74Tagebuch 15. XII. 1969 – 28. VIII. 1970 [Rudolf Carnap: Tagebücher], Eintrag Fr 9. I. 1970

Vormittags mit Chacha und H. in die Stadt. Wir besichtigen den Gouverneurspalast (schöner Innenhof und breite offene Treppe hinauf (wie in Elmau) und oben Rundgang (sehr schön zum Anschauen, aber ein großer Teil des Gesamtraumes geht verloren für Amtsräume). (Chacha erzählt dem Offizier der Wache, der uns einiges über die Geschichte des Gebäudes erzählt, dass sie in ihrer Jugend mal mit ihrem Vater hier war, als dieser mit dem Gouverneur verhandelte wegen des Bauens der Wasserversorgung für die Stadt, mit den Wasserquellen am San Felipe.) Einkäufe. Dann zur Musikakademie, wo ein Student in einem Zimmer mit offener Tür sehr laut Klavier spielt; Solidad (damals um Xmas und danach waren wir hier; jetzt gehen wir hinein; hinten in der Kirche ist die Felskuppe zu sehen, mit Eisengitter umzäunt, auf der damals nach der Legende der Esel zusammenbrach, mit einem Marienbild auf seinem Rücken; woraufhin dann hier die Kirche errichtet wurde, damals in großer „Einsamkeit“. ) – Von Erika ist ein großer Umschlag mit nachgeschickter Post für mich angekommen. – 5 – 7 zur alten Bibliothek; Vortrag von Hal Rench von der Gruppe der „Linguistas“. Das sind junge Sprachforscher, teils aus US, teils aus Mexiko, die die Sprache der Indianer erforschen; sie werden auch „mission“ genannt; aber ihr Ziel ist die Übersetzung des neuen Testamentes in all diese Sprachen, nicht die Bekehrung, sagt Nena. (Der Vortragende erklärt, dass in dieser Gegend (Staaten von Oax. und Chiapas) 6 Sprachfamilien sind, jede mit mehreren, noch nicht verständlichen Sprachen. Er erklärt zunächst an Beispielwörtern von Sanskrit, Griechisch, Latein, Gotisch, Deutsch, Englisch, wie eine hypothetische Ursprache sich allmählich immer mehr zerspalten hat, wo man vor 100 Jahren allgemeine Gesetze der Lautumwandlung gefunden hat. Sie wollen nun für die Indianersprachen eine analoge Forschung anstellen; ebenso wie in Europa, hoffen sie daraus auch historische Vorgänge erschließen zu können, wie die verschiedenen Indianerstämme sich zerspalten und in verschiedene Richtungen auseinander gewandert sind. Er spricht ruhig und sehr klar; bei der Diskussion spricht er auch von seinem Leben; wie er mit der ganzen Familie 🕮\Oaxaca\ in ein anderes Dorf gezogen ist, wo die meisten Leute nicht Spanisch konnten, und allmählich das Zutrauen der Leute gefunden hat; er hat ihnen bei Krankheiten und Unfällen geholfen. Dann hat er allmählich die Sprache gelernt und aufgeschrieben. Die Hauptschwierigkeit ist, dass bei jedem Vokal nicht nur Klang und Länge zu notieren ist, sondern auch Ton (notiert durch superskript 1, 2, 3 für low, mittel, high; zuweilen „ 2 3“ wenn die Töne sich von 2 zu 3 bewegen! Er spricht Beispiele von Wörtern, die klar machen, dass diese Unterscheidungen wesentlich sind für Interpretation, indem die Bedeutung sich ändern kann bei einer solchen Lautänderung.) In der Diskussion frage ich, ob wohl eine Korrelation besteht zwischen besonderer Beachtung der einer Sprache, bei der der Ton wichtig ist, und Neigung zum Singen (das doch vielleicht aus Satzmelodien entstanden ist) und allgemein musikalischer Begabung; ich sage, dass im Bergischen Land die Intonation eine viel größere Rolle spielt als bei in Süddeutschland; und die Menschen dort sind auch besonders sangesfreudig. Und vielleicht Schwedisch auch. Er sagt, Entstehung des Singens aus Intonation könnte sein. Aber bisher sind keine Untersuchungen über die weitere Korrelation gemacht worden. Er sagt auch mal, dass die ganzen Indianersprachen in Amerika vermutlich verwandt sind mit asiatischen Sprachen; aber die Einwanderung über die Beringstraße muss schon vor vielen Jahrtausenden gewesen sein.) – Beim Gehen ins Haus fällt Nena hin und schlägt ihre Stirn und Augen auf der Seite an einen Stein. (Sie ist nicht bewusstlos geworden und meint, es ist harmlos. Der Dr. wird telefonisch bestellt. Ich setze mich zu ihrem Bett in ihrem Zimmer, und wir plaudern über die Vergangenheit. Wir stellen fest, dass wir uns zum letzten Mal ca. 1924 gesehen haben, in Wiesneck, als ihre Mutter mit ihr und Mädele in einem Flügel (W-Ende) des großen Hauses wohnte; sie sagt, im anderen Ende wohnte ein seltsames Paar (Nachbarn von ) Bald kommt der Doktor (er gibt sofort Alkohol auf die aufgekratzte Haut zur Desinfektion; er sagt, es ist sonst ganz harmlos; wir sind alle erleichtert.))