65Tagebuch 06. X. 1952 – 03. VIII. 1955 [Analyseprotokolle] [Rudolf Carnap: Tagebücher], Eintrag Fr 3. VI. 1955

(Inzwischen eine Sitzung ausgefallen, weil Feiertag.) Ich berichte: Im allgemeinen besser, mehr auf usw., Stimmung meist gut; aber oft Magenschmerzen, besonders nachts; am 1.6. auch ab und an über den ganzen Tag, ich war in Spannung, weil ich seinen Anruf erwartete. Montag, als die Sitzung ausfiel wegen Feiertag, hatte ich zaudernde Gefühle: ich vermisste es, aber auch Erleichterung, dass eine schwierige Aufgabe vorüberging. In der Nacht darauf 2 Träume 167: (1) ein Mann bedroht mich mit erhobenem Stuhl, und ich schreie um Hilfe; (2 (2) ein Doktor kommt und schneidet mir die Zunge ab. Bevor ich (2) berichte, sagt er: Ich muss als Kind gefürchtet haben, dass, wenn ich wage, gewisse Dinge zu tun, eine schreckliche Katastrophe kommen werde: dass ich zerschmettert oder zerschnitten werde. Ich: Wie kann er wissen: „zerschnitten“, bevor ich den zweiten Traum berichte, wo genau das vorkommt! Nachher fragt er Assoziationen zu Zunge; ich: Herausstrecken der Zunge = der Penis. Er: Da müssen Wünsche gewesen sein von dem Kind, etwas Gewalttätiges buchstäblich: Gewaltiges zu tun, wo aber Strafe droht. Darum will ich dann alles nur halb tun, als bargain, um die hohen Mächte zu beschwichtigen; der Vater forderte den Jungen auf, los zu sprechen, sich zu behaupten, etwas zu tun, aber der Junge tat es mit Tränen, um gleichzeitig seine Unterwerfung zu bezeugen; so gehe ich jetzt zwar zur Konferenz, sage aber: nur so viele Minuten und besonderen Stuhl, um meine Hilflosigkeit zu demonstrieren, damit die Mächte genug haben und mich nicht vernichten; so konnte ich zum Dean in Chicago sprechen, aber nur zaghaft; aufstehen, aber nur beschränkte Zeit; sogar die Analyse nur halb. Ich: Wie das? Die will ich doch so gründlich wie möglich machen. Er: Als ich ihm telefonisch absagte wegen Rücken, sagte er: ich soll einen Arzt konsultieren; darauf sagte ich: ich weiß aber doch, dass es bloßpsychologisch ist; wenn es das war, wieso könnte ich dann wegen Rücken nicht kommen? Er habe es damals am Telefon nicht argumentieren 🕮\(_{56}\) können, aber da war doch ein Widerspruch. Ich: Ich weiß zwar, dass der Rücken nicht wirklich zerbrechen kann, aber die medizinischen Autoritäten, die von „gebrochenem Disk“ sprachen, haben doch meine Vorstellung verstärkt, dass da irgendetwas entzwei gehen kann. Er: Auch im Sex halb; nicht ganz impotent, aber doch halb. Das Geheimnis im Traum, das ich nicht preisgeben will, deutet wohl auf eine Sache hin, die ich noch nicht enthüllt habe, die aber tiefer geht als das neulich Enthüllte: Analwünsche und -fürchte, Furcht vor femininer Rolle; dies scheint im Gegenteil ein Wunsch, etwas sehr Männliches oder zu Aggressives zu tun. –Beim Abschied sagt er: Nun, ich hoffe, mit dem Rücken wird es bald besser gehen.