40Tagebuch 1. I. 1936 – 16. XII. 1936 [Rudolf Carnap: Tagebücher], Eintrag Fr 18. IX. 1936

Haupttag der Celebration. Wir versammeln uns in Widener Library. Ich habe gown und cap geliehen, die schützen mich gegen den Regen. Im HarvardIHarvard University, Cambridge MA Yard ist großes Theater aufgebaut. Wir marschieren hindurch und sitzen auf der Tribüne. Zuerst regnete es immerzu, nachher hört es auf. Allerhand Reden und Chorgesänge. Präsident ConantPConant, James B., 1893–1978, am. Chemiker spricht eindrucksvoll über akademische Freiheit. Dann Verleihung der Ehren-Doktorate an uns 62. Der Präsident ConantPConant, James B., 1893–1978, am. Chemiker liest jeden Namen und dazu einen Spruch. Dabei steht der Betreffende auf. Dann bringt ein Helfer ihm das Diplom. Ina sitzt unten im Regen und friert, nachher ganz erkältet. Auch GoheenPGoheen, John D., 1907–1994, am. Philosoph, verh. mit Nancy Goheen, studierte in Harvard, unterrichtete in Harvard und Queens College NY, bevor er 1950 eine Professur in Stanford antrat. Ich erst einige Tage später. Nachher Lunch mit Selbstbedienung in Memorial Hall. Ich mit Prof. PerryPPerry, Charner, 1902–1985, am. Philosoph. Er erzählt, dass die deutschen Professoren ursprünglich Delegierte sein sollten. Dann aber haben sie eine Weisung aus Berlin erhalten, nur privatim aufzutreten. Nur FischerPFischer, Hans, 1881–1945, dt. Chemiker-München (Chemie)116Hans Fischer. hat sie nicht bekommen; so war er der einzige Delegierte Deutschlands. – Anschließend 2:30 nachmittags Versammlung, hauptsächlich für die Alumni. Wegen Regen im Sanders Theater, so dass die meisten nicht zuhören können. Sehr entschiedene und offene Rede für Lehrfreiheit von Präsident AngellPAngell, James, 1869–1949, am. Psychologe von der Yale UniversityIYale University, New Haven CT. Auch Präsident RooseveltPRoosevelt, Franklin Delano, 1882–1945, am. Politiker, der auch vormittags schon beiwohnte, hält eine Rede; für Freiheit. – 6h mit Ina zu QuinesPQuine, Willard Van Orman, 1908–2000, am. Philosoph, verh. mit Naomi Quine (1932–1947) und Marjorie Boynton Quine (1948–1998)PQuine, Naomi, 1907–1997, geb. Clayton, 1932–1947 verh. mit Willard Van Orman Quine. Morgen ist ihr 6-jähriger Hochzeitstag. Ich frage QuinePQuine, Willard Van Orman, 1908–2000, am. Philosoph, verh. mit Naomi Quine (1932–1947) und Marjorie Boynton Quine (1948–1998), ob die Kandidaten für die University-Professorships (ConantPConant, James B., 1893–1978, am. Chemiker hat nachmittags mitgeteilt, dass \(500000\,\\)\( dafür gestiftet worden sind) schon früher bestimmt sind oder \neueseite{534559} ob ich vielleicht noch Chancen habe. Er weiß es nicht, meint, Henderson\IN{Henderson, Lawrence Joseph, 1878–1942, am. Chemiker} sei wohl in Aussicht genommen; vielleicht sei noch Chance da.\par \tbentry{19}{9}{1936}{} Geschrieben. Ina packt. Wir fahren nachmittags 4\,–\,6 \uline{zu Lewis}\IN{Lewis, Clarence Irving, 1883–1964, am. Philosoph} nach Lexington hinaus. Er ist sehr zurückgezogen, konservativ. Über Philosophie nur wenig, er möchte erst englische Syntax lesen. Aber etwas über Atomsätze. Ich erkläre, dass wir absolute Atomfakten ablehnen, und wir kommen hier \gestrunl zu Einigung im Großen. Er hat in Colorado unterrichtet, sagt dass ihn der alte Pioniergeist sehr anzieht, und in den Westen getrieben hat. – Abends, schon im Bett (im Arbeitszimmer unten), bitte ich \uline{Nancy}\IN{Goheen, Nancy, verh. mit John Goheen} für einen Augenblick zu kommen. Ich sage ihr, sie soll nicht so traurig sein; sie war den ganzen Tag dem Weinen nahe und wünschte sehr, wir führen erst Montag ab, was aber Ursulas\IN{Kaufmann, Ursula, *1914, verh. Stussig, Tochter von Agnes und Reinhard Kaufmann} wegen nicht möglich war. Ich sage, sie würde Ina nicht verlieren, und wir sähen uns mal wieder. Sie hatte gefürchtet, ich wolle keine Treffen mehr, aus Eifersucht. Ich tröste sie, und küsse sie. Sie ist so rührend kindlich, besonders jetzt in ihren starken Gefühlen für Ina.