74Tagebuch 15. XII. 1969 – 28. VIII. 1970 [Rudolf Carnap: Tagebücher], Eintrag Do 15. I. 1970

6:15 Aufstehen, 7 Frühstück, 7:30 Abfahrt zum airport. Diesmal sind wenig Leute da; wir können wieder am Fenster sitzen, mit noch besserem Ausblick. Da sind die Berge ähnlich wie bei Guad., aber viele Stellen unbewaldet und unbeackert. Dann Piz de Orizaba; und später Pop. und Ixt. (50 min. Flug, Mexicana 203). Wie wir aufs Gepäck warten, kommt auf einmal Rafael, umarmt mich herzlich. Er fährt uns in seinem roten Auto in die Stadt.OCiudad de México (Ich sage, ob er ein geeignetes Hotel gefunden hat, nicht zu weit von ihm und von Grete; Nena hatte gemeint, das ist kein anderes Hotel außer San Angel Inn, und das ist zu elegant. Er sagt: Ja, es ist gut gelegen, an Insurgentes, (nicht weit von Chapult. Park ?); es ist elegant, aber nicht zu teuer für mich. Wieso? Seiner Organisation hat er gesagt, ich sei der beste Philosoph der Welt und ich würde mit ihm und anderen Philosophen und Studenten sprechen; daraufhin haben sie, wie oft schon vorher, ihn beauftragt, mich als ihren Ehrengast zu empfangen und im Hotel El Diplomatico auf ihre Kosten unterzubringen! Erst glaube ich es nicht; dann sage ich, er hat seine 🕮\(Jan. 1970 / Mexico D.F.) / Laveranza\ Organisation beschwindelt, denn ich tue das nicht für diese; er: Nein, er hat es richtig denen beschrieben, und die haben zugestimmt! Er fährt uns zum Hotel. Wir bekommen zwei riesige fabelhafte Zimmer nahe beieinander, jetzt mit großem Badezimmer und großem Wandschrank und je 2 Betten, und großem Schreibtisch; sehr ruhig nach hinten hinaus, im 7. Stock (von 8 Stockwerken), mit Balkon, mit schöner Aussicht über die ganze Stadt! Dann erklärt er uns, dass auch die Mahlzeiten einbegriffen sind. Vorher hat R. zu mir und H. gesagt, dass er gern mich mit Frau Gort. und mit dem Bruder oder der Mutter von Nic. zusammenbringen will, wenn ich möchte; ich frage, wie es mit finanzieller Hilfe stehe. Er sagt: Aus der angeblichen Zusage zu G., dass er freigelassen würde, wenn er eine Stelle in einem anderen Land fände, ist nichts geworden. Die Behörden möchten nicht, dass dadurch Kritiker in anderen Ländern aktiv würden. Er meint sagt, dass sie einstweilen noch ihr Gehalt von der Universität bekommen; das würde erst aufhören, wenn sie gerichtlich verurteilt würden, was aber wohl kaum bald geschehen wird. Daher würde die Hilfe sich einstweilen wohl nur auf Medizin (bei G.) und Bücher beziehen; man hat ihnen mss fortgenommen (vielleicht auch Nic das ms der Anthologie des Logischen Positivismus) und verbrannt. Wenn ich mit denen sprechen wollte, so wäre es wohl mehr, um ihnen Sympathie auszudrücken; sie sind im Konflikt, weil sie einerseits den Gefangenen helfen möchten, andererseits aber keine Schritte machen dürfen, die die Situation noch verschlimmern würde. Er und andere glauben, dass der neue Präsident, der am 1. Dez. 1970 gewählt werden wird, eine Amnestie erlassen wird; das ist immer so geschehen; der neue Präsident will damit noch seine Situation verstärken (es ist nicht ganz klar, wieso). (Er fährt fort, ist von 12 – 3 im Amt beschäftigt.) 3 ½ kommt er zurück, fährt mich zu einem barbershop und bezahlt auch das, trotz meines starken Widerspruchs. – Zurück ins Hotel; Grete ist immer noch nicht zu erreichen; H will dableiben. R. fährt mich zu seinem Haus an Mimosa 48. (Laferanza, schön, lebhafte dunkle Augen, kommt auf mich zu und begrüßt mich sehr herzlich und küsst mich. Sie sagt, sie wisse von R., dass ich ein sehr sweet Mensch sei; ich sage: nicht immer, oft auch aggressiv; er: das schließt sich nicht aus. Sie sagt, es sei eine große Freude und Ehre, mich zu empfangen. Ich sage: Er ist ein lieber Freund und daher kein objektiver Beurteiler; sie darf seinen praise von mir nicht als objektives Urteil nehmen. – Das Haus ist interessant angelegt: zuerst ein Garten, dann Schwimmteich; links davon die offene, aber überdachte Terrasse, auf der wir später essen; dann mehrere Zimmer, die in einander gehen, mit vielen Büchern, ein Klavier, Kaminfeuer; am Ende sein großer schwerer Arbeitstisch aus dicken Balken gebaut. (Vorher im Hotel hat er mir und H. erzählt, dass die politischen Gefangenen Hungerstreik gemacht haben, weil die Gerichtsverhandlungen ganz unfair waren; den Verteidigern wurden die Anklagen und Argumente nicht schriftlich mitgeteilt, und die Richter machten ihre Verurteilungssprüche ganz willkürlich. Zur Strafe für den Hungerstreik haben die Behörden es zugelassen, dass die politischen Häftlinge von anderen Gefangenen und deren Besuchern misshandelt wurden; daraufhin schritten Polizeitruppen ein und haben viele verwundet und einige getötet. R. selbst habe telefonische Drohungen bekommen, er solle lieber keine Schritte unternehmen, wenn ihm daran liege, dass seinem 17-jährigen Sohn Hector nicht geschehe!) –🕮\Mädele, im Bazar\In R.s Haus bringt R. auch seinen 17-jährigen Sohn Hector herbei und sagt, der freue sich so, dass er mich kennenlernen dürfe; er habe Schwierigkeiten, weil er, jetzt an SeniorHigh-School, sich immer noch nicht entschliessen kann, was er als major nehmen soll. Ich sage ihm: Das macht gar nichts; darum soll er sich keine Sorgen machen, das entwickelt sich von selbst. Ich erzähle, dass Erika ähnliche Sorgen hatte; ich erzählte ihr, dass ich als Universitätsstudent, Mathematik, Philosophie und Physik studierte und auch nicht klar war, welches mein Beruf werden würde. Wie ein Junge, der jedes von drei Mädchen gerne mag, aber sich Sorgen macht, weil er keine „ganz liebt“; das kommt später von allein.)