RUDOLF CARNAP. Tagebücher und Leselisten. 1908–1919 |
Ich berichte: Am 7. abends habe ich Ina über voriges Mal erzählt; sie wußte nicht, wie stark ich nach 1936 noch über die Sache gefühlt hatte; ich habe anscheinend nicht darüber gesprochen. –Kleists „Michael Kohlhaas“; ein Freund (eher Student) empfahl es und gab den Inhalt an; ich fürchtete mich davor, es zu lesen, es würde zu deprimierend sein. An den letzten 3 Abenden habe ich es gelesen, mit starker Anteilnahme. „Ein rechtschaffener, aber sehr schrecklicher Mann“. Ich fühlte mit ihm, auch als er mordete und brandstiftete. Aber die Geschichte endet besser als ich damals fürchtete, nicht in Niederlage und Verzweiflung, sondern mit wiederhergestellter Gerechtigkeit, wenn auch mit dem Leben gebüßt. –Mein „Scipio“; auch der wollte sich nicht verteidigen. Merkwürdig unemotional geschrieben. Das Gefühl war da, aber unausgesprochen; mehr in dem, das Sc. nicht sprach. –Tante Fia; sie erzählte, wie ihr Mann dem Gegner „die Sache hinschiss“. –Der Doktor: Dies alles weist darauf hin, dass in der Kindheit etwas geschehen sein muss, was ich als Ungerechtigkeit empfand; und dass ich durch mein ganzes Leben hindurch das Gefühl hatte, dass mir etwas widerrechtlich geraubt worden ist.