\par \tbentry{20}{9}{1936}{} Gepackt, Ursula\IN{Kaufmann, Ursula, *1914, verh. Stussig, Tochter von Agnes und Reinhard Kaufmann} hilft Bücher packen. – Mittags wir mit Ursula\IN{Kaufmann, Ursula, *1914, verh. Stussig, Tochter von Agnes und Reinhard Kaufmann} und Goheens\IN{Goheen, John D., 1907–1994, am. Philosoph, verh. mit Nancy Goheen, studierte in Harvard, unterrichtete in Harvard und Queens College NY, bevor er 1950 eine Professur in Stanford antrat}\IN{Goheen, Nancy, verh. mit John Goheen} Abschiedsessen im St. Engler. Ausgeruht. \uline{3\textsuperscript{h} Abfahrt aus Cambridge}, mit Ursula\IN{Kaufmann, Ursula, *1914, verh. Stussig, Tochter von Agnes und Reinhard Kaufmann}, die wir nach Kingston in ihr neues College bringen wollen. –\textit{Charlemont}\ort{Charlemont MA} (\sout{\textit{N.Y}.?}) \textit{Mass.}, „\textit{The Inn}.“\par \tbentry{21}{9}{1936}{} Durch die \uline{\textit{Adirondacks}}, über \textit{Tupper Lake}. Sehr schöne Landschaft mit großen Seen –\uline{\textit{Potsdam} N.\,Y.}‚\ort{Potsdam NY} Hotel …\par \tbentry{22}{9}{1936}{} Fähre über den St. Lorenz-Strom: Ogdensburg-Prescott. \neueseite{534555} Bei der Weiterfahrt durch \uline{\textit{Canada}} sprechen wir auch über Religion und Politik. Ursula\IN{Kaufmann, Ursula, *1914, verh. Stussig, Tochter von Agnes und Reinhard Kaufmann} sehr naiv. Irgendetwas müssten wir doch glauben. Wir fragen, was sie glaubt. Sie sagt, \gestrunl nicht wie die Kirche, aber: an ein Schicksal oder \unsicher{Vorsehung} (z.\,B.: sie hat beim Skilaufen ein Bein gebrochen; und vorher hatte sie geahnt, dass sie schlecht fahren würde), und an die Natur (!); alles sehr unklar, sie kann’s auch nicht erklären, es sind mehr bloße Gefühle. Im Politischen glaubt sie nicht, dass die Zeitungen in Deutschland lügen; die Kriegsgefahr käme nicht durch Hitler\IN{Hitler, Adolf, 1889–1945, öst.-dt. Politiker}. Der habe in Deutschland doch endlich wieder Ordnung und Einigkeit geschaffen, dagegen die schrecklichen Streiks in Frankreich; das seien keine fairen politischen Mittel (!die Fabrikantentochter!). – Mittags in \uline{\textit{Kingston}}. Zuerst in die …\textit{Hall}, zur \textit{Dean of Women}. Sie ist noch sehr jung, freundlich, ich erkläre Ursulas\IN{Kaufmann, Ursula, *1914, verh. Stussig, Tochter von Agnes und Reinhard Kaufmann} Wünsche: sie möchte \textit{B.\,A}. machen (das hängt von ihren Vorkenntnissen ab und kann heute nicht entschieden werden) und als Graduate Student behandelt werden (das geht vielleicht). \gestrunl \gestrunl Sie bekommt ein kleines Mansardenzimmer, ist nicht sehr entzückt davon. Nach dem Lunch ich mit Ursula\IN{Kaufmann, Ursula, *1914, verh. Stussig, Tochter von Agnes und Reinhard Kaufmann} zum Deutsch-Professor \textit{Hähnel}\IN{Hähnel, Deutsch-Professor} aus Frankfurt; er und seine Frau haben meinen Vortrag in Cambridge\II{Harvard University, Cambridge MA} gehört; er war enttäuscht, dass nicht mehr Gelegenheit zur Diskussion da war, hat aber Museen besichtigt usw. Sie sind vor 4 Jahren hergekommen; seine Frau hat bei Tillich\IN{Tillich, Paul, 1886–1965, dt.-am. Philosoph} studiert, kennt auch Wertheimer\IN{Wertheimer, Max, 1880–1943, dt.-am. Psychologe} ein wenig. Ich überlasse die weiteren Beratungen Ursula\IN{Kaufmann, Ursula, *1914, verh. Stussig, Tochter von Agnes und Reinhard Kaufmann}; sie weiß genau was sie will. – Wir alleine weitergefahren, sind sehr froh, endlich wieder ganz unter uns zu sein. –\uline{\textit{Port Hope}}\ort{Port Hope ON} am Ontario-See. Beide sehr müde.