68Tagebuch 1. I. 1964 – 31. XII. 1964 [Rudolf Carnap: Tagebücher], Eintrag Mi 16. IX. 1964

Mit Maue gesprochen (ich breche ihre Erzählungen ab und sage, ich möchte lieber, über sie selbst hören. Auf meine Frage sagt sie, sie sei, als sie die Kinder katholisch erzog, selbst wieder zum katholischen Glauben zurückgekehrt, nicht um der 🕮 Kinder willen, sondern um ihrer selbst willen. Ich frage, ob sie daraufhin dann unsere Erlebnisse moralisch verurteilt. Sie: Nein, sie bereut es immer noch nicht; sie glaubt, Gott wird es schon richtig verstehen; die Kirche selbst ist jetzt viel liberaler; sie betone mehr die Nächstenliebe als bestimmte Regeln. Sie sagt, sie versucht nicht, das genau einzugrenzen, aber sie hat kein schlechtes Gewissen darüber. Ich frage über die Geheimhaltung vor den Kindern selbst. Sie sagt, ihr hoch geschätzter Kaplan hier hat ihr zugestimmt, dass sie recht damit tue; sie hat ihm einmal im Privatgespräch alles erzählt; da habe er nach seiner Stola gegriffen, aber sie habe gesagt: bitte keine Stola, dies hier ist keine Beichte, sondern eine persönliche Besprechung. Sie meint, Gittli würde alles verstehen; sie habe manchmal zu ihr gesagt, der Nutto sei eigentlich eine Art von Großvater für sie gewesen; sie könne sich eigentlich nicht vorstellen, dass Nutto und Maue in Liebe zusammengewesen wären; wenn die Kinder nicht da wären, würde sie annehmen, es sei nicht geschehen! Dagegen fürchtet sie, Gerhard würde es als arg schlimm empfinden. Ich sage, so viele Leute wissen es nun schon, durch den Wiener Kreis, und Roh, und meine Kinder; es scheint kaum möglich, es für immer geheim zu halten; und da wäre es doch besser, wenn die Kinder es von ihr erfahren. Dem stimmt sie entschieden zu; sie will es sich noch einmal sehr überlegen. Ich sage, vielleicht könnte sie es zunächst nur der Gittli sagen, und die dann über Gerhard fragen; ich selbst habe den Eindruck, dass Gerhard in seiner klugen und liebevollen Art es auch verstehen würde. Sie sagt, umso wichtiger wäre es, dass ich Gittli jetzt sähe; man solle so etwas nicht auf ein anderes Jahr verschieben. Sie will überlegen, vielleicht ich nach Basel fliegen und dort Gittli treffen, die im Zug hinkommen würde, falls ich nicht nach Freiburg kommen würde, z.B. weil Annemarie jetzt eh so viel Arbeit hat; oder vielleicht könnte Gittli doch in den Kartoffelferien im Oktober herüber 🕮 kommen. Jetzt Gittli kennen lernen wäre wichtig. Aber ob sie es den Kindern sagen soll, das will sie erst nach gründlicher Überlegung entscheiden, vielleicht auch mit dem Kaplan.) [Ich bin froh, dass wir endlich noch auf diese wichtige Frage zu sprechen kamen; aber das kam nur durch meinen Entschluss, und durch meine Insistenz. In den Tagen vorher ist schrecklich viel Zeit vergeudet worden durch unaufhörliche Erzählungen, sehr oft über Leute, die ich nicht kenne und die mich nicht interessieren; zuletzt hörte ich dann einfach nicht mehr zu. Dabei störte mich auch die manierierte Sprechweise mit all den Wendungen, die zum ersten Mal witzig klingen, aber, wenn sie zur Gewohnheit werden, ärgerlich sind. (Leider hat Gittli das schon in ihrem Briefschreiben übernommen, wie