65Tagebuch 06. X. 1952 – 03. VIII. 1955 [Analyseprotokolle] [Rudolf Carnap: Tagebücher], Eintrag Mo 18. VII. 1955

Zuerst schweige ich, als ob ich auf eine Frage von ihm warte. Er fragt: immer noch scared, wenn er hereinkommt? Ich: Lange nicht so wie früher; aber eine kleine uneasiness, ein Gefühl, dass ich eine Aufgabe zu erfüllen habe. – Über Erna. Ich beneide sie um ihre Ungehemmtheit, obwohl das zu allerhand Schwierigkeiten führen muss. Sie meinte, Analyse scheint uns ja gut zu helfen; aber wenn man die den Quäkerglauben hat, braucht man keine solche Hilfe. Ich glaube, auch meinen Eltern half die Religiosität viel. Er fragt: Meine ich, dass das vielleicht eine mögliche Hilfe für mich wäre? Ich: Nein, nicht für mich; das theologische Element in der traditionellen Religion macht es mir intellektuell unmöglich. Er: Dafür habe ich mir dann eine eigene Theologie aufgebaut, eine Magie, mit Ritualen usw., um mich vor den vermeintlichen Gefahren zu schützen. Ich: Ich verstehe heute die Basis meiner Alkoholabstinenz; es war die Furcht, Kontrolle über mich zu verlieren; die Angst, die Impulse würden ungehemmt ausbrechen. – Über letzten Interc., . – Was für Kindheitsängste sind damit verknüpft? Er: Vielleicht fürchtete ich die Scheide meiner Schwester? Ich: Aber der Junge kann ja nicht sehen, dass da eine Öffnung ist. Er: Aber dass der Penis fehlt; es ist eine alltägliche Erfahrung in nurseries und Kindergärten, dass ein Junge, wenn er ein nacktes Mädchen sieht, plötzlich z. B. beide Hände vor seinen Penis hält, um ihn zu schützen. Ich: Erstaunlich, wie im Unbewussten die Kindesfürchte bestehen bleiben, trotz allen realistischen Denkens. 🕮\(_{63}\)