68Tagebuch 1. I. 1964 – 31. XII. 1964 [Rudolf Carnap: Tagebücher], Eintrag Do 12. III. 1964

12 zu Dr. Mott. (Ich sage: Als ich vorige Woche anrief, war ich noch ganz unentschlossen. Ich selbst hatte starke Bedenken gegen Wien: die Last der Tätigkeit am Institut, das unbequeme Leben im Hotel, usw. Ich wollte Wien nur aus finanziellen Gründen. Andererseits war ich mir nicht klar, ob ich nicht eine moralische Verpflichtung hätte, die Kinder zu besuchen, jetzt wo ich endlich fähig bin, es zu tun. In der letzten Woche ist aber Inas Zustand so viel schlechter geworden, oder vielleicht mir klarer geworden, wie ihre depressions und Ängste sind, dass ich jetzt schon stark dazu neige, die ganze Reise aufzugeben. Er fragt, ob meine frühere Idee, alleine nach Deutschland zu reisen, nicht noch in Betracht kommt. Ich sage, das scheint mir jetzt ganz unmöglich; ich könnte sie nicht wochenlang alleine lassen. Sie hat so wenig Lebenswillen; sie sagt, wenn ich sterbe, würde sie nicht weiterleben wollen. Er: Das ist nicht sehr abnormal, sondern bei vielen Leuten der Fall, besonders älteren Menschen, die lange zusammengelebt haben 🕮 und nicht viel Außenkontakt hatten; das zeigt sich darin, dass in einem großen Prozentsatz von älteren Eheleuten beide im Abstand von weniger als 6 Monaten sterben; meist nicht durch Selbstmord, sondern verringerten Widerstand gegen Krankheit, oder verringerte physiologische Energie; auch den Selbstmord in solcher Situation sollte man nicht als abnorm oder shocking ansehen, sondern ein stärkerer Grad der Abnahme des Lebenswillens. Er sagt, ich müsse von jetzt ab nicht mehr wie früher die Rolle des Entscheidungsmachers Ina überlassen, sondern mehr selbst übernehmen. Wenn ich entscheide, die Europareise aufzugeben, wäre es sehr gut, wenn ich klarmachen und aussprechen würde, dass wir damit nicht alle Reisen usw. für die Zukunft aufgeben. Ich soll ab und zu die Initiative ergreifen und dann auch darauf sehen, dass Pläne gemacht und ausgeführt werden. Ich: Ich habe auch das Gefühl, obwohl durch lange Gewohnheit es nicht leicht für mich ist. Ich möchte vielleicht die Einladung von Ann Arbor für Ehrendoktor annehmen; mir scheint, ich könnte wohl Ina für etwa 3 Tage alleine lassen. Er meint, solche Unternehmungen, dies oder Ähnliches, zusammen oder alleine, wären sicher gut und auch für Ina notwendig, damit sie nicht zu starke Schuldgefühle über das Aufgeben der Europareise bekommt. – Ich erzähle vom Entsetzen über die große Nachzahlung für Einkommensteuer. Ina war schockiert, und ihre Ängste um Geld sind dadurch noch erheblich verstärkt worden. Sie findet es jetzt sehr schwer, Sachen zu kaufen, Kleidung, Möbel, usw., immer ist die Geldangst störend dabei. Er sagt, auch hier müsse ich mehr die Rolle des Entscheiders übernehmen und dazu sehen, dass Dinge gekauft werden, damit das Nicht-Kaufen nicht zur festen Gewohnheit wird. – Er hat 🕮 seit meinem letzten Besuch nicht mehr mit Dr. Pastrom gesprochen, kann daher nichts Weiteres sagen über Diagnose und Prognose.) – 5 ½ – 8 Mia hier (wir sagen ihr, dass wir die Europareise aufgeben wollen. Ich betone, dass ich das nicht tue, um Inas Wunsch nachzugeben, sondern weil es in ihrem jetzigen Zustand sehr plagsam und unerfreulich sein würde, besonders in Wien, wo ich ohnehin schon allerhand Gegengefühle habe. Sie sagt, dass sie es versteht, und dass es gut von mir sei; zu Ina sagt sie noch, dass ich es ihr ja wirklich so leicht mache, wie ich kann, um Schuldgefühle zu vermeiden.)