69Tagebuch 31. XII. 1964 – 31. XII. 1965 [Rudolf Carnap: Tagebücher], Eintrag Sa 3. VII. 1965

Vormittags Spaziergang mit Johannes. (Ich erzähle, wie guten Boden ich in Amerika für meine Ideen gefunden habe, was in Deutschland unmöglich gewesen wäre. Die wissenschaftlich strengeren Forderungen, und die Benutzung der symbolischen Logik.) Nachmittags Spaziergang. (Ich sage Johannes, dass ich ihm einiges aus meinem Leben berichten möchte, ich weiß nicht, ob er es schon weiß. Es stellt sich heraus, dass er über meine Beziehung zu Maue weiß, und auch über Maues Kinder. Ich erzähle ihm von den zwei Mitternachtsgesprächen, und jetzt von meinem Besuch in Stuttgart und in Kappel, und in Hofners Haus mit Annemarie und Hanneli. Auch, dass sie nicht wünschen, daraufhin angesprochen zu werden. Ich frage nach seinen Gefühlen, und dass er es sicher verarbeiten muss. Er sagt, er bemüht sich sehr, nicht pharisäisch zu urteilen, sondern zu verstehen, auch aus der damaligen Situation heraus, und dabei bescheiden zu bleiben, und sich zu nichts zu brüsten. Ich sage, ich würde auchgOriginal auch würde. keineswegs sagen, dass einfach alles damals richtig war; die Probleme waren ernst und verwickelt. Und es liegt mir auf dem Gewissen, dass ich den Kindern zu wenig gegeben habe.) Abends kommt Gerti und ich esse mit ihr allein das Abendbrot. Nachher🕮 6-7 mit Johannes zur Wochenendandacht (es wird gesungen, aber von beiden Liedern sind die Melodien mir ganz unbekannt, und auch schwierig für die Leute, scheint mir. Leider habe ich versäumt, mir ein Gesangbuch mit großer Schrift geben zu lassen; so kann ich nicht mitsingen. Ebenso bei dem Liturgiesprechen; da spricht immer der Pfarrer ein Stück, und dann sprechen die Leute, nach dem Gesangbuch, das nächste Stück; beides ist in alttestamenter Sprache, vielleicht aus Psalmen, jedenfalls sehr fern von der üblichen Sprache, sodass die Leute eigentlich Erklärungen brauchen würden. Dann eine einfache Ansprache des Pfarrers. Ich hatte schon erwartet, dass da von Gott und Erlösung usw. gesprochen wird, aber ich dachte, es würde über Probleme sein, die die in ihrem Leben finden. Es war über einen Spruch, dass „der Sohn des Menschen“ (!) die Verlorengegangenen sucht und findet. Aber es war in der Sprache immer nahe an der Bibel, gar nicht in der Sprache, die den Leuten geläufig ist. Ich denke, dadurch wird doch eine Kluft geschaffen zwischen dem, was in der Kirche geschieht, und ihrem wirklichen Leben. Trotzdem ist es schön, zu sehen, wie Johannes dies mit so tiefem Ernst und voller Hingabe tut; er ist auch so, dass er alles, was er tut, ganz tun will. Aber ich bin doch erstaunt und etwas enttäuscht über Zweierlei: die esoterische Sprache, und zweitens das Basieren der Ethik auf die Theologie, wo mein Großvater so kämpfte.) – Abends kommt Gerti, und wir zwei essen allein. (Sie erzählt von Bekannten, die sich für die Philosophie der Wissenschaft interessieren, und die auch von mir gesprochen haben. Sie fragt nach Semantik, 🕮 und einigen anderen Sachen, die ich ihr anscheinend voriges Jahr erklärt habe.) Später kommt Ulrich Hegel26Es könnte sich um Ulrich Hegel (* 2.5.1930) handeln, vgl. Ulrich Hegel (charite.de), verheiratet mit Barbara Schaeffer-Hegel (*10.11.1936), vgl. Barbara Schaeffer-Hegel – Wikipedia, ein Freund von ihr. (Er §hat Doktor in Physik gemacht, und ist dann zur Medizin übergegangen, will aber wahrscheinlich doch später lieber Forschung machen als ärztliche Praxis. Er will eine Zeit lang in einer Klinik arbeiten und fragt sie, welche Station am interessantesten ist. Mal sagt er „das war noch nicht die entscheidende Frage, zu der komme ich jetzt erst“; und dann fragt er über die Stadt. Ich sage: „Welche Enttäuschung! Ich dachte natürlich, die „entscheidende Frage“ würde sein: „Willst Du die meine sein?“ Beide lachen sehr. Erst am anderen Morgen höre ich von Sabine und Johannes, dass er anscheinend sie wirklich mal heiraten wollte, aber sie fand, dass er zwar nett und gescheit wäre, aber doch zu penibel in Einzelheiten, zu pendantisch. Einen anderen habe sie abgelehnt, weil ihr Vater sagte, sie solle nicht heiraten, bevor sie das Examen hinter sich hätte; er aber wollte nicht so lange warten und heiratete dann bald eine andere. Ich sage: Dann war es ihm also wohl auch nicht so sehr um Gerti zu tun. Sie meinen, Gerti sei nun doch schon 27; und vielleicht habe sie schon nicht mehr so stark das Bedürfnis nach Ehe und Kindern und würde es später noch weniger haben, wenn der Beruf sie ganz erfüllte (!). Ich sagte: Viele wollen aber beides vereinigen; sie beschließen dann, nur zwei Kinder zu haben. Aber darauf gehen sie nicht ein.) – Auf einmal ist es 10h, und ich gehe schlafen. 🕮