65Tagebuch 06. X. 1952 – 03. VIII. 1955 [Analyseprotokolle] [Rudolf Carnap: Tagebücher], Eintrag Do 7. VII. 1955

(anstatt 4.7.) Ich komme atemlos herein, ich sage: vom Fahren. Er fragt, ob ich alleine kam; ich: nein, aber ich hoffe, bald; jetzt geht die Bremse leichter. – Ich berichte: gestern, im Hospital, Magen X-ray; ich war zu schüchtern, den X-ray-Doktor zu fragen, ob er etwas von einem ulcer sieht. Dr. Kupper: Da ist ganz gewiss kein ulcer. Ich: Schließt er das aus der Art der Schmerzen, wie ich sie berichtet habe? Er: Ja. Ich: So auch Dr. Wallis; das sagte ich mir jetzt immer zur Beruhigung; aber doch auch etwas Sorge, vielleicht ein ulcer, vielleicht ein Tumor, vielleicht Krebs. Er: Wenn ein ulcer käme, müßte ich dagegen kämpfen und wohl vielleicht den Rücken vergessen. Ich: Vielleicht würde der Rücken eifersüchtig. – Auf seine Frage, jetzt keine Klassen, ich arbeite an meinen eigenen Sachen. Er: Was? Ich: Ein Band [Schilpp]: ich muss Erwiderungen schreiben. Aber das schlimmste ist die intellektuelle Selbstbiographie. Er: Ist das embarrassing? Ich: Nein, aber schwierig; ich schreibe lieber über Probleme. Ich weiß selbst nicht genug über die Motivation meiner Philosophie; ich habe schlechtes Gedächtnis. Er: Er hat das gemerkt; wie wenig ich über die erste Ehe und Beziehung zu den Kindern gesagt habe; auch über Anfang mit Ina, nur einige bloße Fakten; vielleicht ist alles das zu sehr mit Gefühlen besetzt, und auch schmerzlichen. Ich: Das ist sicher der Fall in Bezug auf die erste Ehe. Aber der Wiener Kreis war eine sehr glückliche Zeit: trotzdem weiß Feigl besser‚ was ich damals sagte, als ich. Er: Da waren aber auch sicherlich mehr Gefühle im Spiel, als ich jetzt sehe; Rivalitäten, Freundschaften usw. –Er: Es ist ihm jetzt klar, dass es besser für mich ist, nicht in zu tiefe Schichten hinunterzugehen, und zu versuchen, sie durch frühe Erinnerungen aufzuwecken. Stattdessen lieber an den heutigen Beziehungen arbeiten: zu Ina, zu Freunden, zu Kollegen und Studenten usw. Er glaubt, die Aufdeckung gewisser Dinge bei Dr. Wallis sei nicht ganz spontan gewesen, ich sei da hineingedrängt worden, er bezweifelt die therapeutische Wirkung davon; diese sei vielmehr gekommen durch den freundlichen support, den Dr. Wallis gab. Ich: Ich glaube aber auch durch das Erlebnis von Dr. Wallis als Stellvertreter der Eltern „akzeptiert zu werden, trotz aller aufgedeckter Gefühlsbeziehungen 🕮\(_{61}\) zu Mutter, zu männlichen Freunden usw. – Er sagt wieder, es scheine mir jetzt leichter zu sein, zu ihm zu sprechen. Ich: Sicherlich, weil ich ihn sehe, z. B. heute, bevor ich zu sprechen anfing, und bevor er sich hinsetzte, sah ich sein Gesicht war verdunkelt, wie durch eine Sorge oder dergleichen; das gab mir das Gefühl, dass er nicht so absolut erhaben ist, sondern menschlich, und das war mir eine Erleichterung.