\documentclass{carnap-compact} \usepackage{valep-macros} \usepackage{html} \usepackage{amsmath} \usepackage{amssymb} \usepackage[T1]{fontenc} \usepackage{geometry} \usepackage{fancyhdr} %\usepackage{graphicx} \usepackage[colorlinks,bookmarksopen]{hyperref} \usepackage{textcomp} \usepackage{ifthen} \usepackage{tikz} \newcommand{\editorpart}[1]{#1} \newcommand{\lita}[1]{\item#1} \newcommand{\lith}[1]{\item#1} \newcommand{\lititem}{\item } \newcommand{\fnEE}[1]{\fnE{#1}} \newcommand{\replsp}[2]{\soutsp{#1} \\textsp{#2}} \newcommand{\nichtdrucken}[1]{} \begin{document}\subsection{Zur Überlieferung und Transkription der Tagebücher}\labelcn{sec:app.B.1} Wie die Tagebücher Carnaps den Weg in seinen Nachlassbestand fanden, lässt sich nur indirekt rekonstruieren: Schriftliche Bemerkungen darüber bei Carnap selbst fehlen. Carnaps privater Besitz hat bis zur endgültigen Ansiedlung in Los~Angeles im Jahr 1954, aus der dann der Nachlassbestand in Pittsburgh hervorging, in dem sich die Tagebücher finden, mehrere Umzüge mitgemacht: von Barmen nach Jena (1909), von Jena nach Wiesneck (1919), von Wiesneck nach Wien (1926), dann nach Prag (1931), nach Chicago (1935), nach Princeton (1952). Carnap hat bei diesen Umzügen Teile des vorhandenen Materials an Büchern und Schriften zurückgelassen. Das Tagebuchmaterial scheint er aber stets als Ganzes aufbewahrt zu haben. Er hat auch Anstrengungen unternommen, die einzelnen Teile zu sortieren, so etwa bei dem hier edierten Material durch eine Nummerierung einiger Tagebuchteile, die mit TB\,10, also dem ,,Kriegstagebuch``, als Nr.~1 beginnt und bis TB\,23 (Nr.~13) fortgeführt wird. Die Nummerierung wurde von Carnap aber auch auf die davor liegenden Konvolute TB\,6 bis TB\,9 (Nr.~$-$3, $-$2, $-$1,~0) ausgedehnt, nicht jedoch auf die früheren und späteren Konvolute. Die genaue Bedeutung dieser Nummerierung ist unklar. Vermuten könnte man, dass zum Zeitpunkt der Nummerierung das Tagebuch für Carnap mit dem Kriegstagebuch erst richtig begann. Man sollte diese Interpretation aber nicht überstrapazieren, da die Nummerierung offensichtlich vorwiegend organisatorischen Charakter hat.{\tolerance500\par} Bei der Ordnung seines Nachlasses hat Carnap zunächst 1968 einen Teil seiner persönlichen Dokumente als Vorlass an die UCLA übergeben. Dabei handelte es sich vorwiegend um Manuskripte und Briefwechsel, aber auch die Entwürfe zur Autobiografie Carnaps sind in diesem Konvolut enthalten, Letztere als Teil der in diesem Bestand enthaltenen umfangreichen Dokumentation zum \textit{\mbox{Schilpp} Volume}. Nicht enthalten sind in dem Bestand an der UCLA die Tagebücher Carnaps, die erst mit dem gesamten Rest-Nachlass in den 1970er-Jahren an die Hillman Library der University of Pittsburgh gegangen sind. Das Material an der University of Pittsburgh umfasst einen Großteil der Manuskripte und der Korrespondenz von Carnap, einschließlich eines separierten Konvolutes an eher persönlichem Material. Dieser in der Pittsburgher Bestandslogik als Box~22 bis~25 etikettierte Teilbestand umfasst in der Hauptsache mehrere tausend Fotografien, mehrere tausend Briefe des Briefwechsels von Carnap mit Familienmitgliedern und Freunden sowie einen Großteil der Tagebücher (einzige Ausnahme ist TB\,1, ein Tagebuchteil, der wohl eher zufällig in einem anderen Teil des Pittsburgher Bestandes gelandet~ist). Es gibt keine Indizien dafür, dass Carnap selbst Teile seines Nachlasses unter Verschluss halten oder von einer Publikation ausschließen wollte. Namentlich die Tagebücher hat Carnap selbst wohl aufgrund ihres Wertes als historisches Zeugnis, gemeinsam mit der Langfassung seiner Autobiografie, zumindest als forschungsrelevant betrachtet. Bei der Etablierung des Pittsburgher Bestandes wurden dennoch zunächst auf Betreiben der Familie Carnaps Teile des Bestandes für die Forschung gesperrt. Der Grund dafür war wohl, dass die Familie zunächst zögerte, intime Details im privaten Teil des