\tboneA{9} \chapter{Einleitung} \section{Zur Edition \textit{Schriften aus dem Nachlass von Rudolf Carnap}} %\markright{A\quad Zur Edition \textit{Schriften aus dem Nachlass von Rudolf Carnap}}%\thispagestyle{plain} Rudolf Carnap (1891\hbox{--}1970) war einer der wichtigsten Vertreter des Wiener Kreises und des Logischen Empirismus und damit Schlüsselfigur sowohl der europäischen Philosophie der Zwischenkriegszeit als auch der amerikanischen analytischen Philosophie der Nachkriegszeit. Dies, obwohl seine Schriften vor allem an ein akademisches Fachpublikum gerichtet waren. Mit dem Fokus auf streng wissenschaftliche Bearbeitung philosophischer Probleme, in seinem Fall unter Verwendung der mathematischen Logik, steht Carnap für eine Professionalisierung der Philosophie, die für die analytische Philosophietradition insgesamt charakteristisch ist. Dabei verliert die Philosophie zwar ihre Rolle in der Öffentlichkeit, sie hört deshalb aber nicht auf, praxisrelevant zu sein. So auch bei Carnap, wobei die politisch-praktische Seite seiner Philosophie erst vor dem Hintergrund der in den letzten Jahrzehnten begonnenen historischen Aufarbeitung sichtbar wird, die sich auf alle Aspekte seines Werkes stützt, unter Einschluss von Dokumenten aus dem Nachlass. Die Philosophie Carnaps kann, in ihren hauptsächlich veröffentlichten Erscheinungsformen der \textit{formalen Philosophie}, als Sammlung von hochspezialisierten philosophischen Werkzeugen aufgefasst werden, denen keine Erläuterungen über die intendierte Verwendung beigegeben sind. Grund für diese puristische Gestalt von Carnaps Werk ist sein neusachlicher und radikal moderner Stil, den er in den 1920er-Jahren unter dem Einfluss des Wiener Kreises entwickelte. ,,Auch wir haben ,Bedürfnisse des Gemüts` in der Philosophie``, wie Carnap betont, ,,aber die gehen auf Klarheit der Begriffe, Sauberkeit der Methoden``,\fnE{Carnap, \textit{Der logische Aufbau der Welt},~VI.} nicht aber auf einen ,,Ausdruck des Lebensgefühls`` in einer poetisch-expressiven Sprache.\fnE{Vgl. Carnap, \textit{Überwindung der Metaphysik}, 238\hbox{--}241.} Carnaps Ausdrucksweise war, im Beruflichen wie im Privaten, sachlich und rational. In manchen eher randständigen Publikationen und privaten Texten, wie den Briefen und Tagebüchern, findet Carnap aber durchaus klare Worte für die hinter den von ihm vorgeschlagenen logischen Konstruktionen liegenden moralischen, ästhetischen und politischen Wertsetzungen. Um diese Motive zu erschließen, ist es daher unerlässlich, neben den wenigen publizierten Schriften, in denen diese erkennbar sind, die nachgelassenen Texte Carnaps zu studieren.\pagebreak~-- \tboneA{10} Da ist zunächst die Korrespondenz: Hervorzuheben sind vor allem die Briefwechsel mit anderen dem Logischen Empirismus nahe stehenden Denkern, wie Otto Neurath, Moritz Schlick, Hans Reichenbach, Herbert Feigl, Carl Gustav Hempel, W.\,V.\,O.~Quine, Richard Jeffrey; aber auch die frühen Korrespondenzen mit Intellektuellen aus dem Umfeld der Dilthey-Schule, wie dem Pädagogen Wilhelm Flitner und dem Kunsthistoriker Franz Roh. Dann bestimmte Vortragsmanuskripte, wie etwa die zu Carnaps 1929 am Bauhaus gehaltenen Vorträgen oder zu den antimetaphysischen Vorträgen der frühen 1930er-Jahre.\fnE{Vgl. etwa ,,Von Gott und Seele`` (\href{http://doi.org/10.48666/807588}{RC~110"~07"~28}), ,,Wissenschaft und Leben`` (\href{http://doi.org/10.48666/807581}{RC~110"~07"~49}), ,,Philosophie~-- Opium für die Gebildeten`` (\href{http://doi.org/10.48666/807585}{RC~110"~08"~17}).} Vor allem aber sind, für die Sichtbarmachung praktischer Motive, Carnaps Tagebücher relevant. Die mit diesem Band beginnende Edition \emph{Schriften aus dem Nachlass von Rudolf Carnap} setzt sich die Publikation der Tagebücher, des Briefwechsels, der Manuskripte und Vorlesungen Carnaps zum Ziel, begleitet von einer Online-Edition der Faksimiles des Carnap-Nachlasses und der Pdfs der als Open-Source-Edition angelegten Druckedition auf \href{https://valep.vc.univie.ac.at/}{VALEP}. (Zu den formalen Richtlinien und dem Gesamtplan der Edition siehe den editorischen Anhang~\refcn{sec:app.A} dieses Bandes.) Dieses Vorhaben steht in enger Beziehung zu der die veröffentlichten Schriften umfassenden, zweisprachigen Gesamtausgabe \textit{The Collected Works of Rudolf Carnap} bei Oxford University Press.\fnE{Siehe den ersten Band: Carnap, \emph{Early Writings}.} Parallel zur Nachlassedition ist im Felix Meiner Verlag auch eine direkt von den \emph{Collected Works} abgeleitete deutschsprachige Studienausgabe von Carnaps veröffentlichten Schriften geplant. Viele der hier publizierten Texte werden in dieser Ausgabe erstmals zugänglich gemacht. Bis vor wenigen Jahren waren die Tagebücher und die privaten Korrespondenzen für die Forschung gesperrt. Überdies sind viele der im Nachlass zu findenden Texte Carnaps (die Tagebücher und ein Großteil der Manuskripte) in Kurzschrift verfasst (vgl. Editorischer Anhang~\hyperref[kurzschrift]{B.2}). Transkriptionen dieser Texte liegen bislang nur zu einem kleinen Teil vor und werden in dieser Edition erstmals systematisch bereit gestellt und textkritisch abgesichert. Vor dem Hintergrund der oben formulierten Arbeitshypothese über die Rolle der unpublizierten Schriften Carnaps soll eine Neubewertung seines Werkes eingeleitet werden. Neue Gesichtspunkte für die Erforschung der Geschichte des Wiener Kreises und des Logischen Empirismus sollen erschlossen werden. Namentlich die hier begonnene Edition der Tagebücher ist jedoch über den engeren philosophiehistorischen Kontext hinaus von Bedeutung, als das zwanzigste Jahrhundert insgesamt repräsentierendes (kultur)historisches Dokument.\pagebreak \tboneA{11} \section{Zu den Tagebüchern Carnaps} %\markright{Zu den Tagebüchern Carnaps}%\thispagestyle{plain} Knapp 4.500~kurzschriftliche Seiten, auf denen über sechs Jahrzehnte des zwanzigsten Jahrhunderts dokumentiert sind: Die Tagebücher Carnaps stellen ein historisches Dokument von beeindruckendem Umfang dar (vgl. Editorischer Anhang~\refcn{sec:app.B}). Die ersten Einträge sind 1908, in Carnaps Wuppertaler Gymnasialzeit entstanden (TB~1). Es folgen in den Jahren des Studiums Carnaps in Jena und Freiburg einige verstreute Fragmente, Reisetagebücher sowie die umfangreichen tagebuchartigen Aufzeichnungen von Briefen Carnaps an seine Jugendfreundin Tilly Neovius (TB~3). Den Ersten Weltkrieg hat Carnap in einem hier ca.~200~Seiten umfassenden ,,Kriegstagebuch`` dokumentiert (TB~10\,\hbox{--}\,TB~19). Ab 1920, in den in voraussichtlich vier weiteren Bänden vorzulegenden Tagebuchteilen, stehen Carnaps wissenschaftliche Aktivitäten im Zentrum. Im Zusammenhang damit dokumentieren die Tagebücher Carnaps Leben in einem bestimmten \textit{intellektuellen Kollektiv}, das sich zunächst, von 1926 bis 1935, um den für Carnaps geistige Entwicklung entscheidenden Wiener Kreis gruppiert, dann, nach der Emigra\-tion und bis zu Carnaps Tod im Jahr 1970, von der internationalen Bewegung des Logischen Empirismus und der analytischen Philosophie gebildet wird. Die Tage\-buchaufzeichnungen repräsentieren so, zunächst fragmentarisch, ab 1920 so gut wie lückenlos, über sechs Jahrzehnte von Carnaps Leben. Sie sind wichtig als autobiografisches und philosophiehistorisches Dokument. Darüber hinaus ist die kulturhistorische Dimension hervorzuheben, legen die Tagebücher doch, am Beispiel der vom Bruch der Emigration geprägten Karriere eines bedeutenden Wissenschaftlers, einen Schnitt durch zwei Drittel des 20.~Jahrhunderts und liefern damit eine alltagsgeschichtliche Fallstudie von bemerkenswerter Dimension. \labelcn{sachlich}Carnaps Tagebücher protokollieren das Tagesgeschehen aus der Perspektive des objektiven (Selbst-)Beobachters. Sie beschreiben, was der Autor im Tagesverlauf getan und erlebt hat. Die Tagebücher des reifen Carnap (ab Mitte der 1920er-Jahre) schildern das Leben in allen Facetten, von der wissenschaftlichen Diskussion bis zum Kinobesuch, vom Kaffehaustratsch bis zum Sex, vom politischen Ereignis bis zu den Schmerzen des Alltags, Schlaflosigkeit und Medikamentenkonsum. Die Perspektive ist jedoch stets die der positivistisch gedeuteten lebensweltlichen Erfahrung. Das heißt, es wird nicht einfach das ,Eigenpsychische` geschildert, sondern dessen ,fremdpsychischer` Anteil, alles also, was auch einem dritten Beobachter am Erleben Carnaps zugänglich wäre (zur Rolle des Eigen- und Fremdpsychischen in Carnaps Philosophie vgl. die Einleitung zum zweiten Band dieser Edition). Nie wird ein Ereignis anders geschildert als aus der Perspektive des objektivierten eigenen Erlebens. Im Tagebuch tritt zu diesem Erleben des Tages keine zweite Ebene des Reflektierens oder Entwerfens hinzu. Ge\-\tboneA{12}fühle und Werthaltungen kommen nur insofern zur Sprache, als bestimmte \emph{Äußerungen} von Gefühlen und Werthaltungen, so sie im Tagesverlauf stattgefunden haben, erwähnt werden. Das Tagesgeschehen wird \emph{protokolliert}, aber es wird nie darüber \emph{reflektiert}. Die Tagebücher enthalten keine Bekenntnisse, Beichten, Reflexionen oder Meinungsäußerungen. Historische Ereignisse kommen nur dann zur Sprache, wenn sie im Tagesgeschehen selbst eine Rolle gespielt haben, etwa wenn ein Heeresbericht im Kreis der Soldaten diskutiert wird; wenn Carnap den Brand des Justizpalastes oder die Studentenunruhen in Wien beobachtet; wenn eine Hitlerrede im Radio angehört wird. Philosophische Gedanken und Theorien spielen im Tagebuch nur indirekt eine Rolle. Zum einen, indem über die Arbeit an philosophischen Schriften berichtet wird, meist nur unter Angabe des Arbeitstitels, gelegentlich unter Hinzufügung des gerade behandelten Abschnittes oder Themas. Zum anderen, indem philosophische Diskussionen protokolliert werden. Philosophische Gedankengänge des Autors kommen nur dadurch zur Sprache, dass sie als Argumente in einer beschriebenen Debatte angeführt werden.{\looseness-1\par} Die Tagebücher stellen somit keinen Bruch mit Carnaps eingangs erwähntem radikal modernen Stil dar, indem sie keine Freiräume schaffen für emotiven Diskurs. Sie sind, genau in dem technischen Sinn von Carnaps Auffassung über den ,,Ausdruck des Lebensgefühls`` darin, keine Dichtung, auch wenn sie in einem anderen Sinn als neu-sachliche (oder nach-expressionistische) Kunstform aufgefasst werden können (siehe Abschnitt~\refcn{sec:intro.B.1}). Nichtsdestoweniger stellen die Tage\-bücher eine wichtige Ergänzung des publizierten Werkes dar. So kommen ,,praktische Entscheidungen``, Aussagen über moralische und politische Präferenzen und deren Kontext, in den Tagebüchern, anders als im wissenschaftlichen Werk, sehr wohl zur Sprache, wenn auch nur in der Gestalt der Protokollierung von Diskussionen, Aussagen, Entscheidungen und nicht auf der von Carnap vermiedenen Meta-Ebene der expressiven Reflexion. Die Tagebücher liefern unerlässliche Informationen zu Entstehung, Hintergrund und Motivlage von Carnaps Werk. Man kann sie als kontextualisierende Erläuterungen zu seinen publizierten Schriften lesen. In engem Zusammenhang mit dieser auf Carnaps philosophisches Werk bezogenen Perspektive erfüllen die Tagebücher eine wichtige Rolle als Dokumentation seiner intellektuellen Biografie und zur Geschichte des Wiener Kreises und des Logischen Empirismus insgesamt. Hier stellen sie eine einzigartige Primärquelle dar. Das gilt besonders für die Zeit Carnaps im Wiener Kreis von 1926 bis 1935. In keiner anderen literarischen Quelle wird ein so lebendiges Bild der Aktivitäten des Wiener Kreises gezeichnet.\fnE{Von Carnaps Tagebüchern hat bereits die klassische Dokumentation Stadler, \emph{Studien zum Wiener Kreis} profitiert. Ebenfalls um das (oft unsichtbar bleibende) Zentrum der Tagebücher herum aufgebaut sind neuere Dokumentationen wie Limbeck-Lilienau und Stadler, \emph{Der Wiener Kreis}, Sigmund, \emph{Exact Thinking in Demented Times} und Edmonds, \textit{The Murder of Professor Schlick}. Vgl. die Passagen zum Wiener Kreis in Dawson, \emph{Logical Dilemmas} sowie Friedman, \emph{A~Parting of the Ways} (zu diesem Text aber auch die Bemerkungen unten, S.\,\pagerefcn{herrigelversusheidegger}\,f.).} Die Tagebücher aus der Zeit des Wie\-\tboneA{13}ner Kreises sind für die einschlägige historische Forschung in Teilen schon seit den 1980er-Jahren verfügbar gewesen, wenn auch fragmentarisch und in zum Teil unzulänglicher Transkription (vgl. unten, S.\,\pagerefcn{herrigelversusheidegger}\,ff.). Mit der Transkription der Tagebücher aus der Zeit nach 1935, also nach Carnaps Emigration in die USA, wurde systematisch erst jüngst, im Rahmen des mit diesem Band beginnenden Editions\-projektes, begonnen~-- zum Redaktionsschluss dieses Bandes sind die Teile bis 1960 transkribiert. Die Bedeutung dieser späten, etwa zwei Drittel des gesamten Tagebuchbestandes umfassenden Teile kann deshalb derzeit nur erahnt werden. Feststehen dürfte aber, dass es wenige vergleichbare Quellen gibt, die über die Debatten im Logischen Empirismus in den USA bis zum Ende der 1960er-Jahre so umfassenden Aufschluss geben. Die Geschichte des Logischen Empirismus wird auf der Grundlage dieses neuen Quellenmaterials zu ergänzen, wenn nicht neu zu schreiben sein.\fnE{Beispiele für weitere wichtige Quellen sind die Briefwechsel anderer logicher Empiristen, \mbox{etwa} die umfassenden Berichte von W.\,V.\,O.