68Tagebuch 1. I. 1964 – 31. XII. 1964 [Rudolf Carnap: Tagebücher], Eintrag So 27. IX. 1964

Gerti reist ab (nach Berlin zurück, in ihrem Auto, für weitere Examina bis zum März. Ich schenke ihr die kleine grüne elektrische Taschenlampe, mit der sie neulich mit Entzücken Hannes Augen durchleuchtet hatte.) – Eilbrief von Siri Næss (sie hätten mich gerne gesehen, verstehen aber meine Gründe, und hoffen für nächstes Jahr.) – Wir fahren nach Lübeck. (Hans Arnold, Hanne und Martin kommen mit, um mich hinzufahren; sie besuchen inzwischen Freunde dort. 1¼ Stunde Autofahrt, ½ Stunde durch die Stadt, dann ½ Stunde Autobahn, dann 15 Minuten, am Haus Krempelsdorf vorbei, nach Lübeck 12¼-6 ich bei Friedrich und Marianne v. Rohden. Strohkatenstr. 7. In demselben Haus habe ich sie mit Ina 1937 besucht, auf der Fahrt von Fahrenkamp nach Hamburg. Jetzt haben sie unten ein großes Zimmer angebaut, und oben sein Sprechzimmer, Wartezimmer und Behandlungszimmer eingerichtet. – Über die Kalzifizierung meiner Bandscheiben. Er meint, das sei ein sehr seltener Fall. – Ein wenig über meine Psychoanalyse; Beseitigung der Agoraphobie; kurz auch über: allgemeine Auflockerung, Beseitigung von Hemmungen, intensivere Gefühle bei Musik, leichterer Kontakt. – Ausführlich über die Entwicklung von Inas Depression; Zurücksetzung durch Eltern; Bruder, Mutter; Verlust des Hauses; ausführlicher über 1964, und besonders die letzten Tage. Er sagt: Wahrscheinlich hat sie sich doch sofort erhängt, die Leiche bleibt lange warm; der Tod ist momentan mit Erstickung, weil sie die Schlinge richtig gesetzt hat; wahrscheinlich hat sie es vorher schon oft überlegt gehabt, richtig mit Leiter und Springen. Er sagt, er hat hunderte von Fällen von 🕮 Depression gehabt; wenn Medizin nicht mehr helfe, ist Schockbehandlung das Beste. Gewöhnlich erfährt die Frau gar nicht, dass Schock angewendet worden ist, nur der Mann muss die Zustimmung geben. Zuweilen sind mehrere Behandlungen nötig, aber die Intervalle werden länger. Er besteht darauf, dass keine merklichen Persönlichkeitsveränderungen eintreten; die Männer würden das sonst berichten. Er sagt, er selbst und alle Psychiater würden wünschen, dass im Falle von schwerer Depression, wenn die Medizin nicht genug Wirkung habe, Schock angewendet würde bei ihnen selbst. Ich sage, dass die Psychoanalytiker entschieden dagegen sind; er sagt „natürlich“.) – Abendessen beim Kaminfeuer. (Hans Arnold fragt, ob ich, seit ich 1918 mich zum Sozialismus entwickelt habe, meine Ideen später eingeschränkt und geändert habe. Ich sage: nicht wesentlich geändert; ich habe nicht, wie einige andere, nach Hitlers Sieg die Zuversicht in den endlichen Sieg des Sozialismus aufgegeben. Wohl aber habe ich noch dazugelernt; besonders durch Neurath in Wien einige Grundgedanken des Marxismus: dass für Siege einer Idee es nicht hinreicht, dass sie wahr ist, sondern auch nötig ist, dass sie den Menschen in der gegebenen geschichtlichen Situation etwas Positives bringt, was sie benötigen; wie Marx es für den Sozialismus sah in der Arbeiterschaft und wir für unsere Philosophie in der durch die Industrialisierung bedingten Wichtigkeit von Mathematik und Naturwissenschaften. Hans Arnold: Man kann also wohl sagen, dass nur zwei Gruppen bei Anfang der Hitlerregierung deutlich sahen, dass sie zu einer Katastrophe führen würde, nämlich die marxistisch Geschulten und gewisse protestantische Kreise in Deutschland.) – Spät abends Hanne in meinem Zimmer. (Ich: 1924 ging sie mit mir auf den Feldberg, nach dem Tod meiner Mutter, und sie gab mir Verständnis und Trost; und jetztyOriginal jeder. wiederum nach dem Tod von Ina. Sie sagt, sie hat in diesen Tagen gespürt, und von Tag zu Tag mehr, wie wir Kontakt haben, als wären gar nicht 🕮 die langen Jahrzehnte dazwischen gewesen; bei ihr Guatemala, Krieg und Hans Arnolds Gefangenschaft. Und bei mir das lange Leben mit Ina. – Sie spricht nochmal davon, dass ich lernen muss „gewähre es ihr“; ich sage, zuletzt in LA hatte ich das Gefühl, dass ich es schon kann, aber ich muss noch mehr hineinwachsen. Hanne sagt, zuweilen hatte sie hier das Gefühl, als müsste sie mich nicht allein lassen, aber dann wieder dachte sie zuweilen, sie müsse mir auch Zeit geben, an Ina zu denken und traurig zu sein. Ich danke ihr für die Zeit hier. – Ich sage, ob sie wohl mal nach Süddeutschland kommen könne, um mit Chacha, Hanneli, und Annemarie mehr Kontakt zu haben. Vielleicht will sie es tun, aber sie kommt nicht leicht in den Süden. Ich soll Chacha herzlich grüßen, und ihr sagen, dass sie sie gern mal dort hätte. Sie schlägt vor, dass ich Chacha einen Flug nach Hamburg schenke. Sie fragt, ob ich möchte, dass sie mit zum Flugplatz kommt. Ich sage: lieber nicht. Sie sagt, auch für sie war diese Zeit ganz besonders schön.)