Nachlasses öffentlich sichtbar zu machen. Diese gesperrten Teile umfassten daher vor allem die Tagebücher und den privaten Briefwechsel. Trotz dieser Restriktionen wurde bereits in den 1980er-Jahren ein Teil der Tagebücher von Karl~H. Müller (Wien) in Pittsburgh eingesehen und -- allerdings ohne Erlaubnis durch die Verantwortlichen~-- im Auszug transkribiert (im Folgenden \textit{Müller-Transkription} genannt). Diese Transkriptionen umfassen auf 403~maschinschriftlichen Seiten die Zeit zwischen Juli~1927 und Juni~1933, wobei vom Transkriptor als unwichtig befundene Passagen weggelassen wurden. Namen wurden in der Müller-Transkription durchwegs in den von Carnap verwendeten Kurzschreibweisen belassen, phonetisch geschriebene Namen wurden häufig unkorrekt transkribiert (vgl. Abschnitt~\refcn{sec:transkript}). Trotz dieser Mängel fungierte die Müller-Transkription für Jahrzehnte als wichtige Grundlage der Forschung zur Philosophie Carnaps und des Wiener Kreises. Etwa um das Jahr 2000 herum wurden dann die Restriktionen des Carnap-Nachlasses gelockert und es konnten Passagen der Tagebücher auf Benutzer\-anfrage hin transkribiert werden, wobei Passagen mit privatem Charakter geschwärzt werden mussten. Diese von Jerry Heverly und Brigitta Arden erstellten Transkriptionen dienten beispielsweise als wichtige Quelle \pagebreak für die Gödel-Biografie von John Dawson.\fnE{Dawson, \textit{Logical Dilemmas}.} Schließlich wurde um 2008 der gesamte Nachlass von der Familie für die Forschung freigegeben, wobei für das zuvor gesperrte Material eine 50"~Jahre-Regel eingeführt wurde. Das heißt, dass seit 2020 bzw. dem fünfzigsten Todestag Carnaps alle Tagebücher und alle sonstigen von Carnap verfassten Dokumente des Carnap-Nachlasses für die Forschung und Publikation freigegeben sind. Etwa zu dieser Zeit begann die Hillman Library Teile des Carnap-Nachlasses zu scannen und online verfügbar zu machen, so auch die Teile der Tagebücher, die zum Zeitpunkt des Scannens älter als 50~Jahre gewesen sind. Die dadurch elektronisch in hoher Qualität verfügbaren Originale großer Teile der Tagebücher bis 1959 wurden zunächst unabhängig voneinander von Brigitta Arden an der Hillman Library und Brigitte Parakenings am Philosophischen Archiv der Universität Konstanz durchgesehen. Beide erkannten den kultur- und philosophiehistorischen Wert dieser Dokumente und begannen, zunächst unabhängig voneinander, dann in Kooperation Teile dieser Bestände zu transkribieren. Bis~2014 wurden auf diese Weise Teile der Tagebücher aus der Zeit von 1913 bis 1917 sowie 1926 bis 1932 von der Hillman Library online in Transkription zugänglich gemacht. Auf dieser Grundlage erarbeitete der Herausgeber dieser Edition gemeinsam mit Arden und Parakenings einen Projektantrag an den österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF) mit dem Ziel, zunächst die Tagebücher bis 1935 vollständig zu transkribieren und historisch-kritisch zu edieren. Mit der Arbeit wurde unmittelbar nach Bewilligung des Antrags (als FWF Projekt P27733) im April~2015 begonnen. Im September 2017 lag eine vollständige Transkription des Textes der Tagebücher von 1908 bis 1935 vor. Die Arbeit wurde von 2018 bis 2021 durch eine zweite vom FWF bewilligte Subvention (Projekt P31716) ermöglicht. In dieser Zeit wurde auch mit der Transkription der späten Tagebücher begonnen, die zu Redaktionsschluss bis in das Jahr 1963 fortgeschritten ist.