65Tagebuch 06. X. 1952 – 03. VIII. 1955 [Analyseprotokolle] [Rudolf Carnap: Tagebücher], Eintrag Fr 6. V. 1955

(Inzwischen 3 Sitzungen ausgefallen, weil der Doktor weg war.) Ich: Ich war froh, dass er gestern anrief und sagte, dass heute wieder eine Sitzung sein wird. Ich war sehr kurz angebunden am Telefon; das bin ich oft; viel mehr als wenn ich jemand sehe. Nachher sagte ich noch „Ich bin froh“, aber da kam schon der Klick durch sein Abhängen. Zugleich war ich aber auch etwas besorgt, weil ich keine Träume hatte; wie ein Schüler ohne die Hausarbeit. Ich berichte: Gestern abend, als Ina abwesend war, plötzlich beim Tanzen kleiner Schmerz im Rücken; ich erschrak, schließe Bruch aus; im Bett tastete ich den Rücken ab und beruhigte mich allmählich. Später stand ich wieder auf und tanzte ein wenig, aber nach einer Minute war ich zu tense und empfindlich und legte mich wieder hin. Er: Was wollte ich wohl mit diesem Rückenschmerz demonstrieren? Ich: Vielleicht, dass ich ängstlich wegen der Besorgnis; aber das glaube ich kaum. Ich glaube eher: Am Telefon hatte ich gesagt, es geht mir „fein“; wenn ich nun berichte, dass ich auch ohne ihn auskommen könnte, so könnte er vielleicht sagen, dann brauchen wir nicht fortzufahren; und darum wollte ich ihm demonstrieren, dass ich noch schwach bin und Anlehnung brauche. Er: Vielleicht; aber warum ist es gerade der Rücken? Was ist denn da die Furcht? Ich: Es ist die alte Furcht, dass ich nicht aufstehen kann. senkrechter Strich auf dem linken Rand: Er: Aber es hing doch wohl mit einer Einstellung zu ihm zusammen; was fürchte ich denn, was mir von einem Mann am Rücken geschehen könnte?Ich: ein stab in den Rücken. Oder auch eines Mannes Annäherung von hinten. (Ich spreche zögernd, mit Pausen, und werde emotional dabei.) Es ist so schwierig, hierüber zu sprechen. Da ist die Furcht, weiblich zu werden; es geht da um so vieles, die ganze manhood ist auf dem Spiel; aber da ist doch auch der Wunsch danach, von jemandem, den man (ich unterdrücke „gern mag“ und sage stattdessen:) möchte, dass er einen gern mag. Er: Da muss eine Furcht aus der Kindheit sein, vielleicht von Einnehmer, die Furcht, dass jemand eindringen und einen hinten ganz aufreißen will.Ich: Ja, meine Mutter gab zuweilen einen Einnehmer, aber sicher niemals der Vater; warum sollte das denn so furchterregend sein? Wirkt es wirklich auf Kinder so erschreckend? Er: Vielleicht, Kinder haben ja alle möglichen Fantasien. (Ich mache dabei Fehlleistung „Einnehmer“, wie früher schon manchmal zu Ina.)

(zwischendurch mal:) Er: Er möchte meine Philosophie näher kennenlernen. Ich: Warum? Er: um zu verstehen, was mich dabei so anzog. Ich: Oh, das ist erstaunlich, ohne in die Einzelheiten zu gehen; es ist ein Feld, das mir sicher schien, weil möglichst unpersönlich; abstrakt, und entfernt vom wirklichen Leben.

Ich (beim Aufstehen): Ich bin wirklich froh, dass er zurückgekommen ist; und heute war eine gute Stunde, da ist allerhand herausgekommen, und ich bin sehr froh, dass ich es sagen konnte.

[Ina sagt nachher im Auto: Sie ist sehr froh, sie versteht gut, dass es wirklich Mut brauchte, das alles zu sagen; viele in meinem Alter kämen gar nicht so weit; und dies ist ein ganz wichtiger Schritt vorwärts. – Ihr liebes Verstehen rührt mich sehr; und beim Erzählen kommen mir Tränen; und ich bin sehr froh über das, was sie sagt.]