~Quine in den Briefen an seine Familie. Die Erschließung dieser Quellen hat gerade erst begonnen. Vgl. etwa Verhaegh, \textit{Working from Within}. Ein wichtiges Ziel der parallel mit dieser Edition entwickelten Datenbank \href{https://valep.vc.univie.ac.at/}{VALEP} wird die Zusammenführung der Tagebücher mit historischen Quellen wie diesen sein.} Selbst wenn die so umrissene dokumentarische Perspektive für die philosophiehistorische Forschung den wichtigsten Gesichtspunkt der Tagebücher darstellt: ihre Bedeutung als historische Primärquelle erschöpft sich nicht darin. Gerade in dem hier vorgelegten ersten Band der Tagebücher spielt die philosophiehistorische Perspektive eine eher untergeordnete Rolle. Carnap hat die Entscheidung für eine akademische Karriere erst recht spät, im Jahr 1920, getroffen, die Annäherung an die Wiener und Berliner Szene um Moritz Schlick und Hans Reichenbach erfolgte ab 1922. Nach Wien übersiedelte Carnap erst 1926. Deshalb dokumentieren die in diesem ersten Band versammelten Teile der Tagebücher, die hier immerhin gut 400~Seiten umfassen, Aspekte in Carnaps Leben, die mit der akademischen Philosophie nur am Rande etwas zu tun haben. Im Zentrum stehen vielmehr zum einen die Aktivitäten Carnaps in der deutschen Jugendbewegung, zum anderen seine Erfahrungen im Ersten Weltkrieg.\fnE{Beide Komplexe wurden in der einschlägigen Forschung bislang wenig berücksichtigt. Vgl. aber Carus, ,,Carnap's Intellectual Development``, 20\hbox{--}23, Werner\pagebreak, ,,Freundschaft|Briefe|Sera-Kreis`` sowie den im Umfeld der vorliegenden Edition entstandenen Sammelband Damböck et~al., \textit{Logischer Empirismus, Lebensreform und die deutsche Jugendbewegung}.} Aber auch die danach kommenden, die fünf Jahrzehnte von 1920 bis 1970 umspan\-\tboneA{14}nenden Tagebücher erfüllen in keiner Passage \emph{ausschließlich} die Funktion einer philosophiehistorischen Dokumentation. Carnaps Tagebücher können daher in einem allgemeineren, aber, wie sich zeigen wird, mit dem philosophiehistorischen eng verknüpften \emph{kulturhistorischen} Sinn gelesen werden, als \emph{on-the-fly} erarbeitete dokumentarische Erzählung. Die sich aus dem Gesagten ergebenden Gesichtspunkte der Tagebücher Carnaps werden im Folgenden eingehender behandelt. Zunächst werden sie in ihrem Status als Literatur untersucht, wobei im Zentrum der von Carnap in den 1920er-Jahren erarbeitete neusachliche Stil steht (Abschnitt~\refcn{sec:intro.B.1}). Dann wird als zentrales philosophisches Element der Tagebücher deren Funktion als Dokument radikal moderner Lebensreform und nonkognitivistischer Wertauffassung präsentiert (Abschnitt~\refcn{sec:intro.B.2}). Schließlich werden die Tagebücher Carnaps zu denen seiner Zeit\-genossen in Beziehung gesetzt, wobei Carnaps radikal moderne Haltung weiteres Profil dadurch erhält, dass sie sich als Alternative auffassen lässt zu Einstellungen wie denen von Ludwig Wittgenstein oder Martin Heidegger, in denen die Moderne abgewiesen wird (Abschnitt~\refcn{sec:intro.B.3}). \subsection{Die Tagebücher als Aneignung einer neusachlichen Kunstform}\labelcn{sec:intro.B.1} Um Carnaps Tagebücher sprachlich angemessen einzuschätzen (vgl. auch die Bemerkungen zu Carnaps Verwendung der Kurzschrift im editorischen Anhang,~\hyperref[kurzschrift]{B.2}), ist die grundsätzliche Frage der literarischen Qualität seiner Texte zu stellen. Dies gilt umso mehr, als Carnap bis heute als Antithese gesehen wird zu den literarisch anspruchsvollen ,,Dichterphilosophen``, von Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche und S\o ren Kierkegaard bis Wittgenstein. Diese Einschätzung hat etwas für sich: Es ist eben das Charakteristische an Carnaps Ausdrucksweise, dass sie sich der Expressivität verweigert, die bei den sogenannten Dichterphilosophen im Zentrum steht. Bloß bedeutet diese Haltung nicht zwangsläufig auch, dass Carnaps Texte ohne literarischen Anspruch sind.{\tolerance500\par} Die frühen Tagebücher, bis Mitte der 1920er-Jahre, sind, mit Ausnahme der Tilly-Briefe (TB~3) und der Kriegstagebücher (TB~10\,\hbox{--}\,TB~19), in denen umfangreichere Schilderungen zu finden sind, eher im Telegrammstil gehalten. Es geht wie in den Tagebüchern Goethes, Albrecht Dürers oder Lion Feuchtwangers um Stichworte, die Tagesereignisse protokollieren. Einen literarischen Anspruch erheben diese bloß mnemotechnischen Notizen nicht\pagebreak. Um die frühen Tagebücher \tboneA{15} als Äußerungen von Carnaps Stil richtig einzuschätzen, ist es daher wichtig, jene raren Stellen herauszugreifen, die mit einer erkennbaren schriftstellerischen Intention formuliert sind. Das gilt für die tagebuchartig aufgezeichneten Briefe an Tilly Neovius~(TB\,3). Auch die Beschreibung des jugendbewegten Sommers 1912 (Tagebuch 5) ist ambitioniert. Vgl. beispielsweise die Erzählung über die ,,Blutsbrüderschaft`` mit Carnaps späterer erster Frau Elisabeth Schöndube am 31.\,VII.\,1912: \begin{quotation} Sie reicht ihren rechten Arm. Ich ziehe mit der krummen Spitze einen Schnitt, immer wieder, fest hinein. Sie ist tapfer und hilft die Haut halten, bis Blut kommt. Das küss ich ab. [\ldots]~-- Mir saust's durch den Kopf: Jetzt Mut, entscheiden! [\ldots] Jetzt einmal stark sein, nicht leicht~-- Genuss~-- zufrieden. Atemholen. ,,So, jetzt müssen wir uns auch küssen.`` Sie gibt ihr Gesicht und lässt sich küssen. [\ldots] Wir küssen uns wieder. Sie lehnt an mir. Oh, wir zwei. \end{quotation} \noindent Markant ist auch die Darstellung der ,,Kämpfe am Winterberg`` vom 5. bis 9.\,V.\,1917 (Tagebuch 18), hier die Passage, die Carnaps Verwundung schildert:{\tolerance500\par} \begin{quotation} Das wahnsinnig dichte Pfeifen um unsre Köpfe hat etwas nachgelassen, drum wagen wir alle, den Kopf herauszustecken und sehen hellblaue, lange Franzosenröcke und zwar von hinten. Und da schießt natürlich alles wieder mit Feuereifer.~[\ldots] Plötzlich ein Schlag vor den Kopf, ich taumele zurück, Blut läuft mir übers Gesicht. Ich nehme den Stahlhelm ab: Er hat ein hand\-langes, zackig gerissenes Loch. Während ich in Eile mein Verbandpäckchen auspacke, schwebt mir ein Bild vor, das ich vorgestern gesehen: Ein sterbender Mann, seitlich auf Gepäck oder Leichen liegend, sodass der Kopf frei hängt, aus einem Loch in der Schläfe strömt das hellrote Blut wie ein Brünnlein herab~[\ldots]. Würde ich auch bald so liegen? \end{quotation} \noindent Erst in den 1920er-Jahren beginnen die Tagebücher das Leben in dem intellektuellen Kollektiv Carnaps zu dokumentieren, indem immer mehr die präzise Schilderung von Gesprächen in den Vordergrund tritt sowie im Zusammenhang damit eine der Neuen Sachlichkeit nahestehende Ästhetik kultiviert wird. Diese stilistische Entwicklung fällt zeitlich zusammen mit der Übersiedlung nach Wien und dem Eintritt Carnaps in den Wiener Kreis um Moritz Schlick und Otto Neurath sowie mit den durch Franz Roh vermittelten Kontakten zur Bauhaus-Szene um Sigfried Giedion, Carola Giedion-Welcker, Lucia Moholy und László Moholy-Nagy. Diese Strömungen konvergieren bei Carnap nicht nur in der Philosophie des \textit{Aufbau}, sondern auch in einer neuen literarischen Ausdrucksweise, \tboneA{16} die er etwa zwischen 1925 und 1935 entwickelt und die verblüffend nahe steht zu der von Roh als Chronist und Propagandist mitgeprägten Kunstform der Neuen Sachlichkeit bzw. des ,,Nach-Expressionismus``, wie sie von Roh selbst zunächst bezeichnet wurde. Roh hat in seinem stilprägenden Manifest gleichen Titels Carnap, wenn auch ohne Namensnennung, als charakteristischen Typus aufgenommen: der ,rationale Mensch`, der ,Fugenschreiber der Logik`, der ,ausdrucksbewußte Ingenieur` und ,Maschinenbejaher`, ,,womit ein neuer, synthetischerer Typus von Praktiker geschaffen wäre``.\fnE{Vgl. Roh, \emph{Nach-Expressionismus}, 16. Die hier präsentierte Interpretation Carnaps geht zurück auf Dahms, ,,Neue Sachlichkeit in the Architecture and Philosophy of the 1920s`` und ,,Rudolf Carnap: Philosoph der Neuen Sachlichkeit``. Vgl. Damböck, ,,Deutscher Empirismus``, 209\hbox{--}213.} Man kann, Rohs Charakterisierung folgend, das Spröde und ,Ingenieurhafte`, das Carnaps publizierte Texte wie seine Tagebücher auszeichnet, als eigene literarische Qualität interpretieren. Während die Dichterphilosophen und namentlich der von Carnap selbst in diesem Kontext hervorgehobene Nietzsche, dadurch die Grenzen zwischen Philosophie und Dichtung einreißen, dass sie ihre philosophischen (metaphysischen) Ideen in eine expressive Sprache packen und so einen poetischen ,Ausdruck des Lebensgefühls` ermöglichen, zeichnet sich der von Carnap eingeschlagene Weg eben durch die von ihm seit den späten 1920er-Jahren bewusst gewählte neusachliche Sprache aus, in der eben dieser expressive Ton nicht angeschlagen wird, was wiederum, wie sich im nächsten Abschnitt zeigen wird, in einem engen Zusammenhang mit Carnaps nonkognitiver Auffassung von Werten steht: in neusachlicher Sprache werden Werte zwar \textit{artikuliert}, kaum aber in der Verwendung emotiv-expressiver Klangfarben \textit{zu legitimieren} gesucht.\fnE{Vgl. Damböck, ,,Die Entwicklung von Carnaps Antimetaphysik``, 42\hbox{--}49, wo argumentiert wird, dass der Carnap in ,,Überwindung der Metaphysik`` (238\hbox{--}241) vorschwebende poetische ,Ausdruck des Lebensgefühls` eine Referenz darstellt zur \emph{expressionistischen} Literatur (Nietzsche, Hans Freyer), die Carnap zwar geschätzt, aber eben nicht selber vertreten hat.} Den Stellenwert als ,ausdrucksbewussten Ingenieur` hat sich Carnap im Wiener Kreis erarbeitet und in den Augen seiner Freunde und Wegbegleiter zeitlebens behalten. Wenn Carnap, wie von Herbert Feigl beschrieben, ,,his logical constructions in the manner of an engineer describing the workings of a machine`` erklärt,\fnE{Feigl, \emph{Inquiries and Provocations},~61\,f.} dann entspricht dies, in affirmativer Wendung, dem Menschen- und Künstlertyp mit ,,Sinn für die Expressionskraft der Natur``, den Roh beschreibt.\fnE{Roh, \emph{Nach-Expressionismus}, 16,~48.} Entscheidend für die Ausprägung seines neusachlichen Stils ist also nicht bloß die in den frühen Tagebüchern zu findende Verwendung eines (hier literarisch neutralen, weil zweckgebundenen\pagebreak) Telegrammstils und auch nicht die seit sei\-\tboneA{17}ner Kindheit sichtbare Neigung Carnaps zu einer sachlich reduzierten und präzisen Ausdrucksweise (sosehr beides die spätere Entwicklung begünstigt haben mag). Es geht viel mehr darum, eine bewusst auf das positive Wissen beschränkte Ausdrucksweise zu wählen, die dennoch alle Facetten des Lebens beschreibend erfasst. Eine Liste im Stil von ,9\textsuperscript{h} Frege, Mittags Spaziergang, Abends noch gut gegessen` kann diese Funktion nicht erfüllen, weil das Leben auch für den empiristisch denkenden Menschen nicht bloß den Charakter einer Liste oder eines Kochrezeptes aufweist. Es geht darum, die wesentlichen Dinge zu identifizieren und beschreibend zu erfassen. Dafür muss man bewusst auswählen und sich die Seiten eines Ereignisses vergegenwärtigen, die das Wesentliche ausmachen. Zu diesem durchaus klassischen schriftstellerischen Element, das in der neuen Sachlichkeit ja nur dadurch zu einem besonderen Stil wird, dass es auf die innere, expressive und reflektierende Perspektive verzichtet (also auf all das am ,Eigenpsychischen`, das dem ,Fremdpsychischen` unzugänglich bleibt), tritt bei Carnap ein zweiter Aspekt hinzu, der mit dem jugendbewegten Kollektivdenken und mit der sozialistischen Einstellung im ,linken Flügel` des Wiener Kreises\fnE{Zur Flügelunterscheidung im Wiener Kreis vgl. Uebel, ,,Carnap, the Left Vienna Circle, and Neopositivist Antimetaphysics``.} zu tun haben dürfte, nämlich die Auffassung von philosophischen und wissenschaftlichen Theorien als Produkte einer Gruppe und weniger als individuelle Geistesblitze. Das für Carnap typische ,Wir`, das hier nicht einen gängigen Gelehrtenjargon repräsentiert, sondern die echte Bezugnahme auf eine im Hintergrund stehende Gruppe, findet sich, inspiriert durch Otto Neurath, erstmals im Manifest des Wiener Kreises. Carnap ist ihm später treu geblieben und verwendet es auch im Tagebuch. Ideen werden im Tagebuch als Produkt eines gemeinsamen Agierens sichtbar gemacht und nicht als geniale Einzelleistungen.\fnE{Vgl. Verein Ernst Mach, \emph{Wissenschaftliche Weltauffassung}. Zur Kontextualisierung des Wir-Narra\-tivs in der Jugendbewegung siehe Werner, ,,\foreignlanguage{english}{Youth and Politics at the End of the Great~War}``.} Wie gelangte Carnap zu diesen Stilelementen? Die Hauptrolle hat sicher die persönliche Bekanntschaft mit dieser ästhetischen Haltung Nahestehenden gespielt, also Roh, die Bauhäusler, Neurath und der Wiener Kreis. Aber auch neusachliche Literatur hat Carnap gelesen, so Lion Feuchtwangers \textit{Erfolg} (LL~2091)~-- das Buch war ihm so wichtig, dass er es vor einem Besuch im nationalsozialistischen Deutschland in Salzburg deponierte und nachher extra wieder dort abholte~-- (TB~29.\,VII.\,1933\diaryref{TB-29-VII-1933}), Erich Kästners \textit{Fabian} (LL~2055) und ein nicht näher identifiziertes Werk von Alfred Döblin (TB~12.\,I.\,1931\diaryref{TB-12-I-1931}). Vor allem aber ist hier Rudolf Brunngrabers \textit{Karl und das zwanzigste Jahrhundert} (LL~2066) \pagebreak zu nennen, da \tboneA{18} Brunngrabers neusachlicher Stil maßgeblich von dessen Mitarbeit in Neuraths \textit{Gesellschaft- und Wirtschaftsmuseum} geprägt war.