65Tagebuch 06. X. 1952 – 03. VIII. 1955 [Analyseprotokolle] [Rudolf Carnap: Tagebücher], Eintrag Do 23. XII. 1954

(anstatt 24.) Während ich hereinkomme, telefoniert er; währenddessen beschaue ich das Bild von Freud an der Wand. Dann sage ich: Jetzt sehe ich, dies sind Figuren, die auf dem Schreibtisch stehen, nicht imaginäre Figuren. Ein Mann, der etwas über dem Kopf trägt. Ein kleiner Junge, das bin ich! Obwohl die Mutter neben ihm steht, ist er so diffident, die Hände zurückgezogen: „Vorsicht, Vorsicht!“ Die Mutter sagt: Komm’ nur ruhig! Aber er: Ja, ich will ja mit Dir kommen, aber bitte nicht zu schnell, wir müssen aufpassen, dass nichts passiert. Hinter ihm steht der große dicke Moloch, mit Totengesicht, gerade dadurch bedrohlich; der konnte ja plötzlich den Jungen von hinten packen. – Ja, vorwärts schreiten ist schwierig. –Hauskauf ist unterzeichnet, schon am 20., nachdem am 19. wir das Haus zum ersten Mal gesehen haben. Ich war selbst erstaunt, dass ich so schnell Beschluss fassen kann. Aber in den Tagen danach allerhand Schwanken zwischen Bedenken und Selbstbestätigung. Wie beneidenswert die Leute, die sich schnell entschließen können; oder Geschäftsleute mit riskanten Beschlüssen. Das könnte ich nicht; darum bin ich ja auch nicht General oder Geschäftsmann geworden. Mein Vater konnte es; nicht riskant, aber doch stetig vorwärts, vom armen Jungen bis zum Fabrikbesitzer; immer Neuerungen und Weiterentwicklung; kein Schwanken. Aber ich war doch froh, dass ich nicht ins Geschäft gehen musste. Mein Stiefbruder hatte es wohl nicht leicht: den eigenen Vater als Boss zu haben. Wenn ich froh war, dass ich keinen unterdrückenden Vater hatte, machte ich mir manchmal Vorwürfe, als ob das eine Sünde wäre, eine Untat gegen den Vater. Denn wir wurden gelehrt: Nicht Taten, sondern die Gesinnung ist das Wesentliche; böse Gedanken ist ebenso schlimm wie böse Taten. Darum konnte ich mir auch nicht zugeben, mad gegen Ina zu sein. – Wenn ich mit dem Vater zu seiner Fabrik ging, faszinierten mich die Bandspulen: die gekämmten Fäden und das Schifflein geht hin und her. Später wollte ich „Maschinenerfinder“ werden; später Ingenieur; als Student Physiker, experimentell; nach dem Krieg theoretische Physik, schließlich Philosophie, immer mehr theoretisch und abstrakt. Wenn ich in Vaters Geschäft gegangen wäre, hätte ich mich um die Maschinen gekümmert, nicht das Geschäftliche; vielleicht hätte ich mich so dann doch gut mit ihm vertragen. (Vorher mal:) Ein Freund sagte in Wien: meine Diagramme [zum K-Z-System] sähen aus wie die Fäden auf einem Webstuhl. Er (zum Schluß): Dies war eine aufschlußreiche Stunde; zum ersten Mal Identifizierung mit dem Vater, bisher immer nur mit der Mutter, und zum Vater nur Gefühle von Scheu und awe und Unverständnis. Die Stunde fing an mit dem Beschluss zum Hauskauf; nur settled als Landbesitzer; und dann ging es zum Vater, der auch gut Beschlüsse fassen konnte und seinen Bereich stetig entwickelte, wie ein Band auf dem Webstuhl wächst. Jetzt fühle ich mich dem Vater näher und mehr verbunden.