11Tagebuch [2] 22. XII. 1914 – 2. V. 1915 [Rudolf Carnap: Tagebücher], Eintrag Mi 24. III. 1915

Morgens etwas wolkig, dann herrliche Sonne. In der Nacht haben wir starkes Feuer von Infanterie und MG gehört. Morgens Nachricht: Ein russischer Angriff ist abgeschlagen worden. Ich lese Synnøve SolbakkenBBjörnson@Bjørnson, Bjørnstjerne!1909@Synnøve Solbakken, Stockholm, 1909, sitze dann auf dem riesigen Schwellenstein am Türpfosten in der Sonne und vertiefe mich ganz ins Buch, lebe in einer andern Welt. Dann lege ich mich auf SchmudesPSchmude, von, Leutnant Lager, auf den Baumstamm gebettet, träume in den blauen Himmel hinein. LeniPHolzman, Helene, 1891–1968, geb. Czapski, Leni genannt, Malerin und Lehrerin, heiratete 1922 Max Holzman schrieb, dass sie bei den nordischen Erzählungen oft an mich denkt. Ich glaube ich, ich bin diesen Menschen irgendwie innerlich verwandt; ich kann so gut mit ihnen fühlen. Warme Sonne, blau-weißer Schnee auf allen Bergen, frühlingswarme Luft; man lebt auf. Man glaubt wirklich zu fühlen, jetzt muss es bald kommen: Sieg und Frieden (so schrieb auch Gretel FathPRisse, Margarethe, geb. Fath, Gretel genannt, Lehrerin, verh. mit Otto Risse (?), „Und ist doch noch so lang bis dahin.“). Nachmittags einen Lagerplatz im Schnee geschaufelt, ein Flieger brummt, etwas geschrieben. WynekenPWyneken, Gustav, 1875-1964, dt. Reformpädagoge, Gründer der Freien Schulgemeinde WickersdorfBWyneken, Gustav!1915@Der Krieg und die Jugend, München, 1915. gelesen. [Ziel des Krieges nicht politisch, sondern ethisch: Nicht „größeres DeutschlandLDeutschland“, sondern „jüngeres DeutschlandLDeutschland“; innere Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit. „Sorgen wir nur für Kultur in DeutschlandLDeutschland‚ – deutsche Kultur wird sie dann von selbst werden.“]