\fnE{Vgl. Sandner, \textit{Otto Neurath}, 8, 176.} Carnaps durch die Wiener Zeit geprägter Literaturgeschmack hatte eindeutig neusachliche Züge. Wie äußert sich nun der in den 1920er- und 1930er-Jahren erarbeitete neusachliche Stil Carnaps in den Tagebüchern? Beschreibungen verzichten auf emphatische Adjektive bzw. geben Wertungen nur insofern wieder, als sie authentischer Teil der geschilderten Erlebnisse sind. Beispielsweise beschreibt Carnap eine zum Teil konfliktbeladene Begegnung mit Neurath wie folgt: \begin{quotation} \textonehalf{} zu \uline{Neuraths}, später auch Ina. Neuraths Einteilung: die, deren Fehler stets zur absolutistischen Seite gehen; die, deren Fehler zur relativistischen~[\ldots] und die pendelnden. Er rechnet Schlick und mich zur ersten Art und ist hocherfreut, dass ich es zugestehe. Über seine Veröffentlichungen und die geplante neue Broschüre. Er ist sehr betroffen, dass ich ihm sage, er solle lieber organisieren usw., aber nicht selbst schreiben. Das sei eine ,,Rohheit``.\newline (TB~16.\,VII.\,1933\diaryref{TB-16-VII-1933}) \end{quotation} \noindent In keinem Fall enthalten Schilderungen emotionaler Situationen nachträgliche Reflexionen oder Bewertungen des Autors. So auch die Beschreibung einer offenbar hochemotionalen Begegnung mit Broder Christiansen, wenige Monate nach der nationalsozialistischen Machtübernahme: \begin{quotation} 2\textsuperscript{h} kommt \uline{Christiansen}. Er fragt nach der politischen Lage in Prag und Wien. Ich gebe sachlich Auskunft. Später komme ich zu ihm und frage, ob er von den bisherigen Maßnahmen enttäuscht oder befriedigt ist. Er: In der kurzen Zeit konnte nicht viel getan werden; aber was getan ist, damit sei er zufrieden. Ich: Das ist ja wirklich interessant, dass es einen gebildeten Menschen gibt, der Derartiges bejaht. Meine ganze Erbitterung, lange aufgespeichert, entlädt sich in dieser ironischen Bemerkung. Er gerät in Wut.~[\ldots] Über die ,,Greuel``; ob ich bestimmte Fälle wisse? Ja. Wie viele? Das sage ich hier nicht, er möge nach Prag kommen. Usw. Er schimpft über die Judenpresse, und dass meine Freunde ,,Juden oder wie Juden Denkende`` seien. Schließlich geh' ich hinaus und sage, es hat keinen Sinn, miteinander zu reden. Er ist noch im vollsten Affekt, beide sind wir sehr erregt. Elisabeth erzählt mir später, er habe ihr gesagt, sie solle mir ausrichten, auf meine ironische Bemerkung hin hätte er mir eigentlich eine herunterhauen sollen. (TB~6.\,VIII.\,1933\diaryref{TB-6-VIII-1933}) \end{quotation}\tboneA{19} \noindent Nach 1935 kultiviert Carnap seine Kunst, bei der Schilderung eines Tages das Wesentliche herauszuheben, ohne in Reflexion zu versinken, weiter. Kaum einmal gibt es standardisierte Auflistungen der Tagesspeisekarte, stattdessen wird Unwichtiges ausgeblendet. Ein ganzer Tag kann so auch einmal auf Gesprächsfetzen reduziert sein, häufig wird der Tag in Begegnungen und Diskussionen zerlegt, deren gelegentlich umfangreicher Inhalt in Klammern hinzugefügt wird. So sieht etwa die Schilderung eines ganzen Tages im Jahr 1949 aus: \begin{quotation} Noch etwas Gespräch mit Quine (über meine Gründe, für Intension und für höhere Variablen, weil nützlich. Ich erwähne Roh: Die Freunde verteidigen immer die vorletzte Phase gegen die Neuerung). 11\,h \uline{sie} [die Quines und Edward Haskell,~C.\,D.] \uline{fahren ab}. (Ina erzählt mir, was \uline{Haskell} über mich gesagt hat: im Gespräch mit Quine habe ich 5~$\times$ soviel Zeit genommen wie er! Mein Denken sei zu formal und abstrakt, kein Kontakt mit Gesellschaft und Realität; weltfremd; Hobby mit Handarbeit wäre nützlich; Inas Bezeichnung ,,\textit{gentle tyrant}`` wäre sehr passend. Ich hätte doch, in jüngerem Alter, einige Besprechungen mit Psychiater machen sollen (Quine habe das auch getan); ganze Analyse wäre nicht nötig.). (TB~9.\,IX.\,1949\diaryref{TB-9-IX-1949}) \end{quotation} \noindent Dieser Eintrag illustriert, wie in einem positivistisch formulierten Beobachtungsprotokoll die verschiedenen fremdpsychischen Perspektiven~-- hier etwa \mbox{Quine}, Edward Haskell, Ina und Rudolf Carnap~-- ineinander verwoben sind. Das Wesentliche des Tages, das im Tagebuch geschildert wird, versteht sich jedoch nicht souverän dem Schicksal des Schreibers übergeordnet. Zwar versucht Carnap einerseits die Inhalte von Gesprächen (möglichst objektiv) wiederzugeben, die ihm charakteristisch und wichtig erscheinen und die dadurch fast zwangsläufig auch für andere von Interesse sind. Aber er scheut sich nie, solche Erlebnisse ins Zentrum des Tagebuchs zu stellen, die für ihn selbst, subjektiv, zentral sind, selbst dann, wenn es sich um die manchmal eher deprimierende Wirklichkeit eines Dahinsiechenden handelt. Ein wichtiges Merkmal der neusachlichen, im Fremdpsychischen zentrierten Erzählweise ist, dass nicht nach einem dem individuellen Erleben übergeordneten Sinn gesucht werden kann. Ein ereignisloser Tag bleibt ein ereignisloser Tag, dessen Ödnis der Autor nicht im Tagebuch dadurch zu kompensieren versucht, dass er sich Fragen von allgemeinem Interesse zuwendet oder poetisch abschweift. Dass Carnap dieses Korsett der ausschließlichen Schilderung des fremdpsychisch verstandenen Selbsterlebten seit den späten 1920er-Jahren nie wieder verlässt, ist gleichzeitig Limitierung seiner Tagebücher und das, was sie als Literatur ausmacht. \tboneA{20} \subsection{Lebensreform und Nonkognitivismus}\labelcn{sec:intro.B.2} Das Tagebuch erlangt bei Carnap auch dadurch eine besondere Bedeutung, dass es (mit einigen Parallelen zur Jugendbewegung) im linken Flügel des Wiener Kreises und des Logischen Empirismus um eine auf alle Erscheinungsformen der Gesellschaft abzielende umfassende \emph{Lebensreform} geht. A~fortiori wird in dieser Grundhaltung das Alltagsleben programmatisch ausgedeutet und mit dem politischen und wissenschaftlichen Leben verschmolzen. Der im Tagebuch ab der Wiener Zeit deutlich werdende Anspruch einer Neuordnung aller Denk-, Handlungs- und Lebensweisen geht einerseits auf die Jugendbewegung zurück. Hier folgt Carnap dem Meißnerschwur von 1913: ,,Die Freideutsche Jugend will aus eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, mit innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten. Für diese innere Freiheit tritt sie unter allen Umständen geschlossen ein.``\fnE{Mogge und Reulecke, \emph{Hoher Meißner 1913}, 272\,f. Zu Carnap auf dem Hohen Meißner vgl. Werner, ,,Freundschaft|Briefe|Sera-Kreis``.} Konkreter wird dieser reformerische Anspruch für Carnap aber in den Grundsätzen der ,,Wissenschaftlichen Weltauffassung`` des ,,linken Flügels`` des Wiener Kreises: \begin{quotation} So steht die wissenschaftliche Weltauffassung dem Leben der Gegenwart nahe. [\ldots] wir erleben, wie der Geist der wissenschaftlichen Weltauffassung in steigendem Maße die Formen persönlichen und öffentlichen Lebens, des Unterichts, der Erziehung, der Baukunst durchdringt, die Gestaltung des wirtschaftlichen und sozialen Lebens nach rationalen Grundsätzen leiten hilft. \emph{Die wissenschaftliche Weltauffassung dient dem Leben und das Leben nimmt sie auf.}\fnE{Verein Ernst Mach, \emph{Wissenschaftliche Weltauffassung},~30.}\end{quotation} \noindent Diesem Geist verpflichtet dokumentiert das Tagebuch über weite Strecken die Welt aus der Perspektive des Repräsentanten einer angestrebten Lebensreform und macht es zum Dokument einer Lebensrealität, der dieser sich zugehörig fühlt, und zwar auf drei Ebenen. Erstens im Alltagsleben. Carnaps lebensreformerischer Anspruch erstreckt sich eben auf eine vollständige Durchdringung des Alltagslebens. Damit sollen nicht nur Philosophie und Wissenschaft den Alltag bestimmen, sondern es soll auch das alltägliche Tun (ob zum Vor- oder Nachteil des Akteurs) vor dem Hintergrund sozialreformerischer Ansprüche verstanden und neu definiert werden. Wenn Carnap in seinem Tagebuch ausführlich über private Details\pagebreak, einschließ\-\tboneA{21}lich sexueller Interaktionen, medizinischer Eingriffe und Medikamentenkonsum spricht, dann ist das durchaus vor dem Hintergrund seiner lebensreformerischen Einstellung zu lesen und schließt den Glauben an die soziale Bedeutung von Naturwissenschaft und Medizin ebenso ein wie sexualreformerische Überlegungen. Letztere dürften zum Teil einen sozialistischen Hintergrund haben,\fnE{Vgl. etwa die Bezüge auf Kollontay, \emph{Wege der Liebe} in Rudolf an Elisabeth Carnap, 5.\,IV.\,1927 (\href{http://doi.org/10.48666/807590}{RC~025"~28"~26}) sowie in den Tagebucheinträgen zum 1.\,IV., 28.\,IV. und 14.\,IX.\,1927.} zum Teil aber auch auf Freuds Revolution des Unbewussten zurückgehen: Carnap sympathisierte spätestens seit den Wiener Diskussionen in der ,Studiengruppe für wissenschaftliche Zusammenarbeit` (vgl. TB~27.\,I.\,1930\diaryref{TB-27-I-1930}) mit Freuds Lehre und hat sich in den 1950ern über mehrere Jahre einer im Tagebuch extensiv dokumentierten (TBA) und insgesamt durchaus erfolgreich verlaufenen Psychoanalyse unterzogen. Mit der im engeren Sinn privaten Perspektive sich überlappend wird die Lebensrealität zweitens in der Interaktion mit anderen Personen, die ihr zugehören bzw. von Carnap ihr zugerechnet werden, dokumentiert. Die ab 1926 große Teile der Tagebücher einnehmenden Berichte über diverse Diskussionszirkel, formelle und informelle Treffen, Konferenzen, private Zusammenkünfte dienen dieser Dokumentation. Sie machen Debatten sichtbar, die mitunter konsensbildend verlaufen, manchmal eher neutral unterschiedliche Standpunkte markieren, gelegentlich aber durchaus konfliktbeladen erscheinen. Dadurch werden innere Spannungen sichtbar: die Konflikte zwischen linkem und rechtem Flügel im Wiener Kreis etwa; die unterschwellig immer vorhandenen, am Ende eskalierenden Spannungen in der Beziehung zu Neurath; die Opposition Carnaps im politikfeindlichen Klima der Wissenschaft im Kalten Krieg. Schließlich ist drittens ein wichtiger Teil der Dokumentation in der Erfassung von Interaktionen und Konfrontationen mit außerhalb von Carnaps intellektuellem Netzwerk stehenden Personen zu sehen. So etwa der Bericht über Carnaps Teilnahme an den Davoser Hochschultagen 1929, mit der berühmten Disputation zwischen Heidegger und Cassirer (vgl. TB~18.\,III.\,1929\diaryref{TB-18-III-1929}); die eindrücklichen Schilderungen über Konflikte mit vom Nationalsozialismus fanatisierten Teilen von Carnaps Familie; die Berichte über Zusammenstöße mit Metaphysikern und Wertabsolutisten in Carnaps Chicagoer Zeit. Diese Perspektiven der Bewusstmachung einer komplexen Lebensrealität positionieren das Tagebuch in eine bis in die privaten Verästelungen hinein den Charakter eines politischen Experimentes annehmenden Existenz, in der es als Protokoll und Richtschnur fungiert. Die in den Tagebüchern sichtbar gemachte lebensreformerische Selbstverpflichtung \pagebreak ist nicht mit dem Anspruch zu ver\-\tboneA{22}wechseln, Carnaps hier dokumentierte Verhaltensweisen zur Nachahmung zu empfehlen. Nimmt man die nonkognitivistische Ethik Carnaps ernst, so bedeutet dies, dass normative Setzungen zunächst objektiviert werden: Wir konstatieren, dass Carnap sich für diesen und jenen Lebensentwurf entscheidet, etwa was die Berufswahl angeht, die Haltung zu Sexualität, Religion, Familie, Medien und Medikamenten, die politische Ausrichtung. Dass Carnap über all diese Dinge lediglich informiert, kaum aber etwaige innere Prozesse und Kämpfe, die dazu geführt haben mögen, im Tagebuch dokumentiert (oder gar austrägt), ist signifikant. Carnaps Wertphilosophie\fnE{Zu der im Rest dieses Abschnitts präsentierten Interpretation von Carnaps praktischer Philosophie siehe Damböck, ,,The Politics of Carnap's Non-Cognitivism`` und ,,Carnap, Reichenbach, Freyer`` sowie die einschlägigen Abschnitte~2.2, 3.1.2 und~3.2 der Einleitung zu Band~2 dieser Edition. Vgl.~Uebel, ,,Intersubjective Accountability``.} stützt sich nicht auf die Überzeugungskraft der Emotion, sondern auf etwas Stabileres, das Carnap als Vermächtnis der Aufklärung übernimmt. Es geht um die Haltung oder Einstellung, die am Ende übrig bleibt, wenn wir unsere Gefühle auf den Prüfstand der Logik und Empirie gestellt haben. ,,[A]~value statement expresses more than merely a momentary feeling of desire, liking, being satisfied, or the like`` (SCH, 1009). Stattdessen ist das, was eine Wertaussage ausdrückt, ,,satisfaction in the long run``, eine Einstellung, die sich für eine Person am Ende herauskristallisiert. Das ändert nichts daran, dass Wertaussagen für Carnap einer rationalen oder empirischen Rechtfertigung unzugänglich sind. Sie sind ,,nonkognitiv``: \begin{quotation} If a statement on values or valuations is interpreted neither as factual [etwa eine psychologische oder soziologische Aussage über Werte oder Aussagen über Mittel, die zu einem Zweck dienen] nor as analytic (or contradictory) [etwa eine Aussage über den Zusammenhang eines Wertes mit einem anderen Wert, von dem er abgeleitet ist] then it is non-cognitive; that is to say, it is devoid of cognitive meaning, and therefore the distinction between truth and falsity is not applicable to~it. (SCH,~999) \end{quotation} \noindent Indem Carnap genuine Werturteile als nonkognitiv identifiziert, sind diese seiner Auffassung zufolge subjektiv und damit einer wissenschaftlichen (kognitiven) Begründung unzugänglich. Das bedeutet allerdings nicht, dass wissen\-schaft\-lich-rationale Überlegungen hier keine Rolle spielen. Man muss nur klar zwischen den (non-kognitiven) praktischen Entscheidungen und jenen kognitiven (theoretischen) Fragen, mit denen sie zusammenhängen, unterscheiden. \tboneA{23} \begin{quotation} Wenn ich mir klar werden will, ob ich den vor mir liegenden Apfel essen soll oder nicht, so ist das eine Sache des Entschlusses, der praktischen Entscheidung, nicht der theoretischen.