74Tagebuch 15. XII. 1969 – 28. VIII. 1970 [Rudolf Carnap: Tagebücher], Eintrag Do 22. I. 1970

9 ½ (anstatt 9:05) S.ra Artemisia de Gortari holt mich ab. (Ein Freund fährt uns in seinem Auto, etwa ¾ Stunde zum Gefängnis. Mit ihr in das Gebäude, das viele Höfe und Flügel hat. Zunächst zum office ihres Freundes; der ist jetzt, zu ihrem Erstaunen, ein wichtiger Mann hier, er entscheidet, ob jemand einen Gefangenen besuchen darf; sie stellt mich ihm vor, und wir bekommen Papiere, aber für Besuch von de G., nicht in der Baracke, wo dann Nicolas zu uns kommen könnte, der in derselben Baracke wohnt, sondern nur zum Polygon. Wir gehen noch durch allerhand Höfe und Räume. In einem Hof treffen wir eine ältliche Frau, die ziemlich einfach aussieht. Mrs. G. sagt, sie ist Nicolas’ Mutter, und begrüsst sie freundlich; ich auch, ich bitte sie, ihm meine Grüße und Wünsche und die von R zu sagen. In einem Zimmer wird mein Geld gezählt (Mrs. G. hatte mir gesagt, ich dürfe nicht mehr als 100 P bei mir haben.) Und dann werde ich von oben bis unten abgetastet, vermutlich um versteckte Waffen zu entdecken. Mrs. de G. wird allein in ein anderes Zimmer geführt, vermutlich für denselben Zweck. Sie hatte mich auf eine Bank hingewiesen, und ich setze mich darauf; das war aber eine Steinbank und ganz kalt, sodass ich lieber herumstand. Dann wurden Pass und Touristenkarte weggenommen, und eine runde Metallkarte mit Nummer ausgehändigt (vermutlich bedeutet die Nummer den Ort, zu dem ich gehen darf). Diese ganzen Formalitäten, bis wir schließlich zum Polygon kamen, nahmen mindestens ½ Stunde. Der Pol. steht unter einem hohen Stahlgitterturm (vielleicht eine Radiostation?). Der Pol ist ein aus Metall und Glas gebautes 8-eckiges Gebäude, vielleicht 8 m Durchmesser, mit 4 Türen; oft sind 2 offen, und dann zieht es sehr. Ein großer Tisch und ein kleiner Tisch; hinter jedem ein (verdrießlicher) Polizei🕮\(Poligon) (Nicolas)\beamter; der am großen Tisch ist Aufseher des Ganzen; immerzu kommen Polizisten herein, sprechen mit ihm und gehen wieder; Mrs. G. zeigt ihm das Papier, und er schickt einen Polizisten aus, deG. zu holen. Dann sitzen wir auf einer Reihe von Stühlen. Sie sagt ihm, dass sie keine Erlaubnis für Nick bekommen hat; daraufhin sagt er, manchmal geht das etwas leichter zu deichseln auf dem unteren level. Er geht zu dem Polizeibonzen und sagt ihm, dass ich von weit komme und gern Nick sehen möchte. Daraufhin schickt der Bonze einen Polizisten hin, und der kommt zurück mit Nicolas. Wir begrüßen uns sehr herzlich. –Vorher hatte ich einige Zeit mit G. gesprochen. Sein Feld von Interesse ist sehr weit. Er hat Artikel über Cohens Beweis geschrieben, und über Zeit in der Atomphysik; hiervon hatte ich etwas im ms gelesen und mache comments zu seiner Kritik von Heisenberg (und der Kopenhagener Interpretation. Ich sage auch, dass mein Buch über Physik ins Spanische übersetzt ist, in B.-A.11für Buenos-Aires, Verlagsort der spanischen Übersetzung; aber R. hat gesagt, dass der Verleger jetzt nicht nach Mexiko verkaufen will; ich will einige Ex. bestellen und wenn ich sie bekomme, schicke ich sie an R., für R. de G. und Nicolas. (G. hat schwarzen kurzen Bart und Backenbart.) 