68Tagebuch 1. I. 1964 – 31. XII. 1964 [Rudolf Carnap: Tagebücher], Eintrag Di 18. VIII. 1964

Mit Annemarie Einkäufe (Flanellhemd, und Socken für mich, Leckereien für Irmelas Kinder), und dann zur Wintererstraße zu Agnes. (Irmela ist nicht da. Reinhards Schwester Erika begrüßt uns. Agnes geht allein mit mir in ihr Zimmer, für meine Augentropfen. Dann bleiben wir noch etwas allein. Sie gibt mir ein großes Foto von Ina und mir, aufgenommen von Trude Fleischmann; Inas junges Gesicht, so schön und hingebungsvoll, und doch auch schon traurig; ich muss weinen. Agnes erzählt mir von anderen Fällen von Schwermut: (1) Wilhelm Carnaps Tochter Eva hatte mehrmals Perioden von arger Schwermut; sie ist bei verschiedenen Ärzten in Behandlung gewesen; später war sie ganz davon geheilt, Agnes weiß nicht, wodurch. (2) die alte getreue Schwester Isolde, die viele Jahre Agnes’ Kinder behütete, wurde später schwermütig; sie musste „minütlich“ bewacht werden; zwischendurch kamen wieder bessere Zeiten; aber schließlich rannte sie aus dem Sanatorium heraus, mit nur einem 🕮 Mantel über dem Nachthemd, und in die Sieg, die damals Hochwasser hatte, und kam darin um; der Arzt schrieb „Unfall“, um ihre Reputation zu schonen, aber die nahe Beteiligten waren überzeugt, dass sie sich absichtlich ins Wasser gestürzt hatte; dies war umso erschreckender als die Schwester bis zuletzt sehr religiös war. – Sie erzählt von Gertrud Carnap, als ich von Inas Mutter spreche und ihrer senilen Schwäche, dass Friedrich von Rohden gesagt hat, vielleicht auf Berichte über Gertrud oder ein Foto, dass sie offenbar zu später Zeit, nach Jürgens Tod, in einem Zustand von dementia senilis war. Ich erzähle von Inas Kindheit, ungeliebt und von Hause „weggeschickt“, und ihrer Selbsterhaltung für Abitur und Studium. – 5h Agnes wird zu uns gebracht von Irmela Vonessen. Sie glaubt, ich hätte sie noch nicht gesehen; ich sage aber, dass wir 1937 in Vollmerhausen waren; da war sie 5 und Gerhard 4. - Agnes bleibt bei uns bis 7h. Agnes erzählt von den vielen Jahren, wo das Geschäft immer Verluste hatte (unklar, ob dabei auch Gewinne oder ob Gesamtbilanz solcher Jahre negativ war.) – Über die Bekenntniskirche; Wilhelm von Rohden sei führend in ihr. Ich frage nach Pastor Niemöller; sie sagt, er sei zu radikal und ehrgeizig, und gerät in politische Polemik über Deutschlands Wiederaufrüstung. Ich sage mit Lächeln, dass wir die Politik lieber beiseite lassen wollen. Sie spricht ziemlich wahllos über unzählige Menschen, manche mir gar nicht bekannt; ich muss mich immer bemühen, sie wieder auf Interessantes zurückzubringen. Sie weiß noch so viele Einzelheiten von unserer Griechenlandreise 1905.) – 7 ½ Annemarie und ich fahren Agnes nach Hause (dabei fängt Agnes an, eins der dreistimmigen Lieder zu singen, und Annemarie, am Lenkrad im regen Abendverkehr, 🕮 singt dazu die 2. Stimme;) ich brumme ein bisschen mit.)