~[\ldots] Theoretisch~-- durch alltägliches oder wissenschaftliches Wissen~-- kann nur gesagt werden: ,,\textit{wenn} du den Apfel ißt, so wird dein Hunger verschwinden`` (oder: ,,so wirst du dich vergiften``, ,,so~wirst du ins Gefängnis kommen`` oder dergl.). Diese theoretischen Angaben über die zu erwartenden Folgen können gewiß für mich sehr wichtig sein; aber durch sie kann mir der Entschluß nicht abgenommen werden. Es ist Sache des praktischen Entschlusses, ob ich mich sättigen oder hungrig bleiben will; ob ich mich vergiften oder gesund bleiben will; die Begriffe ,,wahr`` und ,,falsch`` können hier nicht angewendet werden.\fnE{Carnap, \textit{Theoretische Fragen},~258.} \end{quotation} \noindent Indem wir danach streben, Werthaltungen konsistent zu halten, uns darüber zu informieren, welche konkreten empirischen Konsequenzen eine bestimmte Entscheidung haben könnte, und die Argumente und Haltungen anderer studieren, bleibt ein großer Spielraum für rationalen Diskurs. Und den \textit{sollen} wir, so Carnaps ethisch-politische Grundhaltung, auch ausschöpfen. Auf der anderen Seite bedeutet die Subjektivität der Werte nicht~-- hier zeigt sich erneut Carnaps Nähe zur Neuen Sachlichkeit --, dass der Grad an Emotionalität, der sie begleitet, von irgendeiner Relevanz ist. Wie sehr eine bestimmte Wertentscheidung von Gefühlsausbrüchen begleitet ist, ist irrelevant. Wichtig ist nur die Frage, ob jemand am Ende bereit ist, eine Werthaltung irgendwann zu revidieren bzw. bei anderen eine abweichende Haltung zu akzeptieren. Ist nichts von beiden der Fall, handelt es sich also um eine Werthaltung, die für ihren Repräsentanten unverrückbar ist, dann ist das eine strukturell wichtige Information, die jedoch nicht zwangsläufig mit dem Grad an Emotion konvergiert, der die Werthaltung begleitet: Dieser ist für ihren Status der subjektiven (Un)verrückbarkeit nicht ausschlaggebend. Was zählt, sind nur Informationen darüber, ob jemand eine Werthaltung bloß vorübergehend vertritt (als ,,momentary emotion``, wie Carnap es nennt) oder aber ständig, nach reiflicher Überlegung, bzw. ob jemand unter Umständen bereit wäre, eine Werthaltung zu ändern oder auch eine davon abweichende Werthaltung bei anderen zu akzeptieren. All diese Informationen können unabhängig von der Frage emotionaler Nebengeräusche erörtert werden und determinieren vollständig das Ausmaß, in dem eine Person einen Wert als feststehend/unrevidierbar erachtet. Carnaps neusachlicher Nonkognitivismus bedeutet nicht das Ausblenden von Emotion, sondern eine neue, sozusagen analytische, abstrakte Form der Emo\-\tboneA{24}tionalität, in der Blutdruck, Lautstärke und die Anzahl von Rufzeichen am Ende eines Satzes keine Rolle mehr spielen, stattdessen aber ,,Klarheit der Begriffe, Sauberkeit der Methoden, Verantwortlichkeit der Thesen``\fnE{Carnap, \textit{Aufbau},~XV.} in den Vordergrund treten. Die Tagebücher Carnaps zeigen, wie diese neue Form der Emotionalität gelebt werden kann. Die Wissenschaftliche Weltauffassung des Wiener Kreises, die Carnap verkörpert, bedeutet die Durchdringung aller Lebensbereiche mit Rationalität. Lebensentwürfe, moralische und politische Werte sind am Ende stets eine Frage der subjektiven Einstellung und damit einer direkten logischen oder empirischen Rechtfertigung unzugänglich. Um im Wertesystem der Wissenschaftlichen Weltauffassung akzeptabel zu sein, dürfen sie sich aber nicht dem wissenschaftlichen Befund und dem sozialen Diskurs als ihren rationalen Ausgangspunkten verweigern. Indem Carnaps Tagebücher die Praxis der Wissenschaftlichen Weltauffassung dokumentieren, laden sie zur Nachahmung ein, auch dann, wenn man seine einzelnen Entschlüsse, also seine konkreten Positionierungen zu Fragen des Berufs, von Sexualität, Religion, Familie, Konsum und Politik, nicht alle teilt. \subsection{Drei Tagebücher, drei Perspektiven auf die Moderne}\labelcn{sec:intro.B.3} Was für die engere philosophie- als auch die weitere kulturhistorische Perspektive den Reiz oder, neutraler, das Besondere an Carnaps Tagebüchern ausmacht, ist ihr mit seiner nonkognitiven Wertphilosophie konvergierender, neusachlicher Ton; es ist, in paradoxer Formulierung, all das, was in diesen Tagebüchern \emph{nicht} zur Sprache kommt: der Mangel an Reflexion, der den Blick auf die Sachen freimacht. In dieser Hinsicht bietet sich der Vergleich mit den Tagebüchern von Zeitgenossen Carnaps an.\fnE{Um das Literaturverzeichnis nicht unnötig aufzublähen, werden die im Folgenden erwähnten Tagebücher nur dann aufgenommen, wenn hier ein direktes Zitat steht.} Vorauszuschicken ist jedoch, dass Carnaps Tagebücher dadurch einzigartig sind, dass sie einen derart langen Zeitraum im 20.~Jahrhundert (1908\hbox{--}1970), die letzten fünf Jahrzehnte davon ohne nennenswerte Lücken, abdecken und in allen Details überliefert sind. Keines der hier eingesehenen Tagebücher umspannt einen so langen Bereich (am nächsten kommen Arthur Schnitzler, Harry Graf Kessler und Thomas Mann). Damit ist der wichtigste Vorzug der Tagebücher Carnaps im Genrevergleich bereits angegeben: dass hier die lebensweltliche Erfahrung eines Menschen sichtbar wird, der den langen Atem hatte, beinahe zwei Drittel des 20.~Jahrhunderts\pagebreak, über alle Katastrophen hinweg, zu do\-\tboneA{25}kumentieren, vom Fin de Siècle über die Zeit der Weltkriege bis zum Kalten Krieg und die Jugendbewegung der 1960er-Jahre. Es gibt, soweit ich die Literatur einsehen konnte, kein Dokument von vergleichbarer Spannweite. Und das macht auch vieles an dem Reiz von Carnaps Tagebüchern aus. Man kann vergleichen und querlesen und den kostümierten Jugendbewegten, den Leutnant zu Pferd im Ersten Weltkrieg mit dem fernsehenden und auf Medikamente vertrauenden älteren Professor in Los Angeles zusammenbringen, in den späteren Passagen auch anhand von gelegentlichen Rückblenden im Text, etwa im Rahmen von Carnaps Psychoanalyse in den 1950er-Jahren. Man könnte diesen Text, in Anlehnung an den oben erwähnten Roman Rudolf Brunngrabers, \textit{Carnap und das zwanzigste Jahrhundert} nennen. Es ist möglich und ergiebig, ihn als monumentale Novelle einer Epoche zu lesen, mit dem Blick auf kulturelle Entwicklungen, politische Verwerfungen und die schier unglaublichen Transformationen der Alltagswelt, die sie kennzeichnen. Abgesehen von ihrem sich aus der zeitlichen Spannweite ergebenden literarischen Reiz bietet sich aber auch der Vergleich mit den zeitlich parallel entstandenen Tagebüchern anderer Intellektueller an. Dabei sind zunächst grundlegende Unterschiede zu konstatieren, die alle Tagebücher betreffen, die hier eingesehen werden konnten: in keinem der herangezogenen Texte ist ein mit Carnap vergleichbarer neusachlicher Stil zu finden. Zwar überlappen sich manche Tagebücher (so etwa die von Lion Feuchtwanger und passagenweise die Arthur Schnitzlers) stilistisch mit dem frühen Telegrammstil Carnaps, aber Schilderungen werden dort stets subjektiv überhöhend und nachträglich reflektierend, sobald sie über den Telegrammstil hinaus gehen. Die radikale Beschränkung der Ausdrucksmittel, die dennoch, so die oben entwickelte Charakterisierung des neusachlichen Stils bei Carnap, eine Erfassung aller Aspekte der Lebensrealität ermöglichen, allerdings nur in dem als Fremdpsychisches zugänglichen Erfahrungsbereich, findet sich nirgendwo sonst in der Tagebuchliteratur. Während die Tagebücher von berühmten Zeitgenossen Carnaps häufig den Charakter von Skizzen- und Reflexionsbüchern haben (Robert Musil, Hannah Arendt, Kurt Gödel), die Tagesereignisse (oder davon abgeleitete Eindrücke) mit einem expressiven literarischen Anspruch schildern (Franz Kafka, Harry Graf Kessler, Käthe Kollwitz, Ernst Jünger, Thomas Mann, Carl Schmitt, Moritz Schlick) bzw. kommentierend verarbeiten (Victor Klemperer), schreiben Carnaps Tagebücher eine auf die konkreten lebensweltlichen Ereignisse reduzierte, nicht reflektierende, nicht expressiv überhöhende und gerade dadurch originelle Erzählung. Carnaps Tagebücher unterscheiden sich auch grundlegend von den tagebuch\-artigen Aufzeichnungen seiner philosophischen Zeitgenossen Ludwig Wittgenstein (\textit{Denkbewegungen}) und Martin Heidegger (\textit{Schwarze Hefte}). Ein Vergleich \tboneA{26} mit den Tagebüchern Carnaps bietet sich an, weil alle drei Tagebücher aus durchaus typischen Gründen führen, als ein Extrem der literarischen Äußerung, wo das Geschriebene unmittelbarer als irgendwo sonst am Leben selbst hängt, sei es in der Gestalt geschilderter Tagesereignisse, denen noch der Stallgeruch des Erlebens anhaftet, sei es, wie bei Heidegger fast ausschließlich, in dem Bestreben, die eigene Philosophie in einen Zusammenhang zum moralischen und politischen Erleben zu stellen. So radikal verschieden diese drei Tagebücher sind~-- Carnap sachlich die Tagesereignisse schildernd, Wittgenstein diese Ereignisse in expressiver Sprache übersteigernd, Heidegger nur die eigenen Denkkategorien mit Alltagsmotiven aufladend~--, sie erfüllen doch dieselbe Funktion eines literarischen Gelenks zwischen dem äußeren Leben und der abstrakten inneren Existenz des philosophischen Schriftstellers. Wegen dieser Übereinstimmung in ihrer existenziellen Funktion eignen sich die Tagebücher dieser drei Philosophen umso besser als direkte Vergleichsobjekte. Wittgensteins Tagebücher\fnE{Vgl. Wittgenstein, \textit{Denkbewegungen}; Baum, \textit{Wittgenstein im Ersten Weltkrieg} sowie Somavilla et~al., \textit{Wittgensteins Denkbewegungen}.} sind ein ideales Kontrastmittel, das die Besonderheiten von Carnaps neu-sachlichem Stil und seiner radikalen Modernität herauszuarbeiten hilft. Wittgenstein stand Carnap einerseits philosophisch sehr nahe, trotz der zwischen ihm und dem ,linken Flügel` des Wiener Kreises existierenden Spannungen und trotz (vielleicht aber auch gerade wegen) eines von Wittgenstein 1932 gegen Carnap erhobenen Plagiatsvorwurfs, der das persönliche Verhältnis dieser beiden Philosophen nachhaltig zerrüttet hat.\fnE{Vgl. Stadler, \textit{Studien zum Wiener Kreis}, 467\hbox{--}488 sowie Stern, ,,Wittgenstein, the Vienna Circle, and Physicalism`` und Wittgenstein an Carnap, 20.\,VIII.\,1932 (\href{http://doi.org/10.48666/808328}{RC~102"~78"~03}).} Insbesondere teilte Wittgenstein mit Carnap die nonkognitive Auffassung von Werten. ,,Es gibt`` für Wittgenstein (wie für Carnap) ,,keinen Sachverhalt, der~[\ldots] die Zwangsgewalt eines absoluten Richters besitzt`` bzw. einen ,,absoluten Wert`` repräsentiert.\fnE{Wittgenstein, \emph{Vortrag über Ethik},~14, in den folgenden Zitaten stehen die Seitenangaben in Klammern. Vgl.~die ganz in diesem Sinn verlaufende Charakterisierung von ,,ethischer Satz`` in Wittgenstein, \emph{Denkbewegungen}, 43\,f.} Werte sind für Wittgenstein (wie für Carnap) ,,Erlebnisse`` und nicht platonische Tatsachen (14\hbox{--}16). Wittgenstein hält wie Carnap eine wissenschaftliche Behandlung der Ethik, jenseits der empirischen Soziologie und Psychologie von Werterlebnissen und der Erforschung von Mittel-Zweck-Beziehungen, für unmöglich (17\hbox{--}18). Aber im Unterschied zu Carnap sieht Wittgenstein die Ethik als ,,übernatürlich, und unsere Worte werden nur Fakten ausdrücken``~(13). Die Konsequenz aus der Erkenntnis des nonkognitiven Charakters von Werten ist also nicht, wie bei Carnap, \pagebreak die Festlegung darauf, dass man Werte einfach \tboneA{27} nicht rechtfertigen kann, sondern das Eintreten in die für Wittgenstein typische Spirale eines von vornherein zum Scheitern verurteilten ,,Anrennens`` ,,gegen die Grenzen der Sprache``, das zwar als ,,völlig und absolut aussichtslos`` betrachtet wird (18\,f.), aber dennoch bei Wittgenstein die Schnittstelle zwischen Philosophie und Wirklichkeit darstellt. Dementsprechend ist Wittgensteins Nonkognitivismus, anders als der von Carnap, nicht in einem Rahmen der Maximierung von Rationalität positioniert, sondern fungiert viel eher als Brücke zu einer nur auf der theoretischen Ebene rationalen, in der Lebenspraxis aber irrationalen Weltanschauung. Wittgensteins ,Bedürfnisse des Gemütes` gehen, im Gegensatz zum linken Flügel des Wiener Kreises, weg von der Wissenschaft und zielen auf ein ,,Unaussprechliches``, ,,Mystisches`` ab, das sich im Anrennen an Sprachgrenzen angeblich ,,zeigt``.\fnE{Wittgenstein, \textit{Tractatus logico-philosophicus},~6.522.} Die bei Wittgenstein in der Philosophie bei moderner Grundlage erfolgende Annäherung an in der Moderne längst Überwundenes manifestiert sich auch in seinen Reflexionen über die Lebenswirklichkeit, die sich in den Tagebüchern erforschen lässt. Während Carnaps radikale Modernität diesen dazu bringt, auch im nicht-wissenschaftlichen Diskurs eine jede emotionale Sprechweise vermeidende quasi-wissenschaftliche Diktion zu wählen, geht Wittgenstein den genau entgegengesetzten Weg und setzt im privaten Ausdruck auf eine die wissenschaftliche Sprache des \textit{Tractatus} und der \textit{Philosophischen Untersuchungen} bewusst konterkarierende expressive Rede. Wittgensteins Tagebücher enthalten Gebete (,,Gott helfe mir!