🕮\Jan. 1970 / Mex. D.F\ Von jetzt ab spreche ich mit Nic. Er sagt (worüber R. nicht sicher war), dass doch seine ms zerstört worden sind, und eine Schreibmaschine gestohlen. Ich hatte von R. gehört, dass die anderen Gefangenen böse sind auf die politischen Gefangenen, und dass die Gefängnisverwaltung es den anderen Gefangenen ermöglicht hat, gewalttätig zu werden gegen die politischen, und deren Sachen zu zerstören oder zu stehlen. Ich sage, das muss ein furchtbarer Schlag für ihn gewesen sein. Er sagt: Nein, er ist schon eifrig dabei, es neu zu schreiben, und weiß in vielem noch, wie er es früher übersetzt hat. Ich bewundere ihn, wie er solche Schicksalsschläge mit stoischem Gleichmut nehmen kann, und sich dann wieder fleißig an die Arbeit geben. Er sagt, er hat Pläne, nach England auszuwandern; und dafür lernt er jetzt Englisch. Ich sage: Warum nicht lieber USA? Er sagt, es schien ihm sehr zweifelhaft, ob da politische Häftlinge, die von ihrer eigenen Regierung als Rebellen angesehen werden, zugelassen würden. Ich: Ja, jetzt unter Nixon würde das schwierig sein; aber wir hoffen, dass 1972 wieder ein liberaler Präsident erwählt wird; und dann besteht Hoffnung. Z. B. unter Präsident Kennedy würde er wahrscheinlich zugelassen sein. – Mrs. de G. bittet mich, auf 2 Karten von Postkartengröße einige Worte für die beiden Männer zu schreiben. Zuerst denke ich: Wie kann ich so etwas Schwieriges aus dem Stegreif unter allgemeinem Zuschauen schreiben. Aber dann gelingt es mir doch ganz gut. Zuerst an de G., dann an Nick. Ich spreche meine Bewunderung aus über ihren Mut und Standhaftigkeit, und meine große Freude, sie wiederzusehen und zu erleben, wie sie ihre positive Haltung immer noch trotz aller schweren Verluste aufrecht erhalten. Und dass ich von ganzem Herzen ihnen wünsche, dass sie es weiter überstehen können. (R. hatte mir vom Hungerstreik berichtet; aber ich vergesse ganz, hiervon zu sprechen oder schreiben.) Die Männer sagen, sie werden meine Karten ihr Leben lang hochschätzen. – Zum Schluss nehme ich Abschied von G. und dann von N. Sie danken mir immer wieder; sie sagen, das dies war der schönste Tag seit . (vielleicht 1. Jan. 1969?) Mit beiden Umarmung und Handschütteln; Nic küsse ich auch auf die Wange, und er mich. Mir sind vor Bewegung die Tränen nahe, 🕮\\ und vielleicht ihnen auch. – Dann gehen Mrs. de G. und ich hinaus; sie sagt mir immer wieder, wie dankbar sie mir ist, und dass es für ihn eine besondere Freude und Stärkung sei; zweimal wenden wir uns um und winken ihnen zu mit der Hand, mit erhobenem Arm; ich auch ein drittes Mal, obwohl ich nicht erkennen konnte, ob sie noch da standen. – Dann bekommen wir unsere Pässe usw. zurück. Draußen ist ein anderer Freund mit seinem Auto. Wir setzen uns zuerst zusammen hinein; und dann diktiert sie mir die zwei Punkte, um die ich sie im Gespräch mit de G. gebeten hatte, es sich zu merken und mir dann zu sagen (siehe braunes Umschlagpapier). Dann verabschiedet sie sich, und der Freund fährt mich zum Hotel. – Abends Halsschmerzen (vielleicht durch die kalten Räume und den Durchzug im Poligon).