{\tolerance500\par} \pagebreak \subsection{Zum Umgang mit Carnaps Kurzschrift}\labelcn{kurzschrift} \subsubsection{Zur Rolle der Kurzschrift in Carnaps Werk und ihrer Bedeutung für die Auswahl der Texte dieser Tagebuchedition}\labelcn{sec:rollekurz} In Carnaps Gesamtwerk spielen die in Kurzschrift verfassten Texte eine besondere Rolle. Fast alle von Carnap publizierten Texte wurden zunächst in kurzschriftlicher Form ausgearbeitet, um erst in einem zweiten Schritt handschriftlich ab den frühen 1920er-Jahren maschinenschriftlich für den Druck vorbereitet zu werden. Auch die unpubliziert gebliebenen Texte Carnaps sind überwiegend in Kurzschrift verfasst. Das gilt für zahlreiche Manuskripte, die aus verschiedenen Gründen nicht bis zur Publikation weiterverfolgt wurden. Es gilt für Carnaps Ausarbeitungen von Vorlesungen und Vorträgen, gelegentlich auch für zu Archivzwecken erstellte Abschriften von Briefen und anderen Texten. Es gilt vor allem aber für die hier edierten Tagebücher und die in ihrem Umfeld verfassten Gesprächsnotizen und Leselisten. Bemerkenswert ist diese Praxis der Verwendung von Kurzschrift zunächst in einem linguistisch-orthografischen Sinn. Kurzschrift erzeugt einen orthografisch neutralen Text, indem sie dem Prinzip der phonetischen Reproduktion eines Textes folgt. (Aus diesem Grund werden die kurschriftlich verfassten Texte Carnaps hier auch in die sogenannte neue, heute übliche Rechtschreibung übertragen.) Kurzschrift ist daher auch sehr stark an die Lautbildung der Sprache, für die sie intendiert ist, gebunden, im Fall Carnaps die deutsche Sprache. Gelegentlich eingestreute englische Ausdrücke werden von Carnap phonetisch in die Kurzschrift übertragen oder langschriftlich notiert. Bei Carnap ist die Verwendung von Kurzschrift aber aus einem zweiten Grund bemerkenswert, nämlich dem, dass er 1935 in die USA emigriert ist und sich seither privat und öffentlich überwiegend in der englischen Sprache artikuliert hat. Diese Konversion war sehr weitgehend. So sprach man zu Hause (obwohl Carnaps Frau Ina gebürtige Österreicherin, also nativ deutschsprachig war) hauptsächlich Englisch und auch die Korrespondenz mit aus Deutschland und Österreich stammenden Freunden und Kollegen wie Neurath, Feigl, Hempel erfolgte ab etwa 1940 überwiegend auf Englisch. Carnap, der 1942 die amerikanische Staatsbürgerschaft annahm, entwickelte ein Selbstbild als Amerikaner und Vertreter einer amerikanischen Philosophie und Denkweise und er blieb diesem Selbstbild bis zum Ende seines Lebens treu, auch wenn er Mitte der 1960er-Jahre, nach dem Selbstmord seiner Frau Ina, kurz überlegt hatte, dauerhaft nach Deutschland zurück zu kehren. Seit den 1940er-Jahren war Carnap ein sich als Teil der amerikanischen Kultur verstehender Philosoph, der sich von seinen deutschen Wurzeln distanzierte und nach 1945 nur mit profundem Misstrauen die Wiederannäherung an seine Familie und die in der NS-Zeit in Deutschland verbliebenen alten Freunde betrieb. Das macht es umso erstaunlicher, dass diese kulturelle Konversion sich eben nicht auf die Sprache ausgedehnt hat, in der Carnap seine Texte (mit Ausnahme der Korrespondenz) formulierte. Bis zu seinem Tod konzipierte Carnap seine Schriften~-- die meisten Manuskripte und alle Tagebücher~-- in Kurzschrift und also in der deutschen Sprache, wenn auch mit gelegentlichen englischen Einsprengseln. Für die Publikation vorzubereitende Texte wurden aus dem deutschsprachigen kurzschriftlichen Original in einen englischsprachigen maschinenschriftlichen Text übertragen. Seit den 1950er-Jahren hat Carnap dafür meist die Übersetzung zunächst auf Band gesprochen. Der maschinenschriftliche Text wurde dann in den meisten Fällen von Ina Carnap erstellt und dabei auch korrigiert. Diese englischen Übersetzungen wurden schließlich noch von Dritten~-- etwa Herbert Feigl, Carl Gustav Hempel oder Maria Reichenbach~-- weiter korrigiert und inhaltlich kritisiert. Trotz seiner Identifikation mit der amerikanischen Kultur ist Carnap also im Wesentlichen ein deutschsprachiger Autor geblieben. Ein Grund dafür mag darin gelegen haben, dass Carnap bis zu seinem Lebensende kein idiomatisches Englisch erworben hat. Seine englischen Texte sind grammatikalisch fehlerhaft geblieben und waren daher immer korrekturbedürftig. Carnap hat sich bei der Formulierung seiner Gedanken in der Muttersprache wohler gefühlt und sich daher, jenseits der kulturellen Konversion, für die private Verwendung des Deutschen