ich aus einem Brief von ihr an Maue sah, den Maue mir zeigte.) Diese kompulsive Art von Maue im Sprechen wurde mir zuletzt so irritierend, dass ich dachte, ich könnte es nicht einen Tag länger mehr aushalten. Zum Glück kam dann heute das erste Gespräch, in dem sie gleich einen vernünftigen, natürlichen Stil annahm.] – Im Taxi zum Flugplatz (etwas über 10 DM) (ich gebe Maue 50 DM, für meine Telefongespräche und ihre Rückfahrt vom Flugplatz; sie war noch nie auf einem gewesen. Ich bedanke mich für die schönen Tage; das klingt wie Abschied für lange; darum sagt sie: „Ich werde Dich doch wohl nochmal zu sehen bekommen“, ich bejahe vage.) 3h Abflug (mit Zwischenlandung in Stuttgart, Lufthansa). 5:40 Ankunft Hamburg.OHamburg (Wir kommen einige Minuten früher an. Ich stehe ca 15 Minuten draußen an der Fahrbahn, wo die Autos halten. Ich denke, dass Hans Arnold allein im Auto kommt, oder vielleicht mit Hanne; darum gebe ich nicht acht, als ein Auto kommt, und ein Mann und ein Knabe aussteigen undwOriginal in. eilig ins Gebäude gehen. Dann kommt später, als ich beinahe schon ein Taxi nehmen will, der Knabe heraus und sagt: „Großvater, ich bin Martin“. Hans Arnold und ich umarmen uns. Wir fahren hinaus nach Norden. Er sagt, dass er jetzt ein Kaffeeimportgeschäft hat, anscheinend mit gutem Erfolg; und dass er gesund ist 🕮 und leistungsfähig. Ich frage nach der Gefangenschaft, und sage, dass ich Gollwitzers Buch30vermutlich Helmut Gollwitzer: … und führen, wohin du nicht willst : Bericht einer Gefangenschaft‚ Bonn und München 1951 gelesen habe; die Leiden müssen ja groß gewesen sein: Unterernährung und zu viel Arbeit. Er sagt: So schlimm war es nicht; der Zivilbevölkerung ging es oft schlechter, weil alles zerstört und disorgansiert war. Er selbst habe genug Nahrung bekommen; er habe als Maurer gearbeitet. – Sein Sohn Arnold habe gutes Geschäft in Guatemala, Vertreter von deutschen Firmen, als Teilhaber und chef. Rüdiger sei später hinübergegangen, aber jetzt ginge es ihm auch schon ganz gut; er vermittelt Kaffeeexport nach Deutschland, auch für seinen Vater. Beide Söhne sind Guatemala Bürger.) Wir kommen an ihr Haus; halbkreisförmig; sie wohnen oben. Oben kommt Hanne (im Dunkeln sieht sie jung aus, weil das meiste Haar noch hellbraun, darum glaube ich zuerst, es sei eine der Töchter. Ich bekomme ein schönes großes Zimmer, davor ist ein Balkon, der als innerer Halbkreis vor allen Zimmern hergeht, zum Garten hin (S) und ruhig. – Hanne erzählt von ihrer schwierigen Zeit in Fahrenkamp. Später wurde Sabine sehr streng und kirchlich durch Pfarrer Schutzka; vielleicht war das ein Protest gegen die nicht-kirchliche Haltung der Eltern. – Als ich sage, dass ich vielleicht Sonntag oder Montag abfliege, sagen beide, ich solle doch länger bleiben, mindestens 2 Wochen, oder solange ich will. Ich fühle mich wohl bei ihnen, mehr als bei Maue.) – Nachts ist es kalt, weil ich das Fenster nicht schließe, und ich habe viele schwere Wolldecken. (Am Morgen sage ich Hanne, dass ich meine elektrische Decke, in Freiburg gekauft, nicht mitgebracht habe; sie rät, Chacha anzurufen, sie als Schnellpaket zu schicken; und das tun wir dann.)