65Tagebuch 06. X. 1952 – 03. VIII. 1955 [Analyseprotokolle] [Rudolf Carnap: Tagebücher], Eintrag Fr 6. XI. 1953

Der Doktor sagt, in meinen Träumen kommt allerhand heraus, aber in den Assoziationen oder Tagträumen sind noch die alten Hemmungen. Ob wohl andere Personen in der Kindheit außer Vater und Mutter, zum Aufbau des Superegos beigetragen haben? Ich: Ich glaube, sehr wenig; die älteren Brüder hatten kaum Einfluß auf die Erziehung. Durch doch etwas ältere auch Vettern und Freunde, deren Beispiel ich nacheifern wollte. – Ich erzähle von vorgestern abend: Ina fragte mich aus, wie lange ich wohl im Notfall gehen könnte und was der Unterschied ist zwischen jetzt und der Periode in SF 1943, wo ich täglich die Zeit des Spazierengehens erhöhte, und ob ich damals nur Müdigkeit oder auch Angst hatte. Wir lesen die alten Tagebuchnotizen nach. In wenigen Monaten erhöhte ich die Spazierzeit von den gewohnten 10-15 min. auf 30-40 min; ich glaube, ich hatte nicht viel Ängstlichkeit damals, aber vielleicht war es nur nicht so bewusst wie jetzt. Nach langem Sprechen mit Ina wollte ich nicht mehr und spürte schon Schmerz im Rücken rechts am Beckenkranzrand, wohl aus Protest. Und in der Nacht darauf ziemlich starke Magenschmerzen. – Ich stehe auf und gehe mit ihm ins Wohnzimmer, zeige, wie ich auf roten Stuhl hinsitze und wieder aufstehe. Er bemerkt, dass ich beim Sitzen streng eine symmetrische Haltung einnehme; ich beim Stehen mich nicht, wie er, schief an die Wand lehne und ein Bein beuge und dergleichen. Er sagt, das ist typisch kompulsiv- obsessiv, typisch für „rectitude“, die „tugendhafte“ Haltung. Während er spricht, stehe ich herum oder gehe etwas hin und her; aber da er nicht geht, gehe ich wieder zurück ins Bett, und er kommt mit. Dann sagt er, die ganze Spannung kommt (natürlich) aus Furcht vor Gefahren, Versuchungen und Strafen. Die Tension wird abnehmen, wenn durch die Analyse der Ursprung der Furcht aufgedeckt wird; er meint, durch die Ronsdorfer Erinnerungen in letzter Zeit wird allerlei aufgedeckt. Ich: Warum nimmt es immer noch so lang. Er: Gewöhnlich ist die Verteidigung des letzten, innersten Kernes der Festung am stärksten; das Unbewusste wehrt sich dagegen, die Defense aufzugeben.