\par \tbentry{23}{9}{1936}{\kreis \,Ina} Weitergefahren. Gestern und heute legen wir uns draußen nach \neueseite{534569} Lunch zum Ausruhen ins Gras; sonnige Tage des „\textit{Indian Summer}“. 5\,½\textsuperscript{h }\uline{\textit{London}}.\ort{London ON} Zuerst \textit{Brescia Hall}. Ina bleibt dort bei Mutter Felicitas\IN{Felicitas, Ordensschwester}; sie hat sonst nicht Besuch und freut sich sehr. 8\textsuperscript{h} hole ich sie wieder ab. – Auto in Ford-Garage; das Klappergeräusch bleibt weg, als ich mit dem Mann probefahre.\par \tbentry{24}{9}{1936}{}\textbf{}Ich bringe Ina 10\,½ ins Kloster und hole sie 1\textsuperscript{h} wieder ab. Inzwischen im Hotel; geschrieben. – 3\textsuperscript{h}\uline{Abfahrt} nach \uline{\textit{Chatham}}.\ort{Chatham ON} In die Klosterschule „\textit{The Pines}“, Mutter Angela\IN{Angela, Mater}. Sie zeigt uns den Klostergarten, und lädt Ina, die Nacht dort zu bleiben. Ich nehme Zimmer im feinen Hotel William Patt (2‚50 mit Shower).\par \tbentry{25}{9}{1936}{} Wir fahren über Detroit (Ambassador Bridge) nach \textit{Pokagon State Park, Ind}.\ort{Pokagon State Park IN} wo wir Anfang April waren.\par \tbentry{26}{9}{1936}{} Regnerisch. Einige Spaziergänge. (Abends viel Krach, weil Mädchengruppe, die eine Tagung da haben).\par \tbentry{27}{9}{1936}{} Spazieren; teilweise wieder im Regen.\par \tbentry{28}{9}{1936}{} 10\textsuperscript{h} ab. 3\textsuperscript{h} nachmittags \uline{\textit{Chicago}}.\ort{Chicago IL} Zu Morris\IN{Morris, Charles W., 1901–1979, am. Philosoph, bis 1951 verh. mit Trude Morris, danach mit Ellen Ruth Morris}, ich hole ihn im Auto vom Office. Wir rufen verschiedene Apartmenthotels an, meist nichts frei. Wir gehen auf die Suche in einem nördlichen, meist jüdischem Viertel. Um 8\textsuperscript{h} Abends finden wir \uline{\textit{The Standish}} Apartmenthotel, 5110 \textit{Kenwood}, nahe Hyde Park Boulevard. Apartment im 10. Stock, keine Wohnung mehr darüber, nach Süden, schöne helle Zimmer. Das Schlafzimmer hat 2 große Fenster, soll als Study hergerichtet werden. Wir sind froh, eine Wohnung gefunden zu haben. Obwohl 25\,\textit{min}. von der Universität, hell und ruhig. \neueseite{534567} Wir müssen sie für 2 Monate fest nehmen; monatliche Kündigung.\par \tbentry{29}{9}{1936}{} Mit Housekeeper später Möbel-Änderung besprochen. Mittags zu \uline{Morrisens}\IN{Morris, Charles W., 1901–1979, am. Philosoph, bis 1951 verh. mit Trude Morris, danach mit Ellen Ruth Morris}\IN{Morris, Trude, verh. mit Charles W. Morris}. Inas Studienpläne besprochen, Social Sciences. Nachher mit Morris\IN{Morris, Charles W., 1901–1979, am. Philosoph, bis 1951 verh. mit Trude Morris, danach mit Ellen Ruth Morris} über Congress für 1939 und über Neuraths\IN{Neurath, Otto, 1882–1945, öst. Philosoph und Sozialwiss., heiratete 1912 Olga Neurath und 1941 Marie Neurath} Kommen im Oktober. 5\,–\,9 mit Ina zu \uline{Kasperle}\IN{Kasper, Maria, 1904–1989, auch Kasperle, heiratete 1931 Herbert Feigl} ins International House. Wir helfen im Auto umziehen aus dem Mayflower Hotel (dort einfaches Zimmer mit Badezimmer \\) 1.50!). Sie will doch nicht im Social Service studieren, sondern Psychologie! In Verbindung mit dem Institut für Juvenile ResearchIThe Institute for Juvenile Research (IJR), University of Illinois at Chicago. Es fällt ihr schwer, alleine zu arbeiten, das Kind zu verlassen, ganz auf sich gestellt zu sein. Sie bezahlt die teuren Universitätskosten von ihrem Geld, aus Stunden geben ($ 1 für 1 Stunde); im übrigen gibt FeiglPFeigl, Herbert, 1902–1988, öst.-am. Philosoph, seit 1931 verh. mit Maria Feigl ihr Geld dazu (anscheinend 3 oder 400 $).