{}``, ,,Hilf~\& Erleuchte!{}``), Beschwörungen (,,Nur Mut!{}``), Selbstbezichtigungen und Abrechnungen mit dem Autor wie auch mit Personen in seinem Umfeld (,,Ein Gaunerpack!{}``). Wo Carnap Repräsentant der neuen Sachlichkeit ist, steht Wittgenstein für Expressionismus: \begin{quotation} Wenn ich sage, ich möchte die Eitelkeit ablegen, so ist es fraglich, ob ich das nicht wieder nur aus einer Eitelkeit heraus will. Ich \uline{bin} eitel~\& soweit ich eitel bin, sind auch meine Besserungswünsche eitel. Ich möchte dann gern wie der~\& der sein der nicht eitel war~\& mir gefällt,~\& ich überschlage schon im Geiste den Nutzen, den ich vom ,,Ablegen`` der Eitelkeit haben würde. Solange man auf der Bühne ist, ist man eben Schauspieler, was immer man auch macht. (Wittgenstein, \textit{Denkbewegungen},~64) \end{quotation} \noindent Zugleich bieten Wittgensteins Tagebücher keine emotionale Distanz, sondern streben eher die expressive Durchdringung der Welt mittels Sprache an. Die \tboneA{28} Tage\-bücher verfolgen für Wittgenstein den Zweck der Katharsis durch Abladen emotionalen Ballastes: \begin{quotation} Das Leben ist eine Tortur, von der man nur zeitweise heruntergespannt wird, um für weitere Qualen empfänglich zu bleiben. Ein furchtbares Sortiment von Qualen. Ein erschöpfender Marsch, eine durchhustete Nacht, eine Gesellschaft von Besoffenen, eine Gesellschaft von gemeinen und dummen Leuten. Tue Gutes und freue dich über deine Tugend. Bin krank und habe ein schlechtes Leben. Gott helfe mir. Ich bin ein armer und unglücklicher Mensch. Gott erhöre mich und schenke mir den Frieden! Amen. (Baum, \emph{Wittgenstein im Ersten Weltkrieg},~80) \end{quotation} \noindent Verkörpern Carnap und Wittgenstein mit ihren Tagebüchern also zwei unterschiedliche Spielarten der Moderne~-- eine affirmative und eine aversiv gebrochene --, so steht Heidegger mit seinen erst in jüngster Zeit erschienenen tagebuchartigen Aufzeichnungen für eine radikale Antithese dazu. Heideggers Aufzeichnungen, die sogenannten \textit{Schwarzen Hefte},\fnE{Vgl. Heidegger, \emph{Gesamtausgabe}, Bd.~94\hbox{--}98 sowie Heinz und Kellerer, \textit{Martin Heideggers ,,Schwarze Hefte``}.} sind nur im weitesten Sinn als Tagebücher zu identifizieren. Sie sind zwar chronologisch angeordnet, berichten aber kaum je über Tagesereignisse und nehmen auf den Kontext nur in verstreuten, wenn auch deutlichen Stellungnahmen zur politischen Weltlage Bezug. Im Wesentlichen schreiben die \textit{Schwarzen Hefte} aber das für Heidegger seit den 1930ern charakteristische ,seinsgeschichtliche Denken` fort. Nur wird hier eben dieses Denken mit seinen politischen Motiven verknüpft und so in seiner Funktion als ,Metapolitik` kenntlich gemacht.\fnE{Vgl. Heinz, ,,Seinsgeschichte und Metapolitik``.} Heideggers Formulierungen modulieren eher alltagssprachliche Wörter zu einer bewusst grammatikalisch verzerrten Sprache, in der Sätze ohne empirischen oder logischen Sinn wie ,,Das Nichts selbst nichtet``\fnE{Heidegger, \textit{Was ist Metaphysik?}. Vgl. Carnap, ,,Überwindung der Metaphysik``,~229.} konstruiert werden. Diese Sätze haben den Charakter von Versuchen, mittels denkerischer Geisteskraft neue Ufer des ,Seins` zu erschließen. Heidegger teilt insofern den anti-meta\-phy\-si\-schen Impetus seiner Antipoden in der Moderne, als er nicht an die Existenz von platonischen Ideen oder objektiven metaphysischen Sachverhalten glaubt. Anders als die Antimetaphysiker im Wiener Kreis denkt Heidegger aber auch, dass man diesem Mangel dadurch abhelfen kann, dass man selbst seine platonischen Himmel entwirft. Dort\pagebreak, wo Carnap keinerlei Mangel sieht~-- wir kommen \tboneA{29} sehr gut in einer neusachlich strukturierten Welt, ohne Metaphysik und absolute Werte zurande --, wo Wittgenstein die Unmöglichkeit einer Metaphysik zwar anerkennt, uns aber dennoch auf das von vornherein als sinnlos erkannte Suchen danach einschwört, sieht Heidegger die Möglichkeit eines seinsgeschichtlichen Entwurfs. Resultat ist die postmoderne ,Destruktion` (Heidegger) oder ,Dekonstruktion` (Derrida) objektiver historischer Wirklichkeit, jenseits von Aufklärung und wissenschaftlicher Rationalität. Das Interessante am Vergleich zwischen den \textit{Schwarzen Heften} und den Tagebüchern Carnaps liegt darin, dass diese beiden Texte ein antipodisches Verhältnis präzisieren, das beiden Philosophen durchaus klar gewesen ist. Carnap, der in ,,Überwindung der Metaphysik``, einem Schlüsseltext der Philosophie des 20.~Jahrhunderts, Heideggers Philosophie als Paradebeispiel für sinnlose Metaphysik identifiziert, betont noch 1967: ,,in Bezug auf die Ausführungen von Martin Heidegger würde ich noch wie früher sagen, daß wir sie gänzlich als unverstehbar ablehnen``.\fnE{Carnap und Hochkeppel, ,,Andere Seiten des Denkens``,~55.} Umgekehrt verkörpert Carnap für Heidegger, in einem vielleicht von Carnap selbst geteilten Sinn, die Antithese zum ,Deutschtum` und gleichzeitig die perfekte Synthese der wichtigsten in den \textit{Schwarzen Heften} thematisierten Feindbilder: das ,rechnende Denken`, das ,Russentum` und das ,Amerikanertum`. In diesem Sinn bemerkt Heidegger in einer Vorlesung von 1935, mit explizitem Bezug auf ,,Überwindung der Metaphysik``: \begin{quotation} Hier vollzieht sich die äußerste Verflachung und Entwurzelung der überlieferten Urteilslehre unter dem Schein mathematischer Wissenschaftlichkeit. [\ldots] [Es ist] kein Zufall, daß diese Art von ,Philosophie` die Grundlage liefern will zur modernen Physik, in der ja alle Bezüge zur Natur zerstört sind. Kein Zufall ist auch, daß diese Art ,Philosophie` im inneren und äußeren Zusammenhang steht mit dem russischen Kommunismus. Kein Zufall ferner, daß diese Art des Denkens in Amerika seine Triumphe feiert.\fnE{Heidegger, \emph{Gesamtausgabe}, Bd.~40,~228.} \end{quotation} \noindent Das Ertragreiche am Vergleich der drei Philosophen Carnap, Wittgenstein und Heidegger und ihren tagebuchartigen Schriften ist, dass sie alle eine enge Verknüpftheit sichtbar machen zwischen dem, was die Philosophie leistet, und dem, was uns im Alltag begegnet. In allen drei Fällen ist der Ausgangspunkt des Denkens die Idee einer rigoros wissenschaftlichen Einstellung, wie sie in der Wissenschaftlichen Weltauffassung des Wiener Kreises ihre radikal moderne Formulierung gefunden hat. Das heißt, es sieht keiner dieser drei Denker eine Möglich\-\tboneA{30}keit, die Moderne einfach dadurch zu überwinden oder zurück zu lassen, dass man, wie dies in der Frankfurter Schule geschehen ist, erneut eine objektive Metaphysik mit absoluten Werten postuliert.\fnE{Das Manifest dieser Abweisung der Moderne ist Horkheimer und Adorno, \textit{Dialektik der Aufklärung}, 88\hbox{--}127. Vgl. Horkheimer, ,,Der neueste Angriff auf die Metaphysik`` sowie Dahms, \textit{Positivismusstreit}, 97\hbox{--}143.} Nur sind die Strategien, wie man mit dieser Erkenntnis umgehen soll, sehr verschieden. Und diese Verschiedenheit wird am besten sichtbar am neuralgischen Punkt der Tagebücher, in denen die Philosophie an die Lebenswirklichkeit anknüpft. Nur bei Carnap wird der Empfehlung gefolgt, die Wissenschaftliche Weltauffassung als Richtschnur im Leben zu nehmen: Wir können nichts anderes tun, als uns der Tatsache zu stellen, dass unsere Werte einer absoluten Rechtfertigung unzugänglich sind, und uns im Übrigen auf das Zugängliche zu beschränken: Überlegungen über logische Zusammenhänge zwischen Werten, die zu erwartenden Folgen einer Werthaltung und die Argumente unserer Mitmenschen, für oder gegen eine bestimmte Haltung. Wittgenstein, der im Grundsatz diese Anschauung teilt, sieht hier dennoch ein offenbar aus der religiösen Tradition stammendes Potential für das Einbringen einer negativen Grundstimmung: Zwar gibt es nur die Rationalität, aber das verpflichtet uns gleichzeitig dazu, unser ganzes Leben dem als ,völlig und absolut aussichtslos` erkannten Anrennen gegen ihre Grenzen zu widmen. Heidegger hingegen, ähnlich abweisend der Moderne gegenüber gestimmt wie Wittgenstein, sucht eine veritable Hintertür, indem er glaubt, dass zwar kein objektiver platonischer Himmel existiert, aber unsere ,Destruktionen` desselben als wertvolle Ersatzprodukte herhalten können: Das seinsgeschichtliche Denken schafft flüchtige platonische Himmel, die umso wirkmächtiger sind, je machtvoller dieses Denken seine Konstruktionen verfolgt. Die Tagebücher laden dazu ein, diese drei durchaus unterschiedlichen, wenn auch gleichermaßen für das 20.~Jahrhundert typischen Philosophieentwürfe \textit{als Lebensentwürfe}, also als politische und moralische Vorschläge, zu verstehen und zu überprüfen. \section{Zu diesem Band der Tagebuchedition} %\markright{Zu diesem Band der Tagebuchedition}\thispagestyle{plain} \textit{In diesem Teil der Einleitung wird eine biografische Skizze zu den hier publizierten Tagebuchteilen geliefert, die in den folgenden Bänden fortgesetzt werden soll. Die in diesem Band veröffentlichten Tagebücher Carnaps beginnen mit seiner Gymnasialzeit in Barmen bei Wuppertal (TB~1, Frühjahr 1908) sowie in Jena (TB~2, Frühjahr 1910). Sie dokumentieren die Zeit seines Studiums in Jena und Freiburg (TB~3\hbox{--}9, 1911\hbox{--}1914), die Jahre des Ersten Weltkriegs, erst an der Front (TB~10\hbox{--}19, \-\tboneA{31} 1914\hbox{--}1917), dann in Berlin im Innendienst (TB~20, 1917\hbox{--}1918), sowie die unmittelbare Nachkriegszeit in Berlin, Jena und Wiesneck (TB~21, 1918\hbox{--}1919). Zu Beginn dieser Periode war Carnap~16, am Ende 28~Jahre alt.}\bigskip \noindent Carnaps philosophische Karriere begann erst in den 1920er-Jahren. In der hier dokumentierten Lebensepoche sind keine wissenschaftlichen Publikationen entstanden. Er war kein frühreifer Charakter und erlebte die Zeit bis 1919 eher als jugendlicher Tatmensch, der sich von den ihn umgebenden Strömungen der Jugendbewegung, der Kultur des Fin de Siècle und der von den Ideen von 1914 geprägten Weltkriegserfahrung treiben ließ. Dennoch lassen sich viele Spuren des späteren Carnap, des politisch denkenden Intellektuellen, aber auch des Philosophen mit nonkognitivistischer und antimetaphysischer Ausrichtung und einer tiefen Verwurzelung in der modernen Logik in die frühe Zeit seiner intellektuellen Biografie zurückverfolgen. \subsection{Familie, Kindheit in Ronsdorf, Barmen und Jena bis 1910} Carnap wurde am 8.~Mai 1891 in Ronsdorf bei Wuppertal geboren. Seine Kindheit und Jugend ist in den großteils später gestrichenen (weil für das amerikanische Publikum als nicht hinreichend relevant erachteten) einleitenden Passagen der ersten englischen Fassung seiner Autobiografie (AB) erfasst, die hier eingehend zitiert sei.\fnE{Zu Carnaps Kindheit und intellektuellem Hintergrund siehe Carus, \textit{Carnap and Twentieth-Century Thought}, 41\hbox{--}50, Siegetsleitner, \textit{Ethik und Moral im Wiener Kreis}, 92\hbox{--}94, Damböck, ,,Carnap's Non-Cognitivism and his Views on Religion``, Heidelberger, ,,Between Pietism and Herbartianism``. Zu Carnaps Autobiografie vgl. Siegetsleitner, ,,Carnaps Autobiografie``.} Carnaps Vater, Johannes Sebulon Carnap (1826\hbox{--}1898, Abb.~\refcn{johannessebulon}),\fnE{Vgl. ,,Stammfolge Carnap``, 116\hbox{--}118, 131\hbox{--}133 sowie (AB,~A1"~A2).} zum Zeitpunkt von Carnaps Geburt im 65.~Lebensjahr, stammte aus einer Ronsdorfer Familie von Bandwebern und hatte sich aus einfachsten Verhältnissen empor gearbeitet.\vspace{-3mm} \begin{quotation}\selectlanguage{english}% At the age of ten, my father was taken out of school in order to help earn a livelihood for the family on the loom and the fields. With great energy he used the evening hours for acquiring an education by himself, in many fields of knowledege, including foreign languages. He liked to read books throughout his life, especially biographies and history. He was cheerful, extroverted, sociable and energetic. By his industrious work, he slowly improved his economic~\& social position. When I was born~[\ldots] he was the independent owner of a small but well-established ribbon factory. (AB,~A1"~A2) \end{quotation} \tboneA{32} \noindent Anlässlich seiner Psychoanalyse in den 1950er-Jahren beschreibt Carnap den Vater als ,,energisch, vielleicht auch streng. Harte Kindheit. Trotzdem viel gelernt. Er sang gern. Er las Geschichte und Biographien`` (TBA, 26.\,X.\,1953), an anderer Stelle als ,,nicht streng, aber ich fürchtete seinen Spott`` (TBA, 27.\,IX.\,1954). Dreimal verheiratet (und zweimal verwitwet) zeugte Johannes Sebulon Carnap 14~Kinder, von denen ihn acht überlebten. Rudolf Carnap und seine Schwester Agnes (1890\hbox{--}1976) stammten aus der dritten Ehe, mit der um 26~Jahre jüngeren Anna Dörpfeld (1852\hbox{--}1924, Abb.