65Tagebuch 06. X. 1952 – 03. VIII. 1955 [Analyseprotokolle] [Rudolf Carnap: Tagebücher], Eintrag Fr 12. XI. 1954

Ich berichte 2 Träume vom 10.: (1) Kemeny (fast ms). (2) Ich fahre Schlick in einem Wagen mit 2 Pferden in einem Park, über Stufen; mal lehne ich mich rückwärts, bis ich ihn sehe. Assoziation: Sex. Assoziation zu Traum vom vorigen Mal: Der „Eckstein“ ist vielleicht er; zu Traum (3): vielleicht die Frage der Wahl zwischen Mann und Frau, wie in vielen früheren Träumen. Er sagt: In einem gewissen Alter als Knabe ist es ganz natürlich, dass man sexuelle Wünsche zu anderen Knaben hat; aber welchen purpose oder aim haben solche Träume in meinem jetzigen Leben? Warum habe ich solche Träume nicht voriges Jahr und vor Jahren gehabt? [Die Frage erstaunt mich, ich weiß nicht recht, auf was er hinaus will] Ich antworte: Zur Zeit als es natürlich war, habe ich es mir versagt. 🕮\(_{33}\) Da ist es doch verständlich, dass jetzt die Wünsche aufkommen, sozusagen, um es nachzuholen; voriges Jahr in Princeton habe ich auch viele solche Träume gehabt; ich vermute, dass ich sie ebenso auch durch mein ganzes Leben hatte, nur konnte ich sie früher nicht interpretieren. Er fragt: Warum aber der Wunschdurchgestrichenes Komma nach Sex mit einem Mann (oder auch mit einer Frau)? [Ich bin wieder erstaunt.] Ich antworte: Wenn man einen Menschen liebt, ist es doch klar, dass man mit ihm zusammen sein will, zunächst in freundschaftlichem Kontakt, dann auch körperliche Berührung, und schließlich möglichst enge Vereinigung. Er sagt: Meine Hauptschwierigkeit von Kindheit an war doch wohl, to stand up; das ist es, was ich jetzt durch das Liegen ausdrücke; was bedeutet das? Ich: Als Kind vielleicht zuerst das Gehen lernen, dann „aufstehen“ und „sich behaupten“ gegen den Vater und mit oder gegen andere Knaben usw. Er: Wie wird im Deutschen „Rücken“ metaphorisch gebraucht? Ich: „Rückgrat“, wie „backbone“, senkrechter Strich am linken Rand: bedeutet die Stärke des Willens, sich gegen Andere durchzusetzen. Er: Es scheint ganz klar, dass die große Rückengeschichte im Sommer 1952 durch die Furcht kam, wie ich in der neuen Situation am Institut, auf diesem sehr erhöhten intellektuellen level, bestehen würde; die eternalInterpretation in Termen von Sex hilft nicht viel, sie ist zu spekulativ; das Wesentliche war die Furcht vor dem „Bestehen“ in schwierigen Situationen seit der Kindheit; anscheinend war da immer eine Frau, die mir geholfen hat (früher die Mutter, jetzt Ina mit praktischen Dingen und im Sex), anstatt dass ich selbst „aufgestanden wäre“. (Ich glaube, er sagte noch etwas, dass der Vater gefehlt hatte, durch den sonst ein Sohn „Stärke erwirbt“; das war nicht klar.) Er fragt: War das etwas Ähnliches im Anfang der Rückengeschichte, Dez. 1936? Ich: 1936 war zwar schwierig, aber hauptsächlich am Anfang die Ungewissheit, ob ich Job bekommen würde, später der Konflikt mit dem Dean; eigentlich war das im Dez. 1936 schon nicht mehr akut. [Aber vielleicht war meine unterdrückte Indigestion über den Dean und Präsidenten da doch noch in mir am Kochen?] Er: Es ist aber klar, dass die gesamte Situation schwierig und konfliktvoll war: neues Land, neue Tätigkeit, viele Ungewissheiten und Sorgen, der Konflikt mit dem Dean, und alles zusammen; es wird klar, dass die Rückensache von Anfang an bedeutete: „Ich bin klein und hilflos, wie ich kann nicht aufstehen, man muss mir helfen“. –Ich: Auch schon vor der Rückensache hatte ich etwas, das mir erlaubte, mich von Manchem zurückzuziehen: die beiden Pneumothoraxe 1926 und 28; für viele Jahre danach sagte ich immer: ich kann nichts Schweres tragen, ich will abends nicht ausgehen usw. Er ist sehr interessiert.