entschieden. Eine Konsequenz der Verwendung von Kurzschrift war, dass Carnaps durchwegs auf Englisch erschienene Texte für die Publikation zunächst übersetzt werden mussten. Sind die publizierten Texte Carnaps also ab der Mitte der 1930er-Jahre mit wenigen Ausnahmen das Produkt einer Übersetzung (durch Rudolf und Ina Carnap) plus einer sprachlichen Bearbeitung durch Dritte, so repräsentieren nur die kurzschriftlichen Texte den Charakter einer \emph{die Produktion} von Carnaps Gedanken authentisch repräsentierenden Rede. Das muss nicht bedeuten, dass Carnaps Gedanken in den kurzschriftlichen Originalen automatisch \emph{besser} artikuliert sind. Im Gegenteil beinhaltet ja der Prozess der Übersetzung und Bearbeitung durch Dritte auch die Möglichkeit des Überdenkens, Kommentierens, Diskutierens und Optimierens. Ina Carnap und erst recht Hempel, Feigl und Maria Reichenbach haben in diesem Prozess nie nur sprachliche Korrekturen vorgenommen, sondern immer auch inhaltliche Kritik einfließen lassen. Existiert also ein autorisierter englischer Text, so kann davon ausgegangen werden, dass dieser auch einen optimierten Ausdruck von Carnaps Gedanken darstellt, der grundsätzlich dem kurzschriftlichen Original vorzuziehen ist, das ja lediglich eine später stets überwundene erste Skizze repräsentiert. Dass Carnap selbst ebenfalls dieser Ansicht gewesen ist, lässt sich auch an seiner durchwegs geübten Praxis ablesen, die diversen Vorstufen (kurzschriftlicher, handschriftlicher, maschinenschriftlicher Natur) zu vernichten, sobald ein Text einmal publiziert war. So fehlen diese Vorstufen mit ganz wenigen Ausnahmen für alle von Carnap jemals publizierten Bücher und Aufsätze. Carnap, der jenseits davon ein akribischer und häufig pedantischer Archivierer gewesen ist, hat hier bewusst die publizierte Endfassung als authentischen Ausdruck seiner Gedanken dadurch hervorgehoben, dass er alle diese Funktion tendenziell nicht erfüllenden Vorstufen vernichtet hat. Umso bemerkenswerter sind daher die wenigen Ausnahmen von dieser Regel, die sich im Nachlass finden. Wichtigstes Beispiel dafür ist die Autobiografie Carnaps.\fnE{Vgl. (SCH,~1\hbox{--}84) sowie die Entwürfe und Dokumente dazu in (UCLA~02~-- \href{http://doi.org/10.48666/825465}{CM3~M"~A3}, \href{http://doi.org/10.48666/825467}{CM3~M"~A4}, \href{http://doi.org/10.48666/825469}{CM3~M"~A5}; UCLA 06~-- \href{http://doi.org/10.48666/825481}{CMS1}, \href{http://doi.org/10.48666/825483}{CMS2}).} Diese wurde von ihm seiner sonstigen Praxis entsprechend zunächst (a)~in kurzschriftlicher Form, also auf Deutsch, verfasst, dann (b)~gemeinsam mit Ina Carnap in ein englisches Typoskript übertragen (Carnap diktierte die englische Fassung in den Kassettenrekorder, Ina erstellte das Typos\-kript). Dieses englische Typoskript wurde dann (c)~unter anderem von Feigl, Hempel und Maria Reichenbach sprachlich korrigiert. Schließlich aber wurde das Typoskript (d)~umfangreichen Kürzungen unterworfen und gelangte nur in dieser stark gekürzten Fassung zur Publikation im \textit{Schilpp Volume}. Dennoch hat Carnap in diesem Fall keine der Vorstufen vernichtet und diese sogar mit Kommentaren versehen, einerseits zum Charakter der verwendeten Kurzschrift, andererseits beim Typoskript: ,,\foreignlanguage{english}{this version was too long for the Schilpp vol.~I may later use these pages~[\ldots] if~\& when I should write for publication a longer version}``.\fnE{(\href{http://doi.org/10.48666/825469}{UCLA~02~-- CM03~M"~A5}).