~\refcn{mutterjugendbildnis}). Für Carnap waren von den Halbgeschwistern und deren Familien allenfalls Josua (1867\hbox{--}1914) und Johannes (1863\hbox{--}1936) wichtig, die 1896 die Leitung der väterlichen Fabrik übernommen hatten, die wiederum später an Johannes' Sohn Wilhelm (1888\hbox{--}1957) übergeben wurde. Ansonsten spielte die väterliche Familie in Carnaps Kindheit eher eine untergeordnete Rolle, zumal nachdem Carnaps Mutter mit ihren beiden Kindern nach dem Tod des Vaters das Haus der Familie In der Krim in Ronsdorf verließ und nach Barmen, heute ein Stadtteil von Wuppertal, übersiedelte. In der Psychoanalyse hat Carnap dennoch Überlegungen über das intellektuelle Erbe des Vaters angestellt und das Ingenieurhafte seines eigenen Denkens mit der väterlichen Persönlichkeit in Zusammenhang gebracht: \begin{quotation} Wenn ich mit dem Vater zu seiner Fabrik ging, \uline{faszinierten mich die Band\-spu\-len}. Später wollte ich ,,Maschinenerfinder`` werden; später Ingenieur; als Student \uline{Physiker}, experimentell; nach dem Krieg \uline{theoretische Physik}, schließlich \uline{Philosophie}, immer mehr theoretisch und abstrakt. \uline{Wenn ich in Vaters Geschäft gegangen} wäre, hätte ich mich um die Maschinen gekümmert, nicht das Geschäftliche; vielleicht hätte ich mich so dann \uline{doch gut mit ihm ver\-tragen}. (Vorher mal:) Ein Freund sagte in Wien: \uline{meine Diagramme} sähen aus \uline{wie die Fäden auf einem Webstuhl}. (TBA,~23.\,XII.\,1954) \end{quotation} \noindent Anna Carnap, zum Zeitpunkt von Carnaps Geburt bereits im 40.~Lebensjahr, war Tochter des bedeutenden Wuppertaler Pädagogen Friedrich Wilhelm Dörp\-feld (1824\hbox{--}1893, Abb.~\refcn{friedrichwilhelmundanna}). Nach dem Tod ihrer Mutter im Jahr 1871 lebte Anna Dörpfeld bis zu ihrer Eheschließung im Jahr 1887 im Haushalt des Vaters und fungierte dort als seine Assistentin. Der erlernte, aber zuvor offenbar nie ausgeübte Lehrerinnenberuf ermöglichte es Anna Carnap, ihre Kinder im Grundschulalter zuhause zu unterrichten. So besuchte Rudolf Carnap erst mit dem Eintritt ins Gymnasium (nach 1898) eine öffentliche Schule. Carnap beschreibt seine Eltern als tief religiös und assoziiert seine eigene moralische Einstellung damit: \tboneA{33} \begin{quotation} While I grew up, my mother often explained to me that the essential point in religion was not to believe certain dogmas, but to live the right life. And for the decision in all moral questions regarding right and wrong, she referred not to any authority, either the parents or the word of God, but rather to one's own moral insight, the ,,voice of conscience``. (AB,~A8) \end{quotation} \noindent Sosehr Carnap die Mutter und (mit Einschränkungen) den Vater in den gestrichenen Passagen seiner Autobiografie als prägend beschreibt, sind es zwei andere Verwandte, die er explizit als Vorbilder hervorhebt. Einmal den erwähnten Großvater Friedrich Wilhelm Dörpfeld. Dieser war nicht nur Pädagoge, sondern ein von der Philosophie Herbarts beeinflusster Denker. In seinem Hauptwerk \textit{Zur~Ethik}, das Carnap mehrfach gelesen hat, entwickelt Dörpfeld ein bemerkenswertes ,,System der Wissenschaft``, das sowohl Carnaps generelle wissenschaftliche Weltsicht als auch seinen ethischen Nonkognitivismus beeinflusst hat~-- durch die direkte Lektüre, aber auch durch die Wiedergabe der Lehren Dörpfelds durch Carnaps Mutter. \begin{quotation} [Dörpfeld] had always strongly emphasized that in the education of a child's character, the moral principles should be based only on the child's own conscience and not on God's will. He criticized the church severely for making ethics dependent upon theology because once young people would begin to doubt the dogmas, they would also be in danger of losing the moral ground. When my sister and I were somewhat older, my mother read to us what her father had written on this question in his book on ethics. (AB,~A8"~A9) \end{quotation} \noindent Diese für Carnap selbst charakteristische Forderung nach einer dogmenfreien Moral hat auch seine Mutter geteilt: \begin{quotation} What convictions, including religious beliefs, anybody had, was for her a morally neutral matter, as long as he would seriously search for the truth and in the forming of his convictions follow his best insight. This attitude led to a high degree of tolerance~[\ldots] (AB,~A9) \end{quotation} \noindent Die Mutter war mit dem Werk ihres Vaters bestens vertraut. Seit dessen Tod im Jahr 1893 arbeitete sie an seiner Biografie, die, obwohl weitgehend eine Kompilation aus dessen Schriften und Briefen, doch mit ihren knapp 700~Seiten eine beeindruckende intellektuelle Leistung darstellt.\fnE{Anna Carnap, \emph{Friedrich Wilhelm Dörpfeld}.} ,,I was fascinated by the magi\-\tboneA{34}cal activity of putting thought on paper, and I have loved it ever since.`` (SCH,~3), schreibt Carnap in der publizierten Fassung seiner Autobiografie. In der Langfassung wird diese Tätigkeit seiner Mutter geradezu zur primären Kindheitserinnerung: \begin{quotation} For several years after my grandfather's death, when I was a child, my mother worked on a book desribing his life and work. She often did her writing on the rear porch of our house or in the large garden, while my sister and I played around her. I liked to look at her when she was sitting there, fully absorbed in her memories and thoughts, often with a far-away look in her eyes, inaudibly moving her lips, and the turning to the paper, covering it with strange marks. To my question she explained to me that writing is like talking to friends; those who read it can see what the writer has thought. Since that time, to think and to write down one's thoughts has always appeared to me as one of the most wonderful things to do. (AB,~A3"~A4) \end{quotation} \noindent Friedrich Wilhelm Dörpfeld ist als Brücke zu Herbart und der deutschen empiristischen Tradition sowie als Quelle des Nonkognitivismus der vielleicht wichtigste, wenn auch erst jüngst in der Forschung thematisierte Einfluss auf Carnaps Philosophie.\fnE{Siehe Heidelberger, ,,Between Pietism and Herbartianism`` und Damböck, ,,Carnap's Non-Cognitivism and his Views on Religion``.} Daneben erwähnt Carnap als zweites großes Vorbild den Bruder seiner Mutter, Wilhelm Dörpfeld (1853\hbox{--}1940, Abb.~\refcn{wilhelmdoerpfeld}). Der bedeutende Archäologe und Architekt war an wichtigen Ausgrabungen in Troja (gemeinsam mit Heinrich Schliemann), Mykene, Olympia und Tiryns beteiligt und leitete über Jahrzehnte das deutsche archäologische Institut in Athen (AB,~A7).\fnE{Zu Wilhelm Dörpfeld vgl. Dahms, ,,Rudolf Carnap: Philosoph der Neuen Sachlichkeit`` sowie Dörpfeld, \textit{Daten meines Lebens}, die Kurzfassung der umfangreichen unpublizierten Autobiografie Dörpfelds, deren Manuskript am Stadtarchiv Wuppertal liegt.} Wilhelm Dörpfeld übte sichtbaren Einfluss auf Carnaps Entwicklung aus, zunächst in der Gestalt von zwei Griechenlandreisen, an denen Carnap beteiligt gewesen ist. Die erste dieser Reisen fand 1905 statt (AB,~A16), die zweite, im Frühjahr 1910, ist in TB~2 dokumentiert (vgl. Abb.~\refcn{schiffgriechenland}). Wilhelm Dörpfeld war auch verantwortlich für die Übersiedelung nach Jena im Jahr 1909, wo er für Carnaps Mutter und ihre beiden Kinder ein Haus neben dem seiner eigenen Familie erbaute (Abb.~\refcn{hauskernberg}). Mit der von ihm 1914 gegründeten Immobiliengesellschaft Mühlenau-Boden-GmbH, die 1924 in eine Aktiengesellschaft umgewandelt wurde (Vgl.~TB~7.\,XI.\,1923\diaryref{TB-7-XI-1923}), spielte er eine wichtige Rolle für die finanzielle Situation der Familie Carnap. \pagebreak Schließlich \tboneA{35} war Dörpfeld an Carnaps Entscheidung für eine akademische Karriere beteiligt und fungierte über viele Jahre als Diskussionspartner Carnaps; der Inhalt dieser Gespräche ist leider kaum rekonstruierbar, da die Korrespondenz zwischen Carnap und seinem Onkel großteils nicht erhalten ist. Neben diesen wichtigen Identifikationsfiguren spielen aus der Familie Carnaps vorwiegend einige weitere Familienmitglieder des mütterlichen Zweiges eine Rolle. So etwa Christine von Rohden (Tante Tine, 1862\hbox{--}1946), die Schwester von Carnaps Mutter und auch an der Erziehung und Pflege von deren Kindern beteiligt; die Cousins Friedrich und Heinz von Rohden, Studienkollegen Carnaps in Jena und Freiburg; Rugard von Rohden, als Teilnehmer an den politischen Diskussionen der Jahre 1918 und~1919. Erwähnenswert ist auch die Cousine Hedwig von Rohden, von der zwar im Tagebuch nur einmal die Rede ist, deren von ihr mitbegründete Loheland-Schule für Carnap jedoch von einiger Bedeutung gewesen ist (siehe die Einleitung zu Band~2, Abschnitt~1.4). Carnaps Kindheit und Jugend verteilt sich also auf drei Schauplätze: Ronsdorf, Barmen und Jena. Die frühe Kindheit bis zum Tod des Vaters im Jahr 1898 spielte sich in der repräsentativen Villa des Vaters In der Krim in Ronsdorf ab (Abb.~\refcn{inderkrim}). Der Vater leitete als Organisator und vielleicht auch ein wenig Diktator Haushalt und Bandfabrik, die Mutter kümmerte sich um die Erziehung der Kinder, einschließlich des von ihr übernommenen Grundschulunterrichts. Von gelegentlichen Zusammenstößen mit dem liebevollen, aber autoritären Vater abgesehen, erlebte Carnap eine behütete Kindheit im Schoß einer wohlhabenden Fabrikantenfamilie. Der Tod des Vaters im Jahr 1898~-- danach übernahm die Vaterrolle ,,[n]ur die Mutter; kein Onkel oder so`` (TBA, 20.\,XII.\,1954)~-- nötigte die Familie zur Übersiedlung nach Barmen (Abb.~\refcn{hausbarmen}\hbox{--}\refcn{carnapmitbuch}). Die Ronsdorfer Villa wurde von dem dann die Fabrik leitenden Halbbruder Johannes Carnap übernommen. In Barmen musste sich die Familie neu einrichten, finanziell aber großzügig abgesichert durch das Vermögen sowohl der väterlichen als auch der mütterlichen Familie. Bald nach der Übersiedlung wechselte Carnap vom häuslichen Grundschulunterricht in das (heute nach Wilhelm Dörpfeld benannte) humanistische Gymnasium in Wuppertal-Elberfeld, wo er sich für Mathematik, aber auch für alte Sprachen interessierte: \begin{quotation} Of the various fields of learning I loved mathematics most because I found the exact method and the clear concepts very attractive and above all I was impressed by the neat and unquestionable results which one could find by mere thinking. Among the languages I preferred Latin with its rational structure and fixed rules. Latin was the center of the school curriculum for nine years. \tboneA{36} Greek (six years) I liked too, especially after I had at the age of fourteen spent some time in Greece~[\ldots]. The modern languages, French (seven years) and English (two years) I liked less, perhaps because what matters in mastering them is skill in practical use rather than rational thinking. (AB,~A16) \end{quotation} \noindent Viel mehr Auskunft über die Zeit am Gymnasium in Elberfeld gibt die Autobio\-grafie leider nicht. Carnap begann in dieser Zeit Cello zu spielen (Abb~\refcn{cello}): Bis in die 1920er-Jahre übte er, wie aus dem Tagebuch ersichtlich, dieses Instrument und spielte gemeinsam mit Freunden und Verwandten Kammermusik, bis hin zu Bach- und Beethovensonaten. Ebenfalls in der Zeit in Barmen ist Carnaps Interesse an Esperanto erwacht.\fnE{Vgl. Lins, ,,Carnap als Esperantist``. 1909 entstand Carnap, ,,Kiel oni faras enigmojn en Esperanto?{}``, über den (durch Beispiele illustrierten) Nutzen von Rätseln zum Spracherwerb.} \begin{quotation} At the age of about fourteen I found by chance a little pamphlet called ,The World Language Esperanto`. I was immediately fascinated by the regularity and ingenious construction of the language, and I learned it eagerly. (SCH,~69) \end{quotation} \noindent Im Frühling 1908 entstand Carnaps erstes erhaltenes Tagebuch: neun längere, über drei Monate verstreute Einträge, wie alle späteren Tagebücher Carnaps in Kurzschrift verfasst. Bemerkenswert ist die programmatische Eingangspassage: \begin{quotation} [\ldots]~wenn ich jetzt manches denke, ohne es zu sagen, und vergesse es dann wieder, so kann ich mir später nie ein genaueres Bild über mich selbst in früheren Jahren machen. Wie wär's, wenn ich so etwas aufschriebe.\newline (TB~14.\,II.\,1908\diaryref{TB-14-II-1908}){\tolerance500\par} \end{quotation} \noindent Die folgenden Einträge im Tagebuch von 1908 ähneln stilistisch bereits in manchem den späteren Aufzeichnungen. Nicht über Gedanken und Weltanschau\-ungen wird berichtet und reflektiert, sondern die Erlebnisse des Tages werden beschrieben, wobei der Anlass dieser frühen Aufzeichnungen das Schwärmen des Pubertierenden für ein von ihm offenbar nie angesprochenes Mädchen ist, dem er unter anderem auf dem Schulweg in der Barmer Bergbahn begegnet. Diese Rahmenhandlung wird ergänzt durch gelegentlich mit protestantischen Weisheiten gewürzte Berichte aus dem Schul"~, Freundes- und Familienleben sowie über Carnaps Esperantoleidenschaft. Im Jahr 1909 übersiedelte die Familie Carnap in das von Onkel Wilhelm in Jena für Carnaps Mutter gebaute Haus, \pagebreak wo Carnap das letzte Jahr des Gymnasi\-\tboneA{37}ums absolvierte und 1910 mit dem Abitur abschloss (Abb.~\refcn{abitur}). ,,Here a much freer atmosphere prevailed in the school and among pupils than in Barmen.`` (AB,~A17) Carnap begegnete in Jena erstmals ,,the strange but fascinating heretical views of the iconoclast Ernst Haeckel`` (ebd.) und er begann im April 1909, seine Lektüren in einer hier ebenfalls abgedruckten, von da an zeitlebens mehr oder weniger akribisch geführten (allerdings nur mit einer bedauerlichen Lücke zwischen 1924 und 1928 erhaltenen) Leseliste zu protokollieren. Am Ende der Gymnasialzeit reiste Carnap ein zweites Mal nach Griechenland, zu Wilhelm Dörpfeld (Abb.