65Tagebuch 06. X. 1952 – 03. VIII. 1955 [Analyseprotokolle] [Rudolf Carnap: Tagebücher], Eintrag Mo 28. II. 1955

Ich berichte: Vorgestern guter Tag, besonders langer Spaziergang [54 min.], es ging leicht. Gestern aber etwas deprimiert, aus unbekanntem Grund, besonders gegen Abend; dann Musik, Tränen, ich fühle mich besser; überraschend ; während Musik Fantasie mit Astrid: erst traurig, weil bald Abschied, dann aktive Rolle. – So geht es hin auf und ab; voriges Mal sagte er: Freiheit und dann Beschränkung. – Ich sagte voriges Mal: gewalttätige Fantasien. Hierzu Beispiel: Weltregierung will Koreakrieg beenden, befiehlt beiden Seiten, zurückzuziehen; wenn sie nicht gehorchen, werden Schiffe versenkt oder explodiert usw.; ich bin der Boss oder der Exploder, oder der Unterhändler. Ich habe Bedenken, dass so viele umkommen; darum vorher Warnungssignale. Das Explodieren gibt Befriedigung; Enttäuschung, wenn es nicht möglich ist. Immer besonders starke Gefühle gegen die eigene Regierung, auch in Deutschland, am stärksten gegen Hitler. Er fragt: Warum? Ich: Weil das in der Familie ist, gegen den Vater.– Er fragt: Was ist der Zusammenhang in dieser Stunde? Womit fing es an, wohin führte es schließlich? 🕮\(_{47}\)Ich: Es fing an mit dem Hin und Her zwischen Freiheit und Beschränkung. – Es kam schließlich zu der Fantasie von gewalttätigen Akten gegen Regierung und dem selbst regieren wollen. Der Knabe wollte Verbotenes tun, und dann kam die Furcht, dass Strafe kommen würde, oder Selbstbestrafung als Sühne. Er: Überschreitung welcher Verbote? Ich: Z.B. die Mutter dem Vater wegzunehmen oder dem Vater etwas Gewalttätiges anzutun. Er: Vielleicht; wenigstens in der Theorie. Aber was waren die großen Tabus während meines Lebens, in Amerika?Ich: Die eigentliche Zeit der Rebellion war vorher‚ nämlich die Übertretung der Konventionen von Sexmoral, z. B. Beziehungen mit verheirateten Frauen, usw.) Er: Das war keine besonders kühne Rebellion; z. B. Beziehung mit einer Frau, nachdem diese die Einwilligung ihres Mannes erhalten, sozusagen „Überschreitung mit Genehmigung „des Alten“ [diese Worte sagt er auf deutsch]. Das sind wie die üblichen Überschreitungen in der Adoleszenz, zu viel trinken, schlafen mit Mädchen, usw. durch senkrechtem Strich am linken Rand markiert: wo der Vater nicht viel dagegen hat. Lockere Sexmoral in den Dreißigern ist ja ziemlich allgemein üblich. Das größere Tabu kam später; nicht mehr nur tun wie der Vater, sondern selbst ein Vater werden, ein Großer werden, vielleicht größer wie der Vater; z. B. prominent werden, die Führung einer Schule des Denkens übernehmen. Das ist die Schwierigkeit in der „konservativen“ Phase nach 40. –Ich: Aber wieso ist das ein Tabu? Die Handlungen gegen die Sexmoral, wenn auch üblich, waren doch öffentlich verurteilt; eine führende Rolle zu übernehmen, wird doch öffentlich gepriesen. Ein Tabu hiergegen kann wohl nur ein inneres Tabu sein, das aus der Kindheit stammt, nicht ein öffentliches. –Er: Ja, aber stärker als die öffentlichen [oder so ähnlich].

III / 1955