74Tagebuch 15. XII. 1969 – 28. VIII. 1970 [Rudolf Carnap: Tagebücher], Eintrag Mo 22. XII. 1969

Wir alle fahren zur Stadt. (H. und E. gehen zum Zocalo Markt, wollen Sachen kaufen.) Chacha und ich fahren mit Nena herum, die ihre Weihnachtsgaben zu den Freunden bringt; dadurch sehen wir viele Stadtteile. Eine Familie wohnt ganz weit draußen, an der Straße nach Veracruz, die von der Hauptstraße (nach Mitla) nach links abzweigt (sie sind nicht zu Hause; Nena erzählt, dass der Mann früher ein Marineoffizier (in Deutschland?) war; jetzt interessiert er sich für Ethnologie und misst auch die Entfernungen und Höhen der verschiedenen Indianerdörfer um eine Landkarte davon zu machen (unklar, wieso es die noch nicht gibt; und Schiffe). Schließlich treffen wir uns im großen Gedränge am Zocalo wieder; da ist eine große Krippe aufgebaut; wir sitzen auf der 🕮 Plattform in der Mitte des Platzes. – Abends 5 ½ fahren wir alle ab zum Xochimilco (das ist die Gegend, die wir von der Terrasse, am Hügelabhang jenseits der Schlucht sehen). Wir besuchen den Weber (tejedor), den wir immer am Webstuhl klappern hören; 4 Kämme können auf und ab bewegt werden, das tut der mit den Füßen; mit den Händen zieht er immer das Gewebte straff, und knüpft zerrissene Fäden wieder an, die von der großen Spule mit verschiedenen Farben herunterkommen; durch Bewegung der Kämme bestimmt er, welche Längsfäden so hoch gehalten werden, dass der Schuss unter ihnen durchgeht, sodass sie sichtbar bleiben und die gewünschten Figuren bilden.) Dann fahren wir weiter, und Nena gibt in einigen Häusern ihre Weihnachtspäckchen ab. Bei einigen gehen wir mit hinein. Z. B. Familie Sheyer1Wegen des Moholy-Bezuges könnte es sich um Verwandte von Emmy Esther Scheyer, genannt Galka Scheyer (1889-1945) handeln. aus den Staaten; die haben ein schönes modernes Haus gebaut mit schönem Ausblick; er ist Bildhauer und Töpfer, wir schauen auch in die Werkstatt hinein und daneben den großen Ofen. Er hat Moholy und das Bauhaus gut gekannt. Er ist erfreut zu hören, dass ich M. und Bauhaus auch kannte. Bei ihnen zu Besuch war noch ein älteres amerikanisches Ehepaar, die auch interessant zu sein schienen. Dann zum Haus von Frau Zohn (P) (die mal bei uns war; eine Deutsche, ihr Mann war russisch-jüdischer Emigrant; sie ist heute früh um 4h nach Pueblo gefahren, um Freunde abzuholen, die weder mit Flugzeug noch mit Eisenbahn kommen konnten: ein Japaner Tamatzu (P), und seine amerikanische Frau; er behauptete scherzhaft, er sei 99 Jahre; ein Künstler mit weißem Haar und Ziegenbärtchen, sehr munter und lebhaft. 🕮 Dann zu dem Metallkünstler (Blechschmied) ; ein armer Indio. Wir sitzen auf Stühlen an der Wand, die aus anderen Häusern hereingebracht worden sind, weil hier Kinder zusammenkommen sollen und singen, und dann zur Posada zur Kirche gehen. Wir warten von vor 7 bis 8 Uhr vergeblich. In der großen Stube ist auch sein Arbeitstisch, wo er besonders Kupfer hämmert, große Krüge und andere Gefäße; aber auch Silberplatten mit Ornamenten. Ihre zahllosen Kinder aller Altersstufen spielen herum, lebhaft, aber ohne jedes Zanken oder Geschrei, auch von den Eltern kommt kein Mahnwort oder Zurechtweisung. Die Frau sitzt meist dabei mit dem jüngsten Baby auf dem Arm; mal zieht sie ihre Brust aus dem Kleid hervor und lässt das Baby trinken. Später sitzt sie in ihrem kleinen Schlafzimmer und lässt uns auch hinein kommen; dort wickelt sie einen farbigen Faden aus einem großen Strang, der über ein großes Rad gelegt ist, das sie mit der Hand immer anstößt, auf eine kleinere Spule, wie der Weber sie braucht. Für die Arbeit eines ganzen Tages bekommt sie dann 10 P. (= 0.80 $)! Schließlich um 8h, als die erwarteten größeren Mädchen, die an der Kirche singen sollen, immer noch nicht gekommen sind, verabschieden wir uns (zu meiner Erleichterung) und fahren nach Hause. – Ich sage beim Abendessen, dass ich beeindruckt bin durch die Anzahl der wirklich interessanten Menschen, die sich in Oax. angesiedelt haben; wirkliche Charaktere, die sich ihr Leben im eigenen Stil gestalten, sehr geschmackvoll, und vor allem ihr Leben ganz so einrichten, wie es ihren Gefühlen entspricht, ohne Rücksicht darauf, was üblich ist; Nena bestätigt das sehr. –🕮