68Tagebuch 1. I. 1964 – 31. XII. 1964 [Rudolf Carnap: Tagebücher], Eintrag Sa 29. VIII. 1964

Annette ist da (sie ist mitten in der Nacht mit Zug angekommen.) Johannes kommt 10h (anstatt 9), weil er noch Sabine und die Jungen mitgenommen hat, die er um ½1 zum Mittagessen am Münster treffen will. Annemarie ist zornig, dass er das so spät sagt, sie wollte ihn doch zum Mittagessen hier haben.) –Gespräch mit Johannes, zeitweise auch Annette dabei. (Ich: In amerikanischer Terminologie bin ich ein „humanist“, d.h. das Ziel ist die Entwicklung der Menschheit; der Glaube ist, dass der Mensch dazu fähig ist, ohne übernatürliche Hilfe. – Er fragt nach meiner Wahrscheinlichkeitstheorie: Ich: das ist zu technisch; es gibt eine allgemein anerkannte Wahrscheinlichkeitstheorie. Ich nehme die auch an, aber glaube, dass daneben ein zweiter Wahrscheinlichkeitsbegriff auch nötig ist; und für den entwickle ich eine Theorie auf Basis von Axiomen. – Über Krieg und Entwaffnung. Ich sage: Die Russen sind ernsthaft für Entwaffnung, US aber nicht; denn die Russen fürchten die militärische Übermacht von Amerika, und sie glauben, ohne Waffen, nur mit Propaganda, würde ihre Seite 🕮 gewinnen; die Amerikaner glauben aber nicht, dass ihre Seite sicher gewinnen würde; ferner würde Entwaffnung zu sehr ernsten ökonomischen Schwierigkeiten führen, die die Russen, durch Planung, viel leichter bewältigen könnten als die Amerikaner, die heftig gegen Planung sind. – Johannes liest mir aus der „Stimme“, dem Organ der Bekenntniskirche, vor aus einem Beitrag eines Theologen, der sagt, dass eine friedliche Lösung des Problems von Deutschland nur möglich ist, wenn beide Teile sich gegenseitig anerkennen und dann mit einander verhandeln. Ich: Ich stimme dem entschieden zu; ebenso ist Amerikas Nicht-Anerkennung von China ein großer Fehler. – Ich sage Johannes, dass ich mich freue, zu sehen, wie ähnlich unsere Haltung ist gegenüber einem Problem, trotz der großen Unterschiede im Inhalt des Denkens: Wir beide bemühen uns, das Problem klar zu erkennen und dann so gründlich wie möglich durchzudenken, und so frei wie möglich von Vorurteilen. – Annette sagt, dass Lili Nebels Schwiegersohn, mit dem sie uns damals besuchte, ist ein Neger, aber mit sehr heller Haut; seine Eltern, oder einer davon, war viel dunkler; er ist Chemiker.) – Beim Mittagessen gerät Annemarie in einen Streit mit Johannes über Sabine (sie sagt, Sabine wolle dem Johannes nicht ganz Zeit freigeben, um mit mir allein zu sprechen; Sabine hat ihr gesagt, sie könne nicht ohne seine Hilfe mit den Jungens fertigwerden. Er sagt, Annemarie übertreibe; und ich versuche auch, ihre heftige Kritik etwas zu besänftigen.) – Nachmittags Gespräch mit Annemarie (über Sabine; sie sei oberflächlich und dumm, maße sich aber moralische Urteile über andere an (das war vielleicht hauptsächlich früher, als Annemarie und Sabine in Stockdorf waren). Sabine wolle verhindern, dass Johannes viel mit mir allein wäre; es wird aber nicht klar, was Sabines Motiv dabei wäre, wohl hauptsächlich unbewusst. Sabine liebt den Schwarzwald nicht, lieber Amrum, das aber 🕮 jetzt im Umbau ist; Johannes möchte gern Wanderungen dort oben machen, aber sie will nicht.) – Abendessen mit Annemarie und Annette.