Zu diesem Editionsvorhaben und grundsätzlichen Betrachtungen über Carnaps Tagebücher siehe die ersten beiden Abschnitte der Einleitung zu Band 1 und die ebenfalls dort abgedruckten Editionsprinzipien. Die in den Einleitungen der ersten beiden Bände begonnene biografische Darstellung wird hier chronologisch fortgesetzt. Dabei erfolgt eine Einteilung in drei Themenschwerpunkte: Biografie (Abschnitt 1), Theorie (Abschnitt 2), Netzwerke (Abschnitt 3).
Die hier erfassten sechzehneinhalb Jahre von Carnaps Tätigkeit an der University of Chicago sind die beruflich und publizistisch erfolgreichste Zeit in seiner Karriere. Dem gegenüber steht die Tatsache, dass Carnap im Mikroklima der University of Chicago nie völlig Fuß fassen konnte und sich dort wie in manchen anderen Belangen der Philosophie in den USA als Außenseiter sehen musste. Ganz in der zweiten Heimat gelandet ist Carnap erst, nach einem krisenhaften Zwischenspiel in Princeton, in den letzten eineinhalb Lebensjahrzehnten in Los Angeles: Zeiten, denen die beiden folgenden, diese Edition abschließenden Bände gewidmet sein werden. Auch in theoretischer Hinsicht kann die Chicagoer Zeit als eine Zeit des Übergangs, der Vorläufigkeiten gesehen werden. Es werden zum einen Projekte hier fortgesetzt und zum Teil beendet, deren Grundlagen auf die Wiener und Prager Jahre zurückgehen: das betrifft vor allem beinahe Carnaps gesamtes Werk zur Semantik und Logik – einschlägige Arbeiten werden nach den Chicagoer Jahren nurmehr im Bereich der Modallogik fortgeführt. Ebenfalls in Chicago abgeschlossen werden Carnaps Beiträge zur Einheitswissenschaft, zum Physikalismus und zur Protokollsatzdebatte. Dagegen rückt, basierend auf Vorarbeiten aus der Wiener Zeit, in den 1940er-Jahren das Thema der empirischen Bestätigung und der induktiven Logik ins Zentrum von Carnaps theoretischen Arbeiten: das Hauptresultat Logical Foundations of Probability erscheint noch in der Chicagoer Zeit, aber die Arbeit an einer Fortsetzung dieses Buches beschäftigt Carnap in den letzten beiden Lebensjahrzehnten immer weiter. Es gibt somit kein größeres Thema in Carnaps Werk, das exklusiv der Chicagoer Zeit zuzuordnen wäre.
Ähnliche Überlappungsverhältnisse lassen sich auch auf der mehr praktisch-politischen Seite von Carnaps Werk festmachen. So sind die ersten Chicagoer Jahre und auch die intensive Zeit an der Harvard University von Versuchen geprägt, die alten Netzwerke und Diskussionsrunden, vom Bauhaus bis zum Wiener Kreis, fortzuführen bzw. wiederzubeleben. Trotz vielversprechender Ansätze verlaufen alle diese Versuche letztlich im Sand. Dem korrespondiert die von Carnap geradezu als Schock erlebte Ablehnung der Wertphilosophie des Wiener Kreises durch weite Teile der US-amerikanischen Philosophie, was auch zu einer nachhaltigen Schwächung der antimetaphysischen Agenda des Wiener Kreises geführt hat.
Die so auf der theoretischen wie der praktischen Ebene sichtbar werdenden Spannungen lassen sich konkret im intellektuellen Netzwerk ablesen. Den treuen Gefolgsleuten Carl Gustav Hempel und Herbert Feigl und dem zwar notorisch komplexen aber doch immer loyalen Verhältnis zu Hans Reichenbach stehen mit teils offenen, teils versteckten Spannungen geladene Beziehungen zu wichtigen Bezugspersonen gegenüber: Otto Neurath, Bertrand Russell, Willard Van Orman Quine.
