RUDOLF CARNAP. Tagebücher und Leselisten. 1908–1919 |
Wir fahren nach Plattenhof, den ganzen Tag. (Vormittags erkläre ich Johannes einiges über Psychoanalyse; wie es geholfen hat, nicht nur die Neurose zu überwinden, sondern vieles an Hemmungen und Spannungen loszuwerden; das starke Erlebnis von Musik und Bewegung; und ich konnte dann LA annehmen. Und seitdem kann ich andere besser verstehen, Studenten beraten, usw.) Mittags im Gasthaus in der Gaststube gegessen. Nachmittags wieder hinter der Kapelle auf dem Liegestuhl. (Wir sprechen, auch schon etwas am Vormittag, über seinen Glauben. Er versteht auch eine Anschauung der Welt „ohne Gott“, aber sie erscheint ihm dürftig und ärmlich. Er wird in der Schilderung seines Glaubens zuweilen sehr beredt, spricht mit prophetischem Eifer. Ich sage, möglicherweise wird die evangelische Kirche zerrieben zwischen den 2 Extremen: Katholizismus und weltlicher Auffassung. Er sagt: Vielleicht ja; aber das beweist nichts gegen den Glauben, denn er sagt nicht, der Erfolg werde die Wahrheit seines Glaubens beweisen. So ist er konsistent. Er sagt, er lehnt auch nicht das Bemühen eines neutralen Historikers ab, die Entstehung des Christentums aus Früherem, z.B. Gilgamesch Epos, zu erklären; aber der Glaubende sieht, dass das nur unwesentliche Züge erklärt. – Er macht keine Verurteilung Andersdenkender, weder der Katholiken noch der weltlichen Auffassung. Und er sieht, dass sein Glaube, wie Paulus sagte, „dem Weisen eine Torheit ist“ oder mir vielleicht „naiv“ erscheinen könnte. Ich sage: nicht naiv, aber doch seltsam. Aber innerlich freue ich mich, dass wir gut miteinander sprechen können, jeder den Standpunkt des anderen verstehend. –