65Tagebuch 06. X. 1952 – 03. VIII. 1955 [Analyseprotokolle] [Rudolf Carnap: Tagebücher], Eintrag Mo 24. I. 1955

Ich berichte: Ich war etwas mehr auf diese Tage; weil er es riet voriges Mal, und wegen der Gelegenheiten: am 21. eine Party [], wo ich länger blieb als ich vorhatte, und gestern Besucher [Professor Abbagnano und Frau] bei uns. Im ganzen ging es gut; allerdings nach der Party recht müde, besonders zu Hause beim Ausziehen; und, bei Müdigkeit oft, ein wenig besorgt wegen Rücken. – Diese Nacht im Traum geschrien. Vom Traum weiß nichtich nur noch: Da waren quadratische tiles auf dem Boden (ich weiß nicht, ob im Haus oder draußen). Ich überlegte, auf welchen tile ich treten sollte (oder darauf und dann weitergehen?) um sicher zu sein. Ich versuchte (ich weiß nicht, ob wirklich oder nur in Vorüberlegung) einen tile nach dem anderen. Dabei war irgendetwas mit L-truth aber bei jedem kam die Gefahr (ich weiß nicht mehr was; vielleicht schon jemand nach mir), und ich rief um Hilfe. Nachdem ich aufauch beim letzten tile nicht Sicherheit fand, war ich verzweifelt; kein Ausweg mehr möglich. (Das war wohl der letzte, größte Schrei, von dem ich selbst aufwachte; Ina kam, um mich zu wecken, sagte, ich hätte mehrmals laut geschrien.) – Er fragt: Assoziation zu tile. Ich: Vor dem S.F. Haus flag stones, damit man nicht in den mud treten muss; die bilden einen sicheren Pfad, wie „der Richtpfad“ im Leben, wie „die richtige Formel“ der Mutter. Er: Was mehr über A.? Ich: Zur Party hatte ich neue Schuhe an; in denen ging ich sehr vorsichtig, weil sie glatt waren, besondern auf dem Teppich. Dann sah ich die tiles und dachte: vorsichtig, die sind slippery; aber sie waren in Wirklichkeit nicht. – Ich: L-truth hat für mich das Gefühl von großer Sicherheit und Gewissheit, weil wahr unter allen denkbaren Umständen. Gestern las ich ms von Freund [Rick Martin]; ich schrieb allerhand kritische Randbemerkungen; nachher schrieb ich ihm, ich hoffe, er wird nicht mad sein darüber; es tut mir leid, wenn ich an einem Freund Kritik üben muss. – Er fragt: Was war die Gefahr bei den t? Ich: Ich weiß nicht, vielleicht schossen Leute nach mir. Gestern abend spät las ich Geschichte von Bradbury [“And the Rock Cried Out“]: ein Paar aus U.S. in Südamerika, 1963, der dritte Weltkrieg ist zu Ende, U.S. scheint zerstört; „Das ist das Ende der Herrschaft der weißen Rasse“; plötzlich gibt’s keine Sicherheit mehr für Nordamerikaner: Die Indianer schießen vergiftete Pfeile; die Grenzwache nimmt ihr Geld ab; das Gas Station nimmt ihr Auto ab; der Hostel bedroht ihr Leben; am Schluss ist angedeutet, dass sie getötet werden. – Er: Also überall Gefahren, die aber nur außen sind; was war die Furcht in der Kindheit? Ich: Ich wollte auf dem rechten Pfad bleiben, um in den Himmel zu kommen, nicht in die Hölle; aber natürlich auch irdische Strafen und Belohnungen von Eltern und Lehrern. Er: Es scheint, ich lebe nur ein halbes Leben, immer Furcht und Verzweiflung. Ich: Wohl Beschränkungen, aber nicht Verzweiflung; die Grundstimmung in meinem Leben war nicht schlecht, auch jetzt meist nicht. Der Rücken gibt die Rationalisierung für die Beschränkungen; eine bequeme Ausrede. Ich war aber im Leben nicht immer zaghaft, sondern oft auch mutig, z. B. beim Klettern und Skilaufen [und im Verachten der Konventionen]. Er: Die „Formel der Mutter“ ist ein gutes Bild; ich wollte wie die Mutter sein und fürchtete mich, von ihrem Weg abzuweichen. Ich: Ja; aber zugleich auch eine Furcht davor, zu sehr wie die Mutter zu sein oder feminin zu sein; diese beiden Fürchte nach beiden Seiten machten es gerade so schwierig. Er: Ja, genau. 🕮\(_{43}\)