38Tagebuch 8. I. 1935 – 15. XII. 1935 [Rudolf Carnap: Tagebücher], Eintrag Do 5. IX. 1935

Beim Frühstück kommt Michael MüllerPMüller, Hans Michael, 1901–1989, dt. Theologe, Sohn von Johannes Müller, möchte mich einiges über Wiener KreisISchlick-Zirkel, Wiener Kreis fragen. Warum wir von den deutschen Professoren abgelehnt werden. Ich erkläre, dass wir nüchterne Wissenschaft treiben, die deutsche Metaphysik als Scheintheorie ablehnen. Er kritisiert HeideggerPHeidegger, Martin, 1889–1976, dt. Philosoph, der sich 150 %ig verhalten habe und sich dadurch sowohl bei Studenten als auch bei den Parteistellen geschadet habe. Er will meinen Meta­physik­aufsatzB1931@„Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“, Erkenntnis 2, 1931, 219–241 lesen. – Weil es regnet, mit AnnemariePCarnap, Annemarie Hedwig, 1918–2007, auch Töchterle, Tochter von Rudolf und Elisabeth Carnap in der offenen Liege­halle gelegen. Ich erzähle von AmerikaeinladungenLAmerika, LondonLLondon, Prager UniversitätIDeutsche Universität Prag. – Mittags neben Frau SchäferPSchäfer, Frau; sie schwelgt in MainbergerLMainbergIPflegestätte/Freistätte persönlichen Lebens, Schloss Mainberg/Schloss Elmau Erinnerungen, anscheinend etwas der Gegenwart entrückt. Nachmittags mit AnnemariePCarnap, Annemarie Hedwig, 1918–2007, auch Töchterle, Tochter von Rudolf und Elisabeth Carnap etwas im Teesaal gesessen. Dort Wandbilder von MainbergLMainberg. Ich frage nach ihren Berufsplänen. Sie will im Winter zu Hause sein, Klavierstunden‚ 🕮 Weben usw. Nächste Ostern in ein SchneideratelierLMünchen!Schneideratelier einer gebildeten Frau in MünchenLMünchen als Lehrling eintreten, für 3 Jahre! Immer von 8 – 6, mit etwa 1 Stunde Mittagspause. Sie wählt das nicht aus Not, sondern weil sie es am besten meisten möchte. Nudi ChristiansenPChristiansen, Lotte, 1908-1991, auch Nudi, Tochter von Broder Christiansen, heiratete Günther Rienäcker hat ihr auch zugeraten, aber auch gesagt, dass die Lehrlingszeit schwer ist. Auch Gartenbau würde ihr gefallen, aber das bringt nichts ein. – Zum Tee wir beide zu MainaPBachmann, Maina, 1902–1996, Tochter von Johannes Müller, verh. mit Gerhard Bachmann. Dabei die kleine SylviaPSylvia, Tochter von Maina Bachmann, 1 ½ Jahre, lieb und vergnügt, unverzogen. – Mit AnnemariePCarnap, Annemarie Hedwig, 1918–2007, auch Töchterle, Tochter von Rudolf und Elisabeth Carnap spazieren, etwas Regen, zur JägeralmLJägeralm. Von ElinePCarnap, Eline Dorothea, *1926, verh. Angermann, auch Lini, Graphologin, Tochter von Elisabeth Carnap und Broder Christiansen hat MamaPCarnap, Elisabeth, 1895–1987, auch Cha oder Chacha, Grafologin, Tochter von Luisa und Heinrich Schöndube, von 1917 bis 1929 verh. mit Rudolf Carnap ihr erzählt; ihre Gefühle zu ElinePCarnap, Eline Dorothea, *1926, verh. Angermann, auch Lini, Graphologin, Tochter von Elisabeth Carnap und Broder Christiansen seien dadurch gar nicht geändert. Ich erzähle ihr von GittliPGramm, Birgit, 1927–2019, auch Gittli, Tochter von Dorothea Gramm und Rudolf Carnap und GerhardPBachmann, Gerhard, Arzt, verh. mit Maina Bachmann. Sie nimmt es sehr gefasst auf. „Das ist aber witzig“. Sie sei nun mit GittliPGramm, Birgit, 1927–2019, auch Gittli, Tochter von Dorothea Gramm und Rudolf Carnap ebenso verwandt wie mit ElinePCarnap, Eline Dorothea, *1926, verh. Angermann, auch Lini, Graphologin, Tochter von Elisabeth Carnap und Broder Christiansen. Ich sage ihr, dass sie zu MauePGramm, Dorothea, 1896–1975, geb. Stadler, genannt Maue, verh. mit Josef Gramm darüber sprechen kann, aber nicht zu NuttoPGramm, Josef, 1878–1961, auch Schnurr, Nutto, dt. Kunsthistoriker, verh. mit Dorothea Gramm. Sie ist aber sicher überhaupt sehr schweigsam. Ich erkläre ihr die Geldfragen: Grundstück, Grundstücksverkauf, Hypothek, Monatsgeld.

