65Tagebuch 06. X. 1952 – 03. VIII. 1955 [Analyseprotokolle] [Rudolf Carnap: Tagebücher], Eintrag Mi 20. VII. 1955

Gestern war Virginia bei uns; seit 10 Jahren nicht gesehen. Ich freue mich über die Anhänglichkeit; wir wollten nicht Philosophie, sondern persönliches Gespräch. Sie ist Dr. med., hat 4 Kinder; sie scheint so heiter alle Schwierigkeiten zu bewältigen. Ich war überrascht, dass sie später zu Ina sagte, sie sei in Analyse; ich dachte, sie sei die normalste Frau, die man finden könnte. Wo sind denn Menschen, die keine Hilfe brauchen? Der Doktor: Es gibt keine. Ich: Wenn man die Kinder richtig erziehen würde, würden damit nicht die meisten Schwierigkeiten vermieden? Er: Nein, die Schwierigkeiten sind unvermeidlich; teils angeboren, teils aus den Umständen. Ich: Aber könnte man nicht wenigstens das Meiste vermeiden, so wie viele organische Krankheiten heute viel seltener sind? Er: Ja, vielleicht. Ich: Aber ein langsamer Prozess, die Eltern zu erziehen. – Ich: Ina war gestern abend erschöpft durch Erna; ich war froh, dass sie zu mir kam, und ich ihr ein wenig Zuspruch und moralische Stützung gab, wie sie es mir so oft gegeben hat. Heute sagte ich zu ihr: „Heute fahre ich Dich zu Deinem Doktor“, nicht wirklich gleichzeitig uns beide. – Neulich, als ich zum ersten Mal alleine fahren wollte, kam sie auf einmal mit allerhand Bedenken. Meist tut sie mich ermutigen und antreiben; daher war ich erstaunt. Aber ich dachte daran, dass er mal gesagt hat: eine Mutter hat gleichzeitig beides in sich: das Kind selbständig zu machen, aber auch es zurückzuhalten.