68Tagebuch 1. I. 1964 – 31. XII. 1964 [Rudolf Carnap: Tagebücher], Eintrag Mi 14. X. 1964

Mit Maue zum Zahnarzt Calbhenn (es ist ein wenig besser; er gibt mir 4 Kavosansäckchen, für Mundspülungen. Siehe Notizen!). Zu Panam (die Reservation wird im Ticket eingetragen; sie sagt, sie haben jetzt keine Zeit, um nachzuprüfen, ob die Hamburger Berechnung meiner Aufzahlung von 77 DM richtig ist; ich soll das mit dem Reisebüro in LA aufnehmen.) – Brief von Gittli (sie schreibt lieb und offen; sie fühlt es wie eine neue, aber erstaunlich erlebte Liebschaft (genau wie ich).) – Nachmittags mit Maue gesprochen. (Für sie und die Kinder besteht ein reichliches Vermögen, mit Mietshäusern in Freiburg, usw.; sie ist „beschränkter Erbe“, bezieht also nur das Einkommen; nach ihrem Tod geht das Vermögen an die Kinder; Carl Max hat gutes Einkommen; dem Gerhard kann sie gut aushelfen, wenn er es mal braucht. Auf keinen Fall soll 🕮 ich etwas an ihre Kinder vermachen, auch nicht in versteckter Form; denn sie will nicht, dass Chachas Kinder beschränkt werden, die es dringender benötigen. – Ich sage, dass ich dieses Weihnachen reichlichere Gelder geben will; ich kann ihr einfach einen Scheck schicken. Ich sage, ich werde den Kindern dann dazu schreiben, dass dies nicht gemeint ist als regelmäßig, sondern als etwas Besonderes, aus Freude über das Wiedersehen. – Ich sage, ich weiß augenblicklich selbst nicht, wieviel ich für die ganze Reise mit Geschenken usw. ausgegeben habe, und ob es, wenn ich es berechne, es übermäßig sein wird. In meiner gegenwärtigen Stimmung will ich freigiebig sein. Sie sagt, wenn ich weiß, ob ich im ganzen zu viel verplempert habe oder nicht (oder vielleicht, ob mein Vermögen erheblich gesunken ist oder nicht), soll ich ihr mal eine Andeutung darüber schreiben.) – Abends Gespräch mit Maue. (Ich frage, ob es wohl unmöglich ist für sie, am Samstag ein Mitternachtsgespräch mit Gerhard zu haben; ich will sie in keiner Weise drängen; aber wenn es geschehen könnte so, dass ich dann noch vor meiner Abreise es erleben und mit Gerhard selbst besprechen könnte, das würde mich sehr freuen. Maue sagt, das ist unmöglich. Sie findet es so schwierig; auch Gittli hat gesagt, dass es schwierig sein würde für Maue und sie sich überlegen will, ob sie selbst mit ihm sprechen solle. Mit Gittli sei es viel leichter gewesen, weil Gittli Liebe lebendig und stark erlebt hat. Dagegen mit dem „dünnblütigen“ Jungen, da wisse man gar nicht, wie er Liebe erlebe. Ich wundere mich sehr und frage, ob nicht Gerhard viel umgänglicher und leichter in menschlichen Beziehungen sei als ich. Sie sagt: Gewiss; aber es sei doch nicht sicher, ob er, wie Karl Max, so einer sei, bei dem einem „die Knöchel knacken“. Ich sage, vor unserer Beziehung würde sie mich doch wohl auch für sanft und wenig sinnlich gehalten haben. Aber sie kann, ebenso wie ich, nur sehr wenig erinnern von unserer Bekanntschaft vor dem Beinbruch. Sie fürchtet sich vor ihm, vielleicht würde er es nicht verstehen können und daher stark verurteilen. –Ich frage, wodurch sie wieder zum Katholizismus zurückgekommen sei; ob hauptsächlich der Kinder wegen; sie verneint das entschieden. Sie selbst habe das Bedürfnis gehabt, zu etwas zu gehören, wo sie einen starken Halt finden kann; 🕮 wo man immer im Angesicht des Todes lebte. Ich: Vielleicht war es eine Rückkehr zu ihrem Kindheitsglauben? Sie: Nein, den Kindheitsglauben hatte sie hinter sich gelassen; denn das war eben Erstarrtes und Unlebendiges; aber in der Kriegszeit gab es wieder einen lebendigen Katholizismus, unter dem vorigen Papst … Sie sagt, sie sei jetzt ganz da drin, nicht nur so gespielt, wie bei Chacha, die sich eigentlich nur gefühlsmäßig für Religion interessiere.) – Gegen 11h telefoniert Maue noch mit Gittli (sie sagte Gittli, ich fände nicht Zeit, jetzt ihr einen Brief zu schreiben; aber Gittli wünschte es doch so und habe gesagt, wenn man sich nach 30 Jahren wiederfindet, so ist das doch was Wichtiges und da müsse man auch was dafür tun. Ich sage, Brief ist aber zu dürftig; wenn es möglich gewesen wäre mit Gittli zu telefonieren, ohne dass zugehört wird oder Erklärungen abgegeben werden müssen, hätte ich es jeden Tag dreimal getan. Maue hatte mir gesagt, Gittli habe ganz allein vom Arztzimmer aus telefoniert, weil sie dort oft abends noch Geschäftliches erledigt. Jetzt geht sie schweigend weg, kommt nach einigen Minuten wieder und sagt: Geh hinüber, Gittli Gespräch. Ich gehe in Maues Zimmer, lege mich auf ihr Bett, und spreche mit Gittli. (Ich bin so froh, ihre Stimme zu hören, obwohl jetzt über das Fon etwas Hartes darin ist. Ich danke ihr nochmal und sage, dass der Aufenthalt in Deutschland eine nötige und sehr gute Erholung für mich war; und dass das Allerschönste dabei war, sie zu erleben. Ich bitte sie, Carl Max sehr herzliche Grüße zu sagen und ihm für seine zu danken. Ich danke sehr für ihren Brief (im Moment kann ich aber all die Punkte nicht erinnern aus dem Brief, zu denen ich etwas zu sagen gehabt hätte.) Sie sagte im Brief, sie habe noch so viele Fragen; kann sie jetzt eine Frage stellen? Sie sagt: Wie ist es mit meiner Philosophie? Es sei ihr seltsam und bedauerlich, dass so viele Philosophen sich jetzt von der Religion abwenden. Ich sage, das würde ich gern besprechen, aber das geht so kurz nicht, wir müssen es nächstes Jahr besprechen. Maue hatte ihr gesagt, dass ich sie gefragt habe, 🕮 warum und wie sie zur Religion zurückgekehrt sei; Gittli sagt, sie möchte die Frage umkehren: warum und wie ich von der Religion fortgegangen sei. – Nach dem langen Telefonat gehe ich zu Maue in mein Zimmer zurück und bedanke mich; ich bin so froh, sie noch gesprochen zu haben. Aber ich bin doch auch etwas enttäuscht; ein Telefonat kann doch nicht ein direktes Gespräch ersetzen.))