} Carnap hat also im Fall seiner Autobiografie die Vorfassungen aufbewahrt, weil er der Auffassung war, dass durch die für den \textit{Schilpp Volume} erforderlichen Kürzungen wichtige Teile verloren gegangen waren: Er plante sogar, eine eventuelle Publikation einer Langfassung selbst durchzuführen (wozu es aber nicht mehr kam). Diese Langfassung wäre wohl auf Englisch erschienen, befindet sich die entsprechende Notiz doch am Beginn der gestrichenen Teile des englischsprachigen Typoskripts. Carnap hat aber eben auch die kurzschriftliche Fassung entgegen seiner sonstigen Praxis aufbewahrt. Und er hat dies offenbar nicht nur für die eigene Referenz getan \pagebreak (zur Unterstützung der Erstellung einer englischsprachigen Langfassung). Die erwähnten Notizen am Beginn der Kurzschriftfassung verdeutlichen, dass Carnap diese Fassung für Dritte aufbewahren wollte, mit der Intention, dass diese die kurzschriftlichen Skizzen transkribieren und eventuell auch publizieren könnten. Diese zweifache Strategie der bewussten Aufbewahrung ist erstaunlich. Sie legt nahe, dass Carnap hier im Grunde \emph{zwei} Publikationen im Auge hatte. Eine (vielleicht von ihm selbst zu erstellende) Publikation der englischsprachigen Langfassung sowie eine (von vornherein eher für die Herausgabe durch Dritte intendierte) Veröffentlichung des ,,deutschen Skeletts``. Warum diese doppelte Strategie? Wäre doch die Intention der Bewahrung der gestrichenen Stellen durch die Erstellung einer vollständigen englischsprachigen Ausgabe erfüllt gewesen. Die Autobiografie ist ihrerseits weitgehend ein Destillat der Tagebücher und der Texte in deren Umfeld. Informationen aus der Autobiografie können direkt zu den Tagebüchern zurückverfolgt werden. Andererseits aber dient die Auto\-bio\-grafie auch der \emph{Ergänzung} der Tagebücher, indem sie dort nicht vorhandene Informationen hinzufügt, etwa zu Carnaps familiärem Hintergrund, aber auch zu den unterschiedlichen Kollektiven, in denen er sich bewegt hat sowie, nicht zuletzt, zu den inhaltlichen Details seiner Philosophie. Die Tagebücher und die Autobiografie (plus weitere verwandte Texte: die Lektürelisten und Gesprächsprotokolle) bilden eine von Carnap intendierte inhaltliche Einheit. Die Texte unterscheiden sich grundlegend von seinen philosophischen Schriften und stehen dennoch in einer engen Beziehung zu ihnen (siehe Teil~B der Einleitung zu Band~1 dieser Edition). Sie haben einen eigenständigen Charakter als biografische, philosophie- und kulturhistorische Dokumente und sollen deshalb in dieser Edition in einer eigenen Abteilung zusammengefasst werden. \subsubsection{Zur Transkription von Carnaps Kurzschrift}\labelcn{sec:transkript} Carnap verwendete zur Niederschrift der Tagebücher und der meisten seiner Manuskripte die zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts in Deutschland verbreitete Kurzschrift des Systems Stolze-Schrey.\fnE{Zu Carnaps kurzschriftlichen Texten vgl. auch oben die Einleitung, Abschnitt~3. Von Carnap selbst für die Transkription seiner Kurzschrift empfohlen (\href{http://doi.org/10.48666/825481}{UCLA~06~-- CMS01}) sind die Lehrbücher Schrey, \textit{Kurzer Lehrgang} und ders., \textit{Lehrbuch der Debattenschrift}.} In diesem System werden Konsonanten als bestimmte Zeichen wiedergegeben, während Vokale durch Hoch- oder Tiefstellung, unterschiedliche Strichlängen und verschiedene Strichstärken (erzielt durch leichten oder starken Druck beim Schreiben) \pagebreak ausgedrückt werden. Die Texterfassung erfolgt in der Regel phonetisch und stützt sich auf eine Reihe von Kürzeln, die für häufig gebrauchte Wörter oder Wortbestandteile des Deutschen stehen. Aus beiden Gründen ist dieses Kurzschriftsystem kaum geeignet, andere Sprachen als die deutsche Sprache, für die es entworfen ist, zu notieren. Um den Schreibaufwand weiter zu reduzieren, werden in der Kurzschrift außerdem in viel größerem Ausmaß als in der Langschrift Abkürzungen und (vom Verwender der Kurzschrift ad hoc entworfene) Kurzschreibweisen eingesetzt. Die so skizzierte Struktur von Carnaps Kurzschrift wirft Probleme für die Transkription auf. Erstens sind die Symbole der Kurzschrift durchwegs sehr sparsam und zur Minimierung des Schreibaufwandes einfacher als die Buchstaben des lateinischen Alphabetes gehalten. Aus diesem Grund sind manche Zeichen schwer voneinander zu unterscheiden. Hinzu tritt, dass die bestimmte