abb. u. ) sowie eines von mehreren Portaits der Fleischmann, die Ina Carnap zeigen (Abb. ) – enthält der Nachlass Carnaps viele decisive moments, die hier im Querschnitt wiedergegeben und mit gelegentlichen Verweisen auf entsprechende Tagebuchstellen versehen sind. Diese Schnappschüsse allein schreiben eine eigene Biografie Carnaps in den 1920er-Jahren. Carnap und Nena Schöndube am Gipfel des knapp 4000 Meter hohen Ajusco bei Mexico City (Abb. ); Carnap zu Haupten von Walter Diederichsen und dessen Braut Grete Schöndube beim Segeln (Abb. ); eine Kaffeehausszene in Davos, mit den „beiden Schwedinnen“ (Abb. ); Carnap mehrmals abgebildet mit Carola Giedion-Welcker (Abb. , ‚ ). Ein ernster Moment, die Abreise von Elisabeth Carnap und den Kindern mit der „Rio Bravo“ nach Mexiko (Abb. ). Die familiären Bilder geben Einblicke in Privates, so etwa Gartenumstechen mit den Kindern (Abb. ), Skijöring mit Elisabeth Carnap in Davos (Abb. ), Turnübungen beim Baden (Abb. ) oder das Portrait von Carnap, Ina und Bär (Abb. ). Interessant auch die Aufnahmen von Ausflügen mit Ausgangspunkt Wiesneck, häufig im Auto des Wäschereibesitzers Hellmuth Gall (Abb. , ‚ ), die sich wie Kommentare zu entsprechenden Tagebucheinträgen lesen. Die Fotografien bilden auch familiäre Spannungen ab: so in Todtnauberg, nach einem Streit (Abb. ), oder in Buchenbach, Carnap wie ein Fremdkörper im Kreis der fröhlichen Kinderschar sitzend (Abb. ).
In den 1930er-Jahren treten Aufnahmen von Personen des ständig sich erweiternden philosophischen Netzwerks ins Zentrum. Hier zunächst eine der wenigen Aufnahmen, die zumindest Teile des Wiener Kreises in Aktion zeigen – wenn auch fern von der Boltzmanngasse, bei der Hermesvilla im Lainzer Tiergarten (Abb. ). In Wien hatte man, so scheint es, sonst keine Zeit für Fotodokumentation. Alle anderen hier abgedruckten Fotografien des Wiener philosophischen Netzwerkes sind nach 1931 entstanden, in Carnaps Zeit in Prag. 1933 mit W. V. O. Quine und Carl Gustav Hempel (Abb. –). Es folgt eine Reihe von Aufnahmen im Umfeld der Prager Konferenzen im September 1934: Das vielleicht einzige Foto, das Carnap und Hans Reichenbach (hier einem Vortrag der Vorkonferenz zuhörend) gemeinsam zeigt (Abb. ). Eine atmosphärische Aufnahme beim Essen, mit Jørgen Jørgensen, Egon Brunswik, Else Frenkel-Brunswik und Heinrich Neider (Abb. ). Außerdem zwei Fotos – die Jørgensens und Alfred Tarski zeigend – aus einer Serie, die bei einem Spaziergang „auf den Berg“
Am Ende des Abbildungsteils schließlich ein Foto von der Überfahrt in die USA, Carnap im Pelzmantel und ohne Brille, bei der Lektüre von Hitlers Mein Kampf (Abb. ): Es galt nachzulesen, was genau die Ideen waren, die ein Leben in Europa am Ende unmöglich gemacht haben.