65Tagebuch 06. X. 1952 – 03. VIII. 1955 [Analyseprotokolle] [Rudolf Carnap: Tagebücher], Eintrag Fr 24. VI. 1955

(Ich fahre; ich sitze.) –Er fragt, ob ich irgendwelche Gefühle, Resentment oder dergleichen habe über das, was wir letzthin besprochen haben. Ich: Ich bin betrübt und beschämt über meine Schwäche, zu große Abhängigkeit, Belastung für Ina, usw. Er: Dazu ist kein Grund; dies sind natürliche Folgen aus unbewussten Fürchten, entstanden in der Kindheit, gegen die ich mich zu schützen suche; alle Menschen, auch die Analytiker selbst, haben mit solchen Schwierigkeiten zu tun, jeder in seiner Weise. 🕮\(_{59}\)

Ich: Ich habe auch etwas Gefühle von Beklemmung und ein wenig Resentment gegen ihn und Ina, weil sie „Erwartungen“ haben, zu viel auf einmal verlangen, wo ich mein eigenes Tempo der allmählichen Entwicklung nehmen will. –Er fragt über Beziehung zu Studenten; ob sie den Eindruck haben, dass ich schwer zugänglich bin, ihnen nicht genug Zeit gebe, usw. Ich: Nach dem Seminar gehe ich zwar gleich, weil müde; aber in Officestunde gebe ich ihnen gerne die Zeit; ich glaube auch, einige, die mich gut kennen, fühlen sich jetzt at ease mir mir. –Er fragt nach Beziehung zu Kollegen, welchen ich am nächsten stehe. Ich: Kalish persönlich; jetzt oft auch Montague für Diskussionen. Er erinnert mich, wie ich sogar Vatergefühle zu Kaplan hatte, wo in Wirklichkeit dieser dringend eine Vaterfigur brauchte, und seit vielen Jahren, seit Chic. sehr attachiert ist zu mir. Er (Dr. Kupper) hat seit 10 Jahren schon viel über mich gehört durch Kaplan; aber meine Sachen nicht gelesen, weil zu technisch. –Er fragt, ob er auch etwas Philosophisches fragen darf. Ich: Gewiß. Er: Ob ich glaube, wie einige meinen, dass Bergson gewisse Begriffe habe, die analog seien zu solchen von Freud. Ich: Es besteht eine gewisse Analogie zwischen Bergsons élan vital und Freuds Trieb oder ich. Aber die Analogie ist nicht sehr nahe. Verwandtes besteht allerdings psychologisch und historisch: beides sind Reaktionen gegen den Intellektualismus und Rationalismus des 19. Jahrhunderts. Aber Freud wollte eine empirische Wissenschaft aufbauen, während Bergson eine Metaphysik. Mein Einwand gegen Bergson ist nicht, dass er das Irrationale betont, sondern, dass er Quasi-Dichtung für Erkenntnis hält. Nietzsche war klarer und ehrlicher in der Trennung. Unter meinen Freunden als in der Studentenzeit waren mehr solche in Literatur, Geschichte usw. als in exakter Wissenschaft; und ich hatte viel von den Beziehungen mit ihnen. Brügmanns Zitat aus Rilke; Ina brachte mir jetzt das Buch.