Buchstaben und Lautfolgen symbolisierenden Hoch- und Tiefstellungen sowie unterschiedliche Strichlängen und -dicken oft nicht leicht zu erkennen sind: Prädikate wie ,,hoch``, ,,tief``, ,,kurz``, ,,lang``, ,,dick`` oder ,,dünn`` sind durchaus unscharf und daher in vielen Fällen für die Transkribierenden schwer bis gar nicht eindeutig zuzuordnen. Auch eine Kurzschrift, die, wie dies bei Carnap (zumindest in den früheren Jahren) der Fall ist, sehr präzise notiert ist, wirft ungleich größere Transkriptionsprobleme auf als eine Langschrift von vergleichbarer Qualität. Zweitens führen ad hoc eingeführte Kurzschreibweisen zu Transkriptionsproblemen. Sie erfordern eine eingehende Lektüre des umliegenden Textes und können oft nur tentativ aufgelöst werden. Transkription von Kurzschrift ist eine hermeneutische Herausforderung. Das heißt, es ist für eine erfolgreiche Transkription unerlässlich, mit dem historischen, biografischen und fachlichen Kontext eines Textes vertraut zu sein und den Text sinnerfassend in diesem Kontext zu lesen. Viele Textbestandteile können nur unter Zuhilfenahme von umfangreichen Hintergrundinformationen interpretiert und korrekt transkribiert werden. Die für diese Edition von Brigitta Arden und Brigitte Parakenings erstellte Transkription profitierte von deren jahrelangen Erfahrungen mit Carnaps kurzschriftlichen Texten und ihren einschlägigen biografischen und historischen Kenntnissen. Die Transkriptionen wurden dann vom Herausgeber gemeinsam mit Lois~M. Rendl und Roman Jordan in \LaTeX\ konvertiert und textkritisch bearbeitet, wobei bei diesem Teil des Prozesses bei den Bänden~1 und~2 vor allem die Arbeit von Lois~M. Rendl von Bedeutung war, der in intensivem Austausch mit Brigitte Parakenings die privaten und beruflichen Netzwerke Carnaps erschloss. Nach der Erstellung der Apparate wurde der gesamte Text von Arden und Para\-kenings nochmal mit den Originalen verglichen. Viele problematische Stellen, die noch in der Müller-Transkription unkorrekt oder unvollständig wiedergegeben waren, konnten so am Ende korrekt transkribiert bzw. ergänzt werden.{\tolerance500\par} Zwei Szenarien sind hier zu erwähnen: erstens die Entschlüsselung von schwer lesbaren Namen und Begriffen. Dass Namen und technische (vor allem fremdsprachliche) Begriffe häufig schwer lesbar sind, liegt daran, dass sie in der Kurzschrift entweder buchstabengetreu oder phonetisch reproduziert werden können. Carnap wendet beide Techniken an. So transkribiert er etwa ,,Lunch`` oder ,,Princeton`` buchstabengetreu, hingegen ,,\foreignlanguage{english}{shower}`` (ksl.~,,Schauer``) und ,,\foreignlanguage{english}{Office}`` (ksl. ,,Offis``) phonetisch. Schwer transkribierbar werden Carnaps Texte in der Emigration auch dadurch, dass er künstliche Mischformen aus Deutsch und Englisch verwendet, wie beispielsweise ,,gemifft`` (aus dem englischen Wort ,,miff``, hier also etwa in der Bedeutung von ,,verärgert``). Diese Merkmale in Kombination mit den oben erwähnten Charakteristika der Kurzschrift führen dazu, dass vor allem Namen (und in den späteren Tagebüchern auch fremdsprachliche Ausdrücke) überdurchschnittlich häufig ein Problem für die Transkription darstellen. Besitzt man jedoch spezifische Informationen über Personen, die Carnap in einem bestimmten Kontext begegnet sein könnten, so kann man diese Informationen mit möglichen Lesarten einer problematischen Kurzschriftstelle abgleichen und so die Anzahl möglicher Interpretationen reduzieren; im Idealfall ergibt sich eine einzige Lesart als die mit hoher Sicherheit richtige. Konnte der Interpretationsspielraum bei einem schwer lesbaren Namen oder Begriff derart eingegrenzt werden, dass sich eine einzige Lesart aufdrängt, so wird diese stillschweigend angenommen. Nur in solchen Fällen, wo es mehrere Lesarten gibt oder die einzige gefundene immer noch als unsicher eingestuft wurde, werden entsprechende Hinweise im textkritischen Apparat gegeben: Text wird als \unsicher{unsicher} markiert und/oder es werden alternative Lesarten in einer Fußnote angeführt.