~\refcn{schiffgriechenland}). Die Reise, die er zum Teil gemeinsam mit dem Halberstadter Gymnasialprofessor Heinrich Rüter unternahm, ist im Tagebuch~2 stichwortartig dokumentiert (vgl. TB~24.\,III.\,1910\diaryref{TB-24-III-1910}). \subsection{Studium in Jena und Freiburg (1910\hbox{--}1914)} Die Zeit vom Frühjahr 1910 bis zum August 1914 verbrachte Carnap hauptsächlich als Student in Jena und Freiburg (vgl. den Anhang, S.\,\pagerefcn{lehrveranst}). Er studierte Mathematik und Physik, hörte philosophische Vorlesungen, in Jena bei Rudolf Eucken, Herman Nohl und Bruno Bauch, in Freiburg bei Heinrich Rickert und Jonas Cohn. In Jena absolvierte Carnap außerdem mehrere Lehrveranstaltungen bei Gottlob Frege.\fnE{Vgl. die Einleitung zu Awodey und Reck, \textit{Frege's Lectures on Logic} sowie Schlotter, ,,Der dritte Mann``.} In seiner Autobiografie hebt Carnap die Lehrveranstaltungen von Nohl und Frege als prägend hervor; Nohl, mit seiner auf die Studierenden eingehenden Art und dem Versuch, das Lebensgefühl und den kulturellen Hintergrund von Philosophen sichtbar zu machen; Frege, mit seinen revolutionären Arbeiten in der Logik, die für Carnaps philosophische Entwicklung von entscheidender Bedeutung gewesen sind. (SCH, 4\hbox{--}6) Aber er merkt auch an: \begin{quotation}\selectlanguage{english}% On the whole, I think I learned much more in the field of philosophy by reading and by private conversation than by attending lectures and seminars. (SCH,~4) \end{quotation} \noindent Aus den ersten beiden Semestern von Carnaps Studienzeit in Jena gibt es wenig Befunde, eigentlich nur die Listen der besuchten Lehrveranstaltungen und der gelesenen Bücher, kaum Korrespondenz, keine Tagebücher. Bereits in diesem ersten Jahr seines Studiums fand Carnap Anschluss an den in Jena vom Verleger Eugen Diederichs gegründeten lebensreformerischen Serakreis, \pagebreak mit Verbin\-\tboneA{38}dung zur freideutschen Jugend, studentisches Gegenprogramm zu den Korporationen.\fnE{Vgl. Werner, \textit{Moderne in der Provinz}, 231\hbox{--}322 sowie Dahms, ,,The German Youth-Movement`` und Damböck et~al., \textit{Logischer Empirismus, Lebensreform und die deutsche Jugendbewegung}.} Aktivitäten in der Jugendbewegung setzten sich in Freiburg fort, dort im Rahmen der von Carnap mitbegründeten Akademischen Freischar. \begin{quotation} In Freiburg I belonged to a group called ,,Akademische Freischar``, which tried to develop new forms of individual and group life, in explicit contrast to the traditional way of life in the student corporations. On weekends we went hiking through the mountains of the Black Forest; in the winter time this was done on skis, the sport I loved most. In long evening discussions we tried to clarify our thoughts and valuations. Instead of following the traditional value standards, we strove to find our own ways of life. In social meetings and occasional festivals, music, folk-dances, and folks-songs were cultivated, and a new unconventional style of common meetings of boys and girls evolved. (AB,~B29) \end{quotation} \noindent Es waren private Gründe, die Carnap dazu gebracht haben, von 1911 bis 1912 drei Semester in Freiburg zu verbringen. Sein Cousin Friedrich von Rohden studierte dort Medizin und Carnap konnte sich in dessen Wohnung einquartieren (Abb.~\refcn{freiburgerker},~\refcn{freiburgzimmer}). Ein weiteres Motiv für Freiburg könnte Heinrich Rickert gewesen sein, ,,einer unserer bedeutendsten jetzigen Philosophen in Deutschland`` (TBT, 30.\,I.\,1912). Eher gegen Rickert als Grund von Carnaps Freiburg-Aufenthalt spricht jedoch, dass die Aktivitäten in dieser Zeit auf alles andere als die Vorgänge in den Universitätshörsälen gerichtet waren.\fnE{In den Leselisten bis 1919 taucht Rickert nur in der Gestalt eines eher nebensächlichen Aufsatzes über das Leib-Seele-Problem auf (LL~\refcn{353}).} ,,Mit der Anstrengung bei der geistigen Arbeit ist es auch nicht so gefährlich``, schrieb Carnap seiner Mutter mit bemerkenswerter Offenheit. ,,Die vorwiegende Tätigkeit hier in Freiburg ist ja doch das Festefeiern.``\fnE{Carnap an seine Mutter, 12.\,VII.\,1911 (\href{http://doi.org/10.48666/807594}{RC~025"~05"~31}).} Die Freiburger Episode war für Carnap also vor allem in sozialer Hinsicht wichtig. Die oben angesprochene (von der weit verbreiteten ,,Freistudentenschaft`` zu unterscheidende) ,,Akademische Freischar`` wurde von Carnap und seinem Cousin in Freiburg mitbegründet, zunächst als eine kleine Gruppe aus vier Personen.\fnE{Vgl. Carnap an seine Mutter, 18.\,VI.\,1911 (\href{http://doi.org/10.48666/807596}{RC~025"~05"~33}) sowie Werner, ,,Freund\-schaft|""Briefe|""Sera-Kreis``, 113\hbox{--}118.} Carnap berichtet von den Aktivitäten der Freischar in den Briefen an die Schwedin Tilly Neovius (TB~3=TBT), \pagebreak die er wahrscheinlich auf Schloss \tboneA{39} Mainberg\labelcn{mainberg} in Unterfranken kennengelernt hat (TBT, 6.\,XI.\,1911), in der dort von dem Hotelier, Theologen und Lebensreformer Johannes Müller (1864\hbox{--}1949) betriebenen ,,Pflegestätte persönlichen Lebens``. Diese Institution, eine Mischung aus Sektentempel, Wellnesshotel und Eheanbahnungsinstitut, hat Carnap, offenbar auf Anregung durch seine Mutter, die Müllers Schriften seit der Zeit um 1900 gelesen hatte, über Jahrzehnte regelmäßig besucht, auch nachdem sie 1916 nach Schloss Elmau in Südbayern verlagert wurde. Carnap hat die von Johannes Müller herausgegebene Zeitschrift \textit{Grüne Blätter. Zeitschrift für persönliche und allgemeine Lebensfragen} gelesen und war mit zahlreichen Personen aus dem Umfeld von Müller in Kontakt.\fnE{Zu Müller generell vgl. Haury, \textit{Von Riesa nach Schloss Elmau}, zu dessen Einfluss auf Carnap Carus, ,,Die religiösen Ursprünge des Nonkognitivismus bei Carnap``.}{\tolerance500\par} In die Freiburger Zeit fällt auch eine Reise Carnaps nach Marokko (März bis Mai 1912) zu der dort ansässigen Familie des mit Carnap verschwägerten Alfred Mannesmann (Abb.~\refcn{marokko}). Die Reise, bei der auch andere Mitglieder der Familie Carnap dazustießen, unternahm Carnap großteils gemeinsam mit Otto Garthe (Abb.~\refcn{ottogarthe}), späterer Lehrer an der Freien Schulgemeinde Wickersdorf, mit dem ihn in Freiburg eine intensive Freundschaft verband (vgl. TBA 27.\,IV., 4.\,V.\,1953, 15.\,I., 18.\,VI., 13.\,XII.\,1954, 1.\,IV.\,1954). TB~4 und die lebendigen Berichte in den entsprechenden Passagen der Tilly-Briefe geben über diese Reise Auskunft.\fnE{Zu den ersten Tagen der Reise vgl. außerdem das von Otto Garthe offenbar für Carnap verfasste Journal (\href{http://doi.org/10.48666/807598}{RC~025"~95}).} Zurück in Deutschland verbrachte Carnap den Sommer in Freiburg-Güntersthal in der Nähe der dort von Otto Garthe bewohnten Waldhütte. Spätestens in dieser Zeit lernte er Elisabeth Schöndube (Cha) kennen (Abb.~\refcn{elisabethhaubinda}, \refcn{chachawiesneck}), Schülerin an der Hermann-Lietz-Schule Haubinda und teilweise in Mexiko aufgewachsene Tochter des aus Deutschland ausgewanderten Großgrundbesitzers Heinrich Schön\-dube. Die in TB~5 farbig geschilderten Aktivitäten des Sommers 1912 (Abb.~\refcn{schlackl}\hbox{--}\refcn{ehrenberg})~-- ausgedehnte Wanderungen und Flirts mit Elisabeth Schöndube und Lotte Ehrenberg (Abb.~\refcn{ehrenberg})~-- verlagern sich teilweise nach Wiesneck, das Anwesen der Familie Schöndube nahe Buchenbach bei Freiburg, und kulminieren in einer Art Verlobungszene am 31.\,VII. sowie der Schilderung einer Bootsfahrt am Rhein im anschließenden August (TB~8.\hbox{--}9.\,VIII.\,1912). Das Studium hat Carnap in Jena intensiviert. Hatte er in Freiburg nur jeweils fünf Lehrveranstaltungen pro Semester belegt, waren es in Jena im Sommersemester 1913 elf, im folgenden Wintersemester gar~13, darunter vor allem Experimentalphysik, aber auch theoretische Physik und Mathematik, die Lehrveranstaltungen bei Frege (Carnap musste gelegentlich Freunde hinzuziehen, damit \tboneA{40} die Mindestanzahl von Hörern bei Frege erreicht werden konnte)\fnE{Vgl. Schlotter, ,,Der dritte Mann``.} und Philosophisches bei Bruno Bauch und Herman Nohl. Gleichzeitig fanden aber in diesen vier Semestern gesteigerte Aktivitäten Carnaps in der Jugendbewegung statt. Anfang Oktober 1912 hatte er seine Verlobte der Mutter vorgestellt.\fnE{Dazu ES, Eintrag ,,Oktoberferien 1912``.} Nach einem weiteren Treffen am 23.\,II.\,1913 in Weimar reiste Elisabeth Schöndube Ende März jedoch (gegen ihren ausdrücklichen Willen, vom Vater gezwungen) nach Mexiko und verbrachte die folgenden drei Jahre bis zum April 1916 auf dem Landgut Esperanza der Familie Schöndube.\fnE{Die ersten beiden Jahre dieser Zeit sind dokumentiert in ES, enthaltend Abschriften von zahlreichen Briefen an Carnap. Die Originale des Briefwechsels zwischen Carnap und seiner Verlobten aus dieser Zeit sind leider nicht erhalten.} Zurück in Jena\labelcn{avjena} gründete Carnap im November 1912 gemeinsam mit anderen Mitgliedern des Serakreises die ,,Akademische Vereinigung`` Jena, ihrerseits an der gleichnamigen in Marburg von Wolfgang Kroug und Fritz von Baußnern gegründeten Gruppe orientiert (der auch Carnaps Vettern Gotthold und Heinz von Rohden angehörten). Die AV wiederum mündete nach dem Treffen auf dem Hohen Meißner (siehe unten) in eine dem Freiburger Vorbild entsprechende ,,Freischar`` (TBT~23.\,XII.\,1912\diaryref{TBT-23-XII-1912}).\fnE{Vgl. Flitner, \textit{Erinnerungen}, 162, Werner, \textit{Moderne in der Provinz}, 299\hbox{--}307.} Neben den Gruppen in Freiburg, Jena und Marburg gab es vor allem Kontakte zum ,,Wandervogelnest`` in Naumburg, dort mit engem Anschluss an die Familien Räuber und Arends. In dieser Zeit entstanden zahlreiche Freundschaften, die Carnap zum Teil bis zum Ende seines Lebens pflegte. So etwa mit dem (ab 1917 mit Elisabeth Czapski verheirateten) Pädagogen Wilhelm Flitner, der seinerseits der gemeinsamen Zeit in seinen Lebenserinnerungen ein Denkmal gesetzt hat; Flitner blieb bis zum Ende der 1920er-Jahre zentrale Bezugs- und Vertrauensperson Carnaps; noch in den 1960er-Jahren wurde die Freundschaft wiederbelebt.\fnE{Flitner, \textit{Erinnerungen}, 126\,f., 239\,f., 272\,ff. Vgl.~Werner, ,,Freundschaft|Briefe|Sera-Kreis``.} Eine ebenfalls lebenslange Freundschaft enstand mit dem Kunsthistoriker Franz Roh, hier mit in den 1920ern verstärkten gemeinsamen Interessen im Umfeld von neuer Sachlichkeit, Antimetaphysik und Bauhaus.\fnE{Vgl. Dahms, ,,Neue Sachlichkeit in the Architecture and Philosophy of the 1920s``, ders., ,,Rudolf Carnap: Philosoph der Neuen Sachlichkeit`` sowie Damböck, \textit{Deutscher Empirismus}, 190\hbox{--}213.} Auch der Soziologe Hans Freyer spielte in dieser Phase für Carnap eine wichtige Rolle, wenn auch nicht vor dem Hintergrund einer engen Freundschaft und spätestens ab Mitte der 1920er gestört durch Freyers konservativ-revolutionäre Haltung.\fnE{Vgl. Tuboly, ,,The Constitution of \textit{geistige Gegenstände} in Carnap’s \textit{Aufbau}`` sowie Damböck, ,,Carnap, Reichenbach, Freyer`` und Muller, \textit{The Other God that Failed}.}\vspace{-2mm}\pagebreak \tboneA{41} Die studentischen Gruppen, denen Carnap angehörte, waren, anders als die Korporationen, offen für alle: Frauen, Juden, Katholiken und Ausländer waren willkommen.\fnE{Werner, \textit{Moderne in der Provinz}, 236\,f., 252\hbox{--}264.} AV und Freischar konterkarierten das Leben der Korporationen mit ihren starren Ritualen, männerbündlerischen Trinkgelagen und auf lächerlichen Ehrvorstellungen gründenden Duellen. Diese mit dem Wandervogel der Jahrhundertwende einsetzende Jugendbewegung, deren Grundsätzen sich Carnap zeitlebens nahe fühlte, war abstinent orientiert und auf ein naturnahes Leben fokussiert. Personell mehr oder weniger identisch waren diese studentischen Gruppen mit dem Serakreis um Eugen Diederichs, dessen ,,ständiger Schauplatz`` laut Wilhelm Flitner ,,Carnaps Rosengarten auf der Lindenhöhe`` wurde.\fnE{Flitner, \textit{Erinnerungen},~142.} Die Treffen des Serakreises kulminierten jeden Sommer im Feiern der Sonnenwende (Abb.~\refcn{sonnwende}). \begin{quotation}\selectlanguage{english}% The latter was a very impressive experience. Influenced by Scandinavian customs, there were songs, dances, and plays. Diederichs read the Hymn to the Sun by St. Francis of Assis, after sundown the big fire was lighted, encircled by the large chain of singing boys and girls, and when the fire had burned down there came the jumping of the couples through the flames. Finally, when the large crowd of guests had left, our own circle remained lying around the glowing embers, listening to a song or talking softly, until we fell asleep in the quiet night under the starry sky. (AB,~B30) \end{quotation} \noindent Im Sommer 1913 unternahm Carnap eine Reise nach Schweden, die er gemeinsam mit Otto Garthe geplant, dann aber alleine absolviert hat. Bald nach der Rückkehr fand am 11. und 12.\,X.\,1913 der Erste Freideutsche Jugendtag auf dem Hohen Meißner\labelcn{meissnertreffen} statt (Abb.~\refcn{arends}\hbox{--}\refcn{meissner}).\fnE{Vgl. Mogge und Reulecke, \textit{Hoher Meißner 1913}, zur Kontextualisierung dieses Schlüsselereignisses der Jugendbewegung mit dem späteren Logischen Empirismus Damböck et~al., \textit{Logischer Empirismus, Lebensreform und die deutsche Jugendbewegung}.