65Tagebuch 06. X. 1952 – 03. VIII. 1955 [Analyseprotokolle] [Rudolf Carnap: Tagebücher], Eintrag Fr 29. VII. 1955

Gestern Næss hier, und Frau. Abends für mich dachte ich: Freundschaft ist eine gute Sache. Es war ein wirklich erfreulicher Tag. Ich freue mich, dass ich jetzt intensiver erleben kann. Ich berichte: Ich sagte zu Næss, dass ich meine Aggressionen unterdrückt hat . Er fragt, ob es wohl auch möglich wäre, ohne Verdrängung unaggressiv zu sein; vielleicht Gandhi; wir spekulierten darüber, aber ohne endgültiges Ergebnis. Ich: Wenn ich denke, dass Gandhi schon früh im Leben auf Sex verzichtet hat, zweifle ich doch, ob das ganz natürlich und gesund war; ob es nicht eher aus Kindheitserlebnissen kam, ähnlich wie bei mir. Ich: Næss sagte, Gandhi hatte wirklich gute Gefühle zu allen Menschen, auch Gegner, wie Engländer und die Mohammedaner. Ich: Bei mir war das Gefühl „für die Menschheit“ nur für eine abstrakte Idee, nicht für die konkreten Menschen; im Gegensatz zu Neurath wollte ich gar keinen Kontakt mit den Arbeitern persönlich; ich war nur „für die Sache der Arbeiterschaft“. Er: Es ist gut, dass ich jetzt „elastischer“ sein kann, d. h. persönlichen Kontakt mit Menschen; sozusagen „mich beugen kann, ohne zu fürchten, dass der Rücken bricht“ (nur metaphorisch). Wenn die Fürchte verschwinden, z. B. vor der Scheide, davor, weiblich zu werden, usw., kann ich viel mehr Dinge im Leben genießen. 🕮\(_{65}\)

VIII / 1955