68Tagebuch 1. I. 1964 – 31. XII. 1964 [Rudolf Carnap: Tagebücher], Eintrag Mo 7. IX. 1964

9-12 letzte Sitzung von Feigls Arbeitsgemeinschaft. (Feyerabend erklärt gut die Kontroverse Bohr-Einstein. Er erwähnt, dass einige auch versucht haben, die \(\psi{}\)-Funktion aus dem Phasenraum in den gewöhnlichen Raum zu übertragen. – Um 11h fordert Feigl mich auf, zum heutigen Stand des Sinnkriteriums zu sprechen. Ich erkläre kurz das Sinnkriterium im Artikel 1956, für theoretische Terme und Sätze. Dann meine jetzige PositiontOriginal Funktion.: nicht mehr „sinnlos“, sondern schlimmstenfalls „überflüssig“. Das ist eine große Liberalisierung, und ermöglicht auch, unvollkommene Theorien in frühen Wissenschaftsphasen, z.B. Theorie der Psychoanalyse, oder sogar in vorwissenschaftlichen Phasen zuzulassen . Dadurch fallen auch gewisse Einwände, die Feyerabend in früheren Diskussionen gemacht hat, fort. – Feyerabend spricht noch über Versuche, die Logik in der Quantentheorie zu ändern, z.B. Reichenbachs mehrwertige Logik, und Neumann-Birkhoffs Streichung des einen Distributionsprinzips. Er ist dagegen, und ich stimme zu. In Bezug auf „sinnlos“ weise ich hin auf Schlick und Martin Strauss.) –Nachmittags Diskussion mit Flitner, Rohs, und Annemarie. (Sie fragen über Sinnkriterium, und ich erkläre das Übliche. Für Flitner ist Natur = das nach naturwissenschaftlicher Methode Erfassbare; ich frage, welche Vorgänge der Welt liegen außerhalb davon. Flitner: die geistigen Vorgänge, z.B. Selbstbewusstsein, Reue, „ich bin“; das ist mir schwer verständlich. – Über Werte und Wertungen. Stevensons Buch. Glaube und Haltung; utinam-Sätze. Flitner stimmt vielem zu, aber da scheint doch eine absolutistische oder objektivistische Auffassung der Werte dahinter zu 🕮 stecken und ferner glaubt er, dass durch die Kulturentwicklung sich zunächst in kleineren Gruppen, dann Nationen usw., und schließlich in der Menschheit ein gemeinsames Wertsystem herausklärt; die Menschen „werden immer besser gewahr“ davon. Ich sage, dass ich mit dieser optimistischen Auffassung sympathisiere, aber das doch nicht als „gewahr werden“ oder „Erkenntnis“ auffassen möchte; es ist nicht klar, ob er es für Erkenntnis hält.)