65Tagebuch 06. X. 1952 – 03. VIII. 1955 [Analyseprotokolle] [Rudolf Carnap: Tagebücher], Eintrag Fr 25. II. 1955

Ich berichte: Wiederum mehrmals nachts Magenschmerzen; letzte Nacht Sex, gut, trotzdem nachts aufgewacht mit Magenschmerzen. Er fragt: Fürchtete ich Krebs? Ich: Nein, aber zuweilen kommt mir doch die Idee wieder, wenn auch nicht ernstlich; z. B. kürzlich, als der Magenschmerz auch bei Tage auftrat. –Traum heute morgen: Wir Professoren möchten einem jungen Mann helfen, der keinen Job hat; ich überlege, wir sollten vielleicht alle persönlich etwas geben, um ihn hier halten zu können. Assoziation: Montague, nächstes Jahr Instruktorship ist abgelehnt; ich möchte ihn gerne hier behalten. Gestern Departmentsitzung; Montague erstaunlich aktiv, während ich in seinem Alter so schüchtern und zurückhaltend war. –Ich berichte: Jetzt zuweilen mehr auf; z. B. bei Hausbesichtigung [Olatha St.] ; Er: Ich sei wie aber dann nachher müde. Letzte Nacht, nach Sex glücklich und relaxt, aber trotzdem nachts Magenschmerz; vielleicht nicht trotzdem, sondern dadurch? Wie er früher mal sagte: ich sei abwechselnd frei und gehemmt. Er: Ja, wie ein Katholik, der sich Freiheiten erlaubt, aber dann dafür Buße tun muss; es ist ein Ritual. Er fasst zusammen: Als Knabe fürchtete ich mich davor, die Rolle des Vaters zu übernehmen; das ist Grundschwierigkeit. Ich ging von der früheren Frau und Familie weg, und von Europa weg, während andere sich dem Hitlerregime anpaßten. Dann begann das neue Leben in Amerika; da wurde auf einmal von mir erwartet, eine selbständig und vielleicht führende Stellung anzunehmen, und davor schrak ich zurück; besonders Princeton Institut, der internationale Olymp, das schien zu viel; da legte ich mich hin, um nicht „selbständig aufstehen“ zu müssen. Aber andernteils will ich auch nicht zu passiv sein, weil ich sonst wie eine Frau würde. Darum nehme ich Mittelstellung: Ich sage, ich kann aufsitzen, aber nur so lange, usw. –Ich: Ja, so ist es, aber wie kann ich darüber hinaus kommen? Er: Ich wünsche mir, dass mir Väter helfen und Kraft geben [wie im Traum die Beiträge der Professoren für den jungen Mann]; besonders von ihm erwarte ich eine magische Kraftübertragung; es ist wahr, wenn er mir zureden würde, hier zu sitzen, sogar sich zu beugen, dies und das zu tun, so könnte er dadurch meine Leistungsfähigkeitvielleicht um 25 % erhöhen; aber das hülfe nichts, weil es nicht aus mir selbst komme, weil die Grundfurcht doch bestehen bliebe. Der Knabe kann nicht dadurch zum Mann werden, dass der Vater ihn immer an der Hand nimmt. Ich: Aber wodurch kann es besser werden? Er: Wie ist sie entstanden? Ich: Der kleine Junge muss sich gefürchtet haben davor, zu aktiv zu sein. Er: War es zuerst die Furcht davor, was man ihm tun könnte, oder die Furcht davor, was er tun würde?Ich: Das letztere! Früher hatte ich immer ein Bild von mir als im Grunde ganz friedlich, ohne Neigung zu heftigen, aktiven und gewalttätigen Aktionen. Noch in Princeton dachte ich: Wie unfair vom Schicksal, dass der kleine Junge, der sich allem fügte und niemandem was antat, gerade dadurch später im Leben solche neurotischen Schwierigkeiten haben muss. Aber jetzt habe ich erkannt, dass ich gar nicht so friedlich bin. Ich habe oft gewalttätige Fantasien, dass jemand im Auto den Berg hinabstürzen soll oder explodieren usw.; sicher habe ich auch als kleiner Junge oft heftige Zorngefühle gehabt und mir gewünscht, etwas Gewalttätiges zu tun. Er: Das glaubt er auch.