72Tagebuch 4. I. 1968 – 31. XII. 1968 [Rudolf Carnap: Tagebücher], Eintrag So 7. IV. 1968

Vormittags etwas an pr. – Beim Mittagessen rede ich Erika sehr zu, doch heute nachmittag mitzukommen; ich will auch hingehen, und für sie ist es doch wichtig im Zusammenhang mit ihrem gestrigen Marathon der Jugendlichen. Dr. Bach’s „Confrontation of the generations“; ein meeting der Jugendlichen, die gestern (von 8:30 – Mitternacht) im Marathon waren, zusammen mit den Eltern; es soll 1:30 – 5 sein; in Wirklichkeit 1:30 – 9! (Dr. Bach nimmt jeweils eine Familie vor; Eltern und Kinder 🕮 sitzen dann nahe bei ihm; ich sitze dicht bei ihm, damit ich besser sehen und hören kann. Bachs Assistent Marshall sitzt dabei; er stellt die Familien vor. Dann fängt eines der Kinder an, Klagen oder dergleichen vorzubringen; und die Eltern (die in Marshalls Therapiegruppe teilgenommen haben) antworten darauf. Wenn die Klage zu allgemein ist, sagt Bach: „Gib Beispiele“. Es ist erstaunlich und erfreulich, wie offen hier die Familienschwierigkeiten erörtert werden; meist stellt sich heraus, dass ein Mangel an Kommunikation der Hauptfehler ist; die Kinder, besonders die Heranwachsenden, klagen, dass sie bei den Eltern kein Gehör oder wirkliches Verständnis finden. Offenbar auch ernste Schwierigkeiten, wo ein Junge darauf besteht, dass er grass“ (marijuana) und sogar pot (drugs) nicht aufgeben will (von Zigarettenrauchen wird viel weniger gesprochen; es scheint allgemein anerkannt, dass die Jugendlichen das selbst entscheiden, dass sie rauchen. Auch hier beim meeting.) Auch die Schwierigkeiten zwischen den Eltern kommen offen heraus; das ist sicherlich schon in der Gruppe ausgesprochen und durchgesprochen worden, sodass hier weniger darauf eingegangen wird. – Um 6 wird ½ Stunde Pause gemacht; Dr. Bach führt mich zu seinem Schlafzimmer und lässt mich auf seinem Ehebett schlafen ausruhen; Hanneli bringt mir K. Nachher geht es weiter. Zu meiner Überraschung kündigt Dr. Bach unter den Familien, die drankommen werden, auch „die Familie Thost“ an; das hatte ich nicht erwartet. Dann sitzen wir drei auf dem Sofa, Erika in der Mitte zu meiner Rechten. Erika fängt an, dass manchmal traut sie sich nicht, mich um etwas zu bitten, sie fühlt sich schuldig dabei. Ich: Warum schuldig, fragen ist keine Sünde, wir überlegen es dann in der Familie. Erika: Ich fühle mich gross genug, ich möchte einfach mitbestimmen. Ich: Gewiss, Du kannst nicht einfach selbst bestimmen, aber Du hast eine Stimme unter dreien. Sie: Aber manchmal sind Schwierigkeiten. Ich (oder Dr. Bach): bitte Beispiel! Erika: Z. B. in der Wohnung; ich kann nirgends meine geliebten Arbeiten tun, Batik usw. Ich: Ja, das ist ein Problem mit der Farbtupfen und so, wegen carpet; aber wir müssen dann 🕮versuchen‚ eine Lösung zu finden; vielleicht gibt es ein Zimmer im Keller von unserem Gebäude; das könntest Du als den haben. Dr. Bach: Denk’ mal, Erika, dann bekommst Du einen eigenen den ganz für Dich. Hanneli Erika sagt, dass ihre Mutter ihr viel Freiheit gibt und Vertrauen schenkt. Hanneli sagt, dass ich ihre die Kinder ohne die engen Schranken der „bourgeoisie“ von Kindheit an aufgezogen habe, und sie erzieht Erika in demselben freien Geist; sie spielt an auf die damalige Jugendbewegung. Dr. Bach fragt mich, wie ich mich dazu stelle. Ich sage, ich stimme Hanneli zu , dass es das Beste ist, Freiheit und Vertrauen zu geben; zumal, da ich finde, dass Erika für ihr Alter ungewöhnlich gereift ist; (daraufhin sagt Hanneli Obiges über meine Erziehungsideen als sie ein Kind war.) Ich sage, für mich ist es ja leichter, die Freiheit zu geben; ich bin 2 Generationen entfernt von Erika, und da ist die Generationenspannung nicht so groß; und außerdem habe ich die Verantwortung nicht zu tragen wie die Mutter. Als wir fertig sind, spricht Dr. Bach ein paar Worte, wie erfreulich es ist, dass in dieser Familie die Probleme besprochen und zusammen gelöst werden; und dann bricht, zu meinem höchsten Erstaunen, ein langer schallender Applaus los. – Nachher war ich aber doch müde und konnte nicht mehr so gut auffassen. Das Ganze ging bis 9h anstatt 5h! Dr. Bach stellte mir verschiedene Leute mir vor und sagte, ich sei ein sehr prominenter Philosoph; 2 Männer wollten mir die Hand schütteln und ihrer Freude Ausdruck geben.) Endlich um 9 fahren wir ab. Unterwegs sage ich Erika, wie gut es doch war, dass sie mitkam, und sie sagt auch, dass sie froh ist und vieles dabei gelernt hat; ich sage, so viele Leute machten sehr unklare comments in der Diskussion, und ich war sehr erfreut, dass ihre Bemerkungen immer klar waren.