Auch auf der Ebene des Privatlebens und der persönlichen Entwicklung sind die Chicagoer Jahre insofern eine Zeit des Übergangs als die sich gerade in den ersten Jahren nochmal intensivierende Rolle Carnaps als weltzugewandter Zeitgenosse, energetischer Lehrer, Workaholic und unermüdlicher Netzwerker nach und nach einem zurückgezogeneren Leben weichen: erzwungen durch die von Carnap selbst später als neurotisch identifizierte, manchmal wochen- und monatelange Bettlägrigkeit, aufgrund von Rückenschmerzen bzw. der Angst vor diesen. Viele der so in Chicago in Theorie und Praxis gewundenen Knoten lösten sich erst später in den Jahren in Princeton und Los Angeles – oder werden in Carnaps erfolgreich absolvierter Psychoanalyse zerhaut.
Als Gelenkstelle in den hier abgedeckten gut eineinhalb Jahrzehnten kann der Zeitpunkt des Kriegeintritts der USA im Dezember 1941 (der Angriff der Japaner auf Pearl Harbor fand am 7. Dezember statt) gesehen werden. Die Zeit davor kuliminert bei Carnap in einem akademischen Jahr in Harvard, in dem er nochmal als der große Netzwerker und unermüdliche Diskutant in diversen Zirkeln auftritt. Danach ziehen sich die Carnaps über weite Strecken in das 1942 gefundene Domizil in Santa Fe zurück, bevor sich Carnap, markiert durch das Kriegsende und die 1946 endlich erfolgte fixe Anstellung, in Chicago konsolidiert und bis in die frühen 1950er-Jahre einen kreativen Lebensrhythmus zwischen Metropole und ländlicher Zurückgezogenheit etabliert.
Carnaps Chicagoer Jahre waren in einer oft nicht auf den ersten Blick sichtbar werdenden Weise von der Katastrophe des zweiten Weltkriegs überschattet. In Carnaps Leben haben die europäischen Ereignisse vor allem als sinnentleerter Tiefpunkt ihren Niederschlag. Die düsteren Farben in die er in seiner Autobiografie die Zeit in Chicago schildert (siehe Abschnitt 1.1.2) sind vor allem durch die nachhaltig dunkel erlebte Kriegszeit entstanden. Zwar war auch die manchmal dogmatische und ignorante Haltung der Chicagoer Kollegen für ihn ein Problem, aber das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in den sechzehneinhalb Jahren, in denen Chicago Carnaps Lebensmittelpunkt gebildet hat, zumal vor und nach den Kriegsjahren, auch intensive, produktive und in ziemlich jeder Hinsicht positiv erlebte Zeiten gab. Indem das Tagebuch diese Epochen sichtbar werden lässt konterkariert es in Teilaspekten das von Carnap in der Autobiografie gezeichnete Bild. Hinzu kommen als im Rückblick negativ färbende Faktoren, neben der teils hostilen und unproduktiv metaphysischen Haltung der Chicagoer Universitätsszene, die oben angesprochenen in diesen Jahren geknüpften und erst nachträglich sichtbar gewordenen Knoten eines sich im Neurotischen verstrickenden Lebens: indem Carnap die Zeit in Los Angeles als Befreiung und eine Art von Wiedergeburt erlebt, werden die Jahre davor von ihm stärker negativ gesehen als sie im unmittelbaren Erleben des Tagebuchs erscheinen. Es geht in diesem Abschnitt also darum, das kontrastarme Bild zu beleben, das Carnap selbst in der Retrospektive von den Chicagoer Jahren zeichnet.
Hier auch die Zitate aus der Autobiografie
In diesem Kapitel sollen die von Carnap in der Chicagoer Zeit finalisierten theoretischen Projekte diskutiert werden. Zu den auch danach weiter entwickelten Arbeiten – induktive Logik, Modallogik, Entscheidungstheorie, Wissenschaftstheorie, Sprachphilosophie – werden einschlägige Exkurse in den späteren Bänden dieser Edition geliefert. Carnap hat folgende Arbeiten in der Chicagoer Zeit insofern abgeschlossen als er in späteren Jahren dazu keine wesentlichen neuen Beiträge mehr geliefert hat: seine Arbeiten zur Logik und Semantik, mit Ausnahme der Modallogik (Abschnitt 2.1) sowie die Arbeiten zum Themenbereich Physikalismus, Einheitswissenschaft und Protokollsatzdebatte, mit Ausnahme der wichtigen späteren Arbeiten zur theoretischen Sprache der Wissenschaft (Abschnitt 2.2).