65Tagebuch 06. X. 1952 – 03. VIII. 1955 [Analyseprotokolle] [Rudolf Carnap: Tagebücher], Eintrag Fr 8. VII. 1955

Ich habe überlegt, obseine Frage gestern, ob ich allein gekommen sei‚ bloß eine Frage oder eine Suggestion war. Ich denke: mehr als eine bloße Frage; zwar keine „Erwartung“ oder „demand“, aber doch eine Suggestion, damit ich mir es überlegte. Ich habe es überlegt, auch zusammen mit Ina. Die Schwierigkeit ist, dass, wenn etwas schief geht, wie z. B. vorgestern mit der Bremse, dann müsste ich allein herumgehen, irgendwo telefonieren, warten usw.; ich weiß nicht, ob ich das schon könnte. Er: Ich scheine immer die schlimmsten Möglichkeiten ins Auge zu fassen; ich: aber waswas würde denn schließlich passieren? Ich: Ein Rückenknax, wenn ich zu müde werde; das ist zwar seit 3 Jahren nicht passiert, aber damals doch mit schlimmen Schmerzen; also nicht so unrealistisch, als ob ich fürchte, hinter der Ecke bedroht mich ein Drache. Er: Dann wäre ich ja insane; das Charakteristische der Neurose ist, dass das reale und irrationale Faktoren gemischt sind. Und es ist typisch, dass ich Ina oder ihn frage, ob ich das und das jetzt tun soll, anstatt mich selbst zu entscheiden. Das war im ganzen Leben so. Einer der wichtigsten Schritte im Leben ist der Beginn von Sex; wann habe ich angefangen? Ich: Nicht vor der Ehe, also nicht vor Alter 26. Er: Die natürliche Entwicklung ist die, dass ein Jüngling anfängt mit sich selbst, und dann mit Freunden, z. B. gegenseitige Masturbation; so etwas ist die natürliche und beinahe notwendige Vorbedingung auf Sex mit Frauen. Ich: Es war bei mir so stark verdrängt, dass ich nicht einmal bewusst mit Versuchungen zu kämpfen hatte; ich hatte die moralischen Werte der Eltern so sehr selbst akzeptiert, dass mir so etwas überhaupt nicht in Betracht kam. Er: Das zeigt, dass eine sehr starke, unbewusste Furcht immer da war, sodass ich nichts zu tun wagte, ohne „höheren approval“; auf allen Gebieten. Ich: Nur mit Beziehungen zu anderen Menschen und praktischen Entscheidungen; nicht intellektuell, da ergriff ich wohl die Initiative. Schlicks Suggestion war zwar nötig, mich nach Wien zu bringen; aber dann überließ er’s mir allein, weil er selbst sehr passiv war. Nicht nur wählte ich selbst die Topics meiner Vorlesungen, sondern ich wurde bald auch mehr aktiv in Zirkeldiskussionen als Schlick selbst. –In der Adoleszenz fehlte es mir Gefühlen und Fantasien; es fehlte aber an äußerer Aktivität und Beziehungen zu Menschen; Er: Was für Fantasien? Ich (nach einigem Überlegen): Ich lernte Esperanto, für mich allein, war begeistert über die Idee, verbunden mit Pazifismus; besuchte auch Kongresse, großes Erlebnis, quasi-religiöse Bewegung; aber mit lokalen Gruppen wollte ich nichts zu tun haben, und bei Propaganda war ich leicht entmutigt. Er: Vielleicht war es eher so: ich tat diese Dinge einsam, weil ich mich im Grunde vor Kontakt mit anderen Menschen fürchtete; als hätte ich einen firecracker in der Hand, und fürchtete, dass der Kontakt mit anderen es wie ein Streichholz zur Explosion bringen könnte. –Er: Was war wohl die Furcht in der Kindheit? Wenn meine Mutter jetzt hier wäre, die könnte sicher allerhand sagen, wie sie sich gewundert hat, warum ich nicht mehr aktiv war; jeder Junge ist doch neugierig und auf Abenteuer aus, z. B. in bezug auf die Schwester, und so; vielleicht würde die Mutter Ähnliches berichten wie Ina aus der Wiener Zeit, über meinen Mangel an Initiative. Ich: Aber waren es nicht gerade die Eltern, die die Initiative verboten, bei Neugierde inbezug auf die Schwester und Spiel mit dem eigenen Organ usw.? Er: Das auch; aber sie wollten mich doch wohl mehr unternehmend und positiv im Kontakt mit anderen Menschen. 🕮\(_{62}\)