{\tolerance500\par} Zweitens die Verwendung von kurzschriftlichen Abkürzungen. Carnap kürzt nicht nur Begriffe (,,Off`` für ,,Offizier``) in der Kurzschrift durch verkürzte Schreibweisen ab, sondern auch und vor allem Personennamen. So schreibt er einen neu auftretenden Namen nur beim ersten Vorkommen aus (in etwa der Hälfte der Fälle wegen der besseren Lesbarkeit sogar langschriftlich) und kürzt diesen dann in allen folgenden Stellen ab, etwa durch Verwendung des Anfangsbuchstabens oder der ersten Silbe des Namens. Diese Kurzschreibweisen werden von Carnap gelegentlich über Jahrzehnte verwendet (,,Eli`` für ,,Elisabeth``). Sie werden hier stillschweigend aufgelöst, es sei denn, sie erweisen sich als mehrdeutig (in diesem Fall wird eine erläuternde Fußnote gesetzt). Diese Perspektive der Transkription ergibt sich aus einer genauen durchgehenden Textlektüre, die jede Passage immer im Kontext des umliegenden Textes liest, fast von selbst. Sie ist für die Sinnerfassung des Textes dennoch von grundlegender Bedeutung, wie folgendes Beispiel illustriert. \labelcn{herrigelversusheidegger}Am 23.\,III.\,1929 traf Carnap im Umfeld der Davoser Hochschultage den Journalisten Hermann Herrigel. Carnap schrieb den Namen ,,Herrigel`` an diesem Tag aus, kürzte ihn aber bei den weiteren Begegnungen am 30.\,III. und 3.\,IV. mit~,,H`` ab. Allerdings erwähnte Carnap bei seinem Bericht über die Davoser Hochschultage auch mehrfach Martin Heidegger, dessen Vorträge er hörte, den er aber persönlich nicht sprach.\fnE{Vgl. Rudolf an Elisabeth Carnap, 2.\,IV.\,1929 (RC~025"~88"~42).} Im Tagebuch sind diese Bezüge dadurch kenntlich, dass der Name ,,Heidegger`` (keine persönliche Begegnung) ausgeschrieben wird, während ,,H`` den persönlich bekannten Herrigel bezeichnet. Liest man die Passagen mit Bezügen auf Herrigel also im Kontext des Gesamttextes, so ist klar, dass die dort verwendete Kurzschreibweise ,,H`` auf Herrigel, nicht auf Heidegger referenziert. Diese Interpretation zu liefern ist aber eine Aufgabe der Transkription, weil sie eine umfassende Textlektüre und Vertrautheit mit Carnaps Abkürzungspraxis voraussetzt. Wie wichtig diese Seite der Transkriptionsarbeit ist, zeigt sich im gegenständlichen Fall an Interpretationen, in denen eine fälschlich vermutete Begegnung zwischen Heidegger und Carnap in Davos zu einer Uminterpreta\-tion von Carnaps Darstellung führt. So bei Michael Friedman, wo die Diagnose ,,that~Carnap was very impressed with Heidegger`` zwar auf dem korrekt wiedergegebenen Eintrag vom 18.\,III.\,1929 beruht: ,,Heidegger [im Unterschied zu dem ,\mbox{etwas} pastoralen` Cassirer,~C.D.], ernst und sachlich, menschlich sehr anziehend``. Allerdings schreibt Friedman Carnap auch die folgenden beiden Aussagen als Bezugnahmen auf Heidegger zu, die sich in Wahrheit auf Herrigel beziehen (hier sei ausnahmsweise die Kurzschreibweise ,,H`` verwendet): am 30.\,III.\,1929 ,,Mit~\uline{H} spazieren, diskutiert.~[\ldots]``; am 3.\,IV. ,,mit~H~[\ldots] über die Möglichkeit, alles, auch Zweck und Sinnfragen physikalisch auszudrücken. H stimmt mir im wesentlichen bei.``\fnE{Friedman, \textit{A Parting of the Ways},~7.} Carnap konstatiert im Tagebuch nur die sympathische Erscheinung Heideggers, und er meint dies wohl nicht unironisch, im Sinne von: ,verblüffend, dass der uns nahe stehende Cassirer so altmodisch auftritt, während der für uns komplett unzugängliche Heidegger ein sympathisches Erscheinungsbild hat`. Während Carnap mit Heidegger in Wahrheit bewusst keine persönliche Begegnung gesucht hat, wird bei Friedman eine in Spaziergängen etablierte, höchst überraschende inhaltliche Übereinkunft diagnostiziert.\fnE{Diese Diagnose wird eins zu eins übernommen in Gordon, \textit{Continental Divide},~99.