Beim Abendessen neben MichaelsPMüller, Hans Michael, 1901–1989, dt. Theologe, Sohn von Johannes Müller Frau Dorothee MüllerPMüller, Dorothee, verh. mit Hans Michael Müller. Sie erzählt, dass sie sehr anti sei, ihr Mann sehr pro. Er sei gegen den Willen der Fakultät von der Regierung hingeschickt, worauf zwei andere Professoren, die Waffen gestreckt haben und abgesetzt bzw. versetzt worden sind. Daher Studentenboykott gegen ihn, weil fast alle Studenten der Bekennenden Kirche angehören. Sie meint aber, sie kämpfe auf verlorenem Posten, weil für Individualismus, während MichaelPMüller, Hans Michael, 1901–1989, dt. Theologe, Sohn von Johannes Müller die jüngere Generation vertrete, mehr amerikanisch, sozusagen bolschewistisch sei. Ich dagegen: Man muss nicht liberalistisch im Sinne des 19. Jahrhunderts sein, sondern noch moderner, amerikanischer, bolschewistischer. Für die eigentliche Revolu­703tion und nicht bloß 🕮 dem Namen nach Revolution. Es sei keine gesellschaftliche Umschichtung geschehen; sie sei erst unvollständig; das jetzige Regime vertrete im Grunde (im Unterschied zu StrasserPStraßer, Gregor, 1892-1934, dt. Politiker) die Sache der wirtschaftlichen Machthaber.79Gregor Straßer hatte in den 1920er-Jahren eine „sozialistische“ Ausrichtung der NSDAP betrieben, sich dann aber mit Hitler entzweit und wurde 1934, während des „Röhm-Putsches“, ermordet. – Nach dem Abendessen wir beide mit MainaPBachmann, Maina, 1902–1996, Tochter von Johannes Müller, verh. mit Gerhard Bachmann und DorotheePMüller, Dorothee, verh. mit Hans Michael Müller in MainasPBachmann, Maina, 1902–1996, Tochter von Johannes Müller, verh. mit Gerhard Bachmann Zimmer. DorotheePMüller, Dorothee, verh. mit Hans Michael Müller zeigt große Bernsteinstücke, die sie am Strand gefunden hat und verarbeitet. Sie sagt, MichaelPMüller, Hans Michael, 1901–1989, dt. Theologe, Sohn von Johannes Müller hat nie Zeit, ihre Argumente anzuhören, er wolle sie gar nicht überzeugen; sie sei nicht eigensinnig, im Gegenteil, wolle sich gern von einem Mann führen lassen. Sie fährt bald für 10 Tage nach New YorkLNew York, 3. Klasse, um die Eltern drüben zu besuchen (früher reich, jetzt ganz verarmt). Sie hat 5 Kinder und will noch 3 dazu.