71Tagebuch 5. I. 1967 – 4. I. 1968 [Rudolf Carnap: Tagebücher], Eintrag Mo 20. II. 1967

Hanne fühlt sich nicht wohl die letzten Tage. – Abends mit Grete und Hanneli gutes Gespräch. (Sie kramt eine Menge alte Erinnerungen aus; aus Wiesneck, besonders wie sie verliebt war in Albrecht; er hatte kaum mehr Gefühle für Manni; die war irgendwo in Schlesien oder so monatelang; Grete fragte ihn direkt: wenn er sie nicht mehr liebt, warum will er sie trotzdem noch heiraten; er sagte: Ein Mann bricht sein Wort nicht! Das war wohl seine Offiziersehrenbegriff; und so mussten alle drei darunter leiden. Ich erzähle, wie Chacha mir erzählt, wie sie der Mama gesagt hat: Wenn Grete nicht 🕮 bald einen Mann findet, dann sollte sie doch wenigstens ein Kind haben, sie ist doch für Mutterschaft geschaffen. Ich hätte erwartet, dass die Mutter das mit Entsetzen zurückweisen würde; aber sie fragte nur: „Aber von wem?“, darauf Chacha: „vom Rudi natürlich!“. [Nachher fiel mir aber ein, dass das vielleicht nicht in Wiesneck war, sondern in Mexiko?] Grete fragt, warum ich so dringend mit ihr nach Flensburg reisen wollte, um Walter kennenzulernen; ich: Ich glaubte, Du hättest mich gebeten, mitzukommen, um den Eltern zu berichten. (Im Tagebuch finde ich, dass Grete mich zu der Reise „eingeladen“ hat, aber nichts über einen Bericht.) Ich sagte, ich berichtete dann den Eltern, dass Walter ein sehr zuverlässiger Charakter sei; Grete lacht (wohl weil es ihr seltsam scheint, dass dies das Wichtigste ist). Ich: Dann schrieb ich aber auch, dass Du ihm geistig überlegen wärest. (Ich fügte nicht hinzu, obwohl es mir auf der Zunge lag: dass das vielleicht zu Schwierigkeiten führen könnte.) Grete erzählte, ich sagte damals zu ihnen: „Ihr lieben, schönen Menschen, habt Euch doch einfach lieb! Warum denn gleich ans Standesamt denken?“. – Grete überlegt, wo wir uns kennengelernt haben. Ich erzähle von Verwundungsurlaub, Mai 1917; ich fuhr gleich nach Wiesneck für Verlobung; dann nach Jena, wo auch Agnes war. Grete sagt: Ihr wart doch schon lange „versprochen“; ich: Wir hatten uns sehr lieb, aber ich wollte nicht an Heiraten denken; ich erzähle von unserer Blutsbrüderschaft; auf der Bank am Wald; Hanneli und Grete sagen: Die hieß auch immer die Verlobungsbank. Und dann erzähle ich 1913 in Jena, wo Chacha aus Reifenstein kam, vielleicht zum letzten Abschied; und ich konnte auf einmal nicht an Heiraten denken! Die Mutter war entsetzt; ich selbst war böse auf mich, und konnte es mir nicht erklären; erst viel später in der Analyse kam allerhand heraus; dabei wird Offenkundigstes? die zu starke Mutterbindung („wie sie auch bei Sven war“ fügte ich hinzu). Dann erzähle ich vom August 1917, Kriegstrauung; Grete wusste nicht mehr, dass sie mir Schillers langes Gedicht über die Entwicklung der Menschheit auf meine Bitte deklamiert hat.) 🕮\(Grete Abreise nach Mexiko)\