} Michael Friedman hat in seinem Buch korrekt zitiert, aber die Grundlage war eine unvollständige und dadurch unkorrekte Transkription. In dieser Edition wurden kurzschriftliche Kurzschreibweisen im Stil von ,,H`` für Herrigel oder ,,Off`` für ,,Offizier`` stillschweigend ergänzt, \pagebreak sobald die Herausgeber die Lesart als gesichert betrachtet haben. Die Ergänzungen mussten stillschweigend erfolgen, um eine Aufblähung des textkritischen Apparates und einen daraus resultierenden unübersichtlichen Text zu vermeiden. Nur in den Fällen, wo die Lesart der Herausgeber als nicht völlig gesichert angesehen wurde, ist die Ergänzung textkritisch als solche gekennzeichnet. \subsection{Zur Auswahl der Texte dieser Edition} Carnaps Nachlass enthält, neben den Tagebüchern, eine Reihe von weiteren chronologischen Aufzeichnungen: Taschenkalender, finanzielle Aufzeichnungen sowie diverse Listen über geschriebene Briefe, gekaufte Bücher, gelesene Bücher und Gesprächsprotokolle. Bei dieser Edition wurde versucht, diejenigen chronologischen Aufzeichnungen Carnaps zu erfassen, die von unmittelbarem Wert als historische und biografische Dokumente sind. Unberücksichtigt blieben daher etwa die Taschenkalender, die Listen über Ein- und Ausgaben, Einkäufe, Brief\-ein- und -ausgänge, weil diese Informationen zwar indirekt relevant sein könnten, für die Erschließung von biografischen Details aber für sich genommen keinen dokumentarischen oder historischen Wert besitzen. Hingegen wurden die Gesprächsprotokolle Carnaps und auch seine Lektürelisten als wichtige die Tagebücher ergänzende Dokumente identifiziert, zumal Carnap diese Dokumente offensichtlich selbst zur Ergänzung und Entlastung der Tagebücher erstellt hat. Diese beiden Textsorten werden getrennt von den Tagebüchern mitediert, die Lese\-listen im Anhang der jeweiligen Bände, die Gesprächsprotokolle in einem Ergänzungsband, der auch die kurzschriftliche Urfassung von Carnaps Autobiografie enthalten wird (vgl. oben, Abschnitt~\refcn{sec:rollekurz}). Bei den tagebuchartigen Aufzeichnungen Carnaps waren zum Teil Entscheidungen hinsichtlich der Abgrenzung zum Briefwechsel nötig. So können Briefe ihrerseits einen tagebuchartigen Charakter annehmen, zumal dann wenn sie über mehrere Tage verfasst werden und Ereignisse chronologisch protokollieren. Als Abgrenzungskriterium diente hier die Frage, ob solche Aufzeichnungen (nur) als an den Adressaten geschicktes (und daher bei Carnap durchwegs langschriftlich verfasstes) Briefdokument vorliegen oder aber (auch) in der Gestalt von chronologisch angeordneten kurzschriftlichen Abschriften. Ist Letzteres der Fall, dann wird dieses Material als Tagebuch identifiziert, ansonsten bleibt es dem Briefwechsel vorbehalten (und einer Erfassung in den einschlägigen Teilen dieser Nachlassedition). So wurden die Tilly-Briefe (TB\,3~=~TBT) in diese Edition aufgenommmen, weil sie exklusiv in Carnaps kurzschriftlicher und tagebuchartiger Abschrift vorliegen, während die Brieforiginale nicht erhalten sind. Nicht aufgenommen wurden dagegen Carnaps tagebuchartige Briefe von der Griechenlandreise im Frühjahr 1910 (RC~25"~94"~02), weil die Sachlage hier genau umgekehrt ist. Was vorliegt, sind die tatsächlich von Carnap an seine Mutter und Schwester geschickten Briefe. Es existiert hingegen keine kurz- oder langschriftliche Abschrift Carnaps, die er in ein Tagebuchkonvolut eingegliedert hätte. Daher gehören diese tagebuchartigen Aufzeichnungen zum (privaten) Briefwechsel. Die der Tagebuchedition zugeordneten Textkonvolute aus dem Nachlass von Carnap enthalten immer wieder auch Passagen mit Inhalten, die nicht den oben beschriebenen Kriterien genügen: Beispielweise sind finanzielle Aufzeichnungen eingestreut, Namens- oder Adresslisten. Solche nicht tagebuchartigen Inhalte werden nicht mitediert, es wird aber im textkritischen Apparat auf diese Inhalte verwiesen.{\tolerance500\par} %%% Local Variables: %%% TeX-PDF-mode: t %%% mode: latex %%% TeX-master: "Tagebuecher_1908_bis_1919" %%% End: \end{document}