} \begin{quotation} This meeting was arranged in opposition to the patriotic centenary celebration of the ``War of Liberation'' of 1813, which was staged in Leipzig with great military pomp in presence of the Kaiser. But more important for us than this protest was the positive idea. For the first time the unity of the great German Youth Movement became visible, which, in spite of all the differences between the groups, was inspired by a common aim. \pagebreak The aim was to find a way \tboneA{42} of life which was genuine, sincere, and honest, in contrast to the fakes and frauds of traditional bourgeois life; a life, guided by the own conscience and the own standards of responsibility and not by the obsolete norms of tradition. (AB,~B31"~B32) \end{quotation} \noindent Das Treffen am Hohen Meißner war für Carnap und seine Generation ein prägendes Erlebnis. Für Carnap, aber auch den gleichaltrigen Hans Reichenbach (durch Zufall lernten sich die beiden späteren Schlüsselfiguren des Logischen Empirismus erst 1922 näher kennen) waren die Lehren des Pädagogen Gustav Wyneken~-- zentrale Persönlichkeit des Meißnertreffens~-- bedeutsam, der die Jugend als Zeit der ,,Menschwerdung`` sah, in der die in der Kindheit sozial angeeigneten Werte überprüft und erneuert werden, im Sinne einer ,,Erweiterung jenes objektiven Geistesbesitzes``.\fnE{Wyneken, \textit{Schule und Jugendkultur},~12.} Reichenbach gab, davon ausgehend, folgender ethischen Haltung der Jugendbewegung der Vorkriegszeit Ausdruck, die Carnap geteilt hat: \begin{quotation} \textit{Das ethische Ideal ist der Mensch, der in freier Selbstbestimmung sich seine Werte schafft und als Glied der sozialen Gemeinschaft diese Autonomie für alle und von allen Gliedern fordert}.\fnE{Reichenbach, ,,Die freistudentische Idee``, 26, im Original kursiv.} \end{quotation} \noindent Das heißt, es geht nicht um einen Kompromiss oder Konsens in Wertfragen, sondern darum, dass jede und jeder seine Werte selbst wählt und diese Freiheit von allen anderen ebenfalls fordert, respektive die von den anderen frei gewählten Werte dann auch so akzeptiert, wie sie sind. Eine derart anarchische Haltung war nur in dem besonderen Klima der Vorkriegszeit möglich (was tun, wenn meine Mitmenschen Forderungen stellen, die mir zum Schaden gereichen?). Dennoch passte diese Sichtweise gut mit der Wertphilosophie von Carnaps Großvater zusammen: Nach 1918 konnte der reife Nonkognitivismus Carnaps aus dieser Kombination entstehen.\fnE{Vgl. Damböck, ,,Carnap, Reichenbach, Freyer``, Damböck und Werner, ,,Einleitung zu Hans Reichenbach``, Padovani, ,,Hans Reichenbach and the \textit{Freistudentenschaft}`` sowie unten, Abschnitt~\refcn{sec:intro.C.4}.} Die Jahre in Jena bis zum Kriegsausbruch hat Carnap selbst als prägend empfunden (auch wenn die Identifikation hier in der dritten Person erfolgt): \begin{quotation} [\ldots] the spirit that lived in this movement, which was like a religion without dogmas, \pagebreak remained a precious inheritance for everyone who had the good \tboneA{43} luck to take an active part in it. What remained was more than a mere reminiscence of an enjoyable time; it was rather an indestructible living strength which would forever influcence one's reactions to all practical problems of life. (AB,~B34"~B35) \end{quotation} \noindent Im Tagebuch sind die formativen Jahre von 1912 bis 1914 nur skizzenhaft dokumentiert. Carnaps Leben in dieser Zeit war auf das gesellige Agieren und das Studium fokussiert. Er betätigte sich als Leitfigur in AV und Freischar, schritt bei den Umzügen des Serakreises und der Freischar als Erster voran (Abb.~\refcn{jenaleipzig}), organisierte und interagierte intensiv. Dagegen lief das erotische Leben auf Sparflamme. Die Braut war in Mexiko und wurde Carnap zusehends fremd. Die Begegnungen mit Freundinnen aus der Jugendbewegung wie Dodo Czapski, Elisabeth Kaßner oder Margret Arends (Abb.~\refcn{arends}) blieben, dem Zeitgeist entsprechend, keusch. Auch war Carnap, anders als Reichenbach, speziell in der Zeit von 1912 bis 1914 intellektuell eher passiv. Von Vorlesungsmitschriften abgesehen sind aus dieser Zeit keine intellektuellen Produkte Carnaps erhalten, weder literarischer noch wissenschaftlicher Art, sieht man von zwei anspruchslosen Berichten über jugendbewegte Aktivitäten ab.\fnE{Carnap, ,,Gründungsgruppe Jena~I`` und ders., ,,Ein Brief, worin steht, ob man nach Schweden fahren soll``.} Allerdings hatte Carnap schon 1911 in Freiburg einen philosophisch bemerkenswerten Vortrag über ,,Religion und Kirche`` gehalten.\fnE{Vgl. Carus, ,,Einleitung zu Carnap``.} Dieser in einem engeren Sinn philosophische Text steht allein in Carnaps Jugendzeit bis zum Alter von 25 Jahren. Er lässt Elemente seiner späteren praktischen Philosophie erahnen, ohne jedoch zu konzeptueller Schärfe zu gelangen wie die oben zitierte metaethische Schrift Reichenbachs. Carnap hat die formativen Jahre vom neunzehnten bis zum fünfundzwanzigsten Lebensjahr, prolongiert durch den Weltkrieg, als Peer Gynt'scher Tatmensch verbracht, der erst danach, im schon gereiften Alter, mit geistiger Aktivität hervortrat. Die letzten Jahre des Fin de siècle zeigen also bei Carnap bereits eine Tendenz zur intellektuellen Spätreife, die vom im August 1914 ausgebrochenen Weltkrieg lediglich prolongiert wird. \subsection{Carnaps Zeit im unmittelbaren Kriegsgeschehen (1914\hbox{--}1917)}\labelcn{kriegbeginn} Die \emph{Kriegstagebücher Carnaps} (TB~10 bis TB~19), in denen seine Erfahrungen im unmittelbaren Kriegsgeschehen und der darauf abzielenden Ausbildung geschildert sind (August 1914-August 1917), \pagebreak bilden das Herzstück dieses Bandes und \tboneA{44} sind in einem über ihre Relevanz für Carnaps Biografie hinausgehenden Sinn bedeutsam als Dokumente zur Lebenswelt des Krieges, deren Erforschung in der neueren Militärgeschichte immer mehr vor den Standpunkt der militär\-strate\-gi\-schen auf Politiker- und Generalsbiografien aufgebauten Schlachtenhistorie tritt.\fnE{So exemplarisch in Leonhard, \textit{Die Büchse der Pandora}. Vgl. auch die neueren multiperspektivischen Dokumentationen der Kriegserfahrung, in die sich Carnaps Text gut einordnen lässt: Walther, \textit{Endzeit Europa}, Osburg, \textit{Hinein geworfen} sowie Jessen, \textit{Verdun 1916}.} Carnaps Bericht enthält keine Reflexionen über das globale politische Geschehen oder die strategische Rolle der Kriegsereignisse, an denen er beteiligt ist. Stattdessen werden Verbindungen sichtbar zwischen der Kriegswelt und der zivilen Lebenserfahrung eines jungen Intellektuellen und Mitglieds der deutschen Jugendbewegung. Der Krieg kam Carnap zunächst durchaus gelegen,\fnE{Zur Entwicklung von Carnaps Sicht des Krieges vgl. Wolters, ,,Philosophenkrieger``, Dahms, ,,The German Youth-Movement`` und ,,\,,Pacifist, Anti\-\tboneA{45}militarist, Anti-monarchist, perhaps also Socialist`{?}`` sowie Werner, ,,Jugend im Feuer`` und ,,Freundschaft|Briefe|Sera-Kreis``, 118\hbox{--}124. Zur Historiografie der intellektuellen Sicht auf den Ersten Weltkrieg in Deutschland siehe Sieg, \textit{Geist und Gewalt}, 103\hbox{--}149.} wie eine Bemerkung in den Tilly-Briefen nahelegt: \begin{quotation} Bei der seltsamen und undurchschaubaren politischen Lage jetzt denkt man hier noch immer an die Möglichkeit eines Krieges, wenn man ihn auch nicht gerade für wahrscheinlich hält. Wenn ich dem ganzen Land auch nicht den Schaden wünsche, den es durch einen Krieg in jedem Falle auf materiellem und kulturellem Gebiet haben würde,~-- mir persönlich wär's schon recht, wenn's losginge. Ich habe manchmal so wahnsinnige Sehnsucht, aus dem stillen Sitzen rauszukommen. Es kommt mir auch manchmal so vor, als würde ich es mal erleben können, für eine Zeit lang auf Abenteuer in die weite Welt zu ziehen, und mal alle liebgewohnten alten Fäden heimlich loszuknüpfen und in Europa zurückzulassen. (TBT, 30.\,XI.\,1912) \end{quotation} \noindent Diese Haltung muss gewichtend einbezogen werden, wenn man folgende Passage aus Carnaps Autobiografie liest: \begin{quotation} The outbreak of the war in 1914 was for me an incomprehensible catastrophe. Military service was contrary to my whole attitude, but I accepted it now as a duty, believed to be necessary in order to save the fatherland. Before the war, I, like most of my friends, had been uninterested and ignorant in political matters.~[\ldots] \pagebreak the general of our political thinking was pacifist, anti-militarist, anti-monarchist, perhaps also socialist. But we did not think much about the problem of how to implement these ideals by practical action. The war suddenly destroyed our illusion that everything was already on the right path of continuous progress. (SCH,~9) \end{quotation} \noindent Nicht alles was Carnap hier sagt, ist falsch. Die eher indifferente Einstellung zu politischen Fragen wird aus den Tagebüchern offensichtlich. Aber Carnap unterstützte vor dem Krieg nicht die Sozialdemokratie (damals die größte Partei im Reichstag), sondern die Liberale Partei. Carnap trat als Kriegsfreiwilliger an die Front und engagiert sich, sosehr er nie den nationalistischen Tonfall der ,Ideen von~1914` aufgegriffen hat, mit Diensteifer im Krieg und entwickelt eine offen pazifistische Haltung erst spät, gegen Kriegsende. Seine Sicht des Krieges als ,unfassbare Katastrophe` ist erst nach 1918 entstanden und hat sich wohl überhaupt erst im späten Rückblick des dann Siebzigjährigen so unzweideutig dargestellt. 1914 sah Carnap den Krieg eher als eine willkommene Möglichkeit der Fortsetzung jugendbewegten Tatmenschentums mit anderen Mitteln. Auch wenn er von manchen Aspekten der nationalistischen Propaganda abgestoßen gewesen sein mag, so kennzeichnet diese Zeit in Carnaps Biografie eine zumindest ambivalente, stellenweise affirmative Aufnahme von völkischem Denken. So liest und diskutiert Carnap etwa bis 1917 zahlreiche Schriften von Houston Stuart Chamberlain, er nennt noch im Mai 1917 Geza von Hoffmanns \textit{Krieg und Rassenhygiene} eine ,,sehr brauchbare kurze Zusammenfassung der Zustände und Bekämpfungsmittel`` (LL~\refcn{1113}), sympathisiert also, mit Aspekten der Eugenik.\fnE{Vgl. Carnap, \textit{Der logische Aufbau der Welt}, \S,152, wo von der Konstitution ,,rassehygienicher Werte`` die Rede ist, dazu auch Mormann, ,,Werte bei Carnap``, 182\hbox{--}184. Zur Eugenik und ,,Rassenhygiene`` in der Linken vgl. Mocek, \textit{Biologie und soziale Befreiung}.} Die den Ideen von 1914 zugehörige Schrift \textit{Der Krieg und die Jugend} des Reformpädagogen Gustav Wyneken, in dessen Umfeld Carnap wie Reichenbach in den Vorkriegsjahren agierten, führte bei Reichenbach zum Zerwürfnis mit Wyneken,\fnE{Vgl. Padovani, ,,The 1915 Reichenbach-Wyneken Correspondence``.} bei Carnap hat es eher den Kriegseifer weiter befeuert (vgl. TB~24.\,III.\,1915\diaryref{TB-24-III-1915}). Die Kriegserfahrungen führen bei Carnap nicht wie bei vielen anderen zu rascher Ernüchterung, trotz der erschreckenden Todesnachrichten von dem Freund aus der Jugendbewegung Karl Brügmann (7.\,I.\,1915) und dem Halbbruder Josua Carnap (27.\,XII.\,1914, vgl. Abb.~\refcn{josua}). Diese katastrophalen Ereignisse werden im Tagebuch und in der Korrespondenz scheinbar emotionslos registriert. Nach der teilweise gemeinsam mit Flitner absolvierten Ausbildung in Naumburg, München und Garmisch gelangt Carnap im Februar 1915 \pagebreak an die Front bei Pohar \tboneA{46} (heute westliche Ukraine) als einfacher Soldat in einem Schneeschuhbataillon (Abb.~\refcn{schneeschuh}). Die dort verbrachten knapp drei Monate werden von ihm eher wie die besondere Variante eines Schiurlaubs geschildert. Er wertet die Notizen im Tagebuch zu langschriftlichen Aufzeichnungen über seine Kriegserlebnisse aus, die unter Freunden und Verwandten zirkulieren. Im April wird Carnap in die Bukowina bei Czernowitz verlegt. Bei den dort vermehrt auftretenden Besäufnissen bleibt er abstinent, Besuche im Bordell macht er gelegentlich zwar mit, aber ohne die dort angebotenen Dienste in Anspruch zu nehmen. Das Leben abseits der Front löst Langeweile aus und verstärkt Carnaps Karrierebestrebungen. Nach einer Grippeerkrankung im Mai 1915 erhält er erstmals Urlaub und wird anschließend ins Riesengebirge (bei Jelenia Góra im heutigen Polen) verlegt. Das folgende Jahr verbringt er in der Ausbildung, unterbrochen durch eine skurril anmutende tagelange Zugfahrt, die in Richtung Front geht, aber nie dort endet (1.\,\hbox{--}\,11.\,XI.\,1915), sowie durch gelegentliche Urlaube (TB~10.\,\hbox{--}\,24.\,VI.\,15, 24.\,XII.\,15\,\hbox{--}\,3.\,I.\,16, 18.\,III.\,\hbox{--}\,28.\,III.\,16). Carnaps Diensteifer wird durch das als zermürbend und langweilig empfundene Leben in dieser Zeit gedämpft. Er sieht mit Unbehagen, dass viele seiner Kameraden längst zum Leutnant befördert sind, während er erst im November 1915 zum Offiziers-Kurs zugelassen wird (TB~10.\,11.\,1915\diaryref{TB-10-11-1915}). Auch die von ihm unmittelbar miterlebte schwere Verletzung seines Freundes aus der Jugendbewegung Fritz Becker bei der Kletterausbildung~-- ein offener Schädelbruch, den dieser nur knapp überlebt (8.\,VIII.\,1915)~-- dämpft die Stimmung.{\tolerance500\par} Zurück an die Front~-- mit neuem Elan, weil zum Leutnant einer MG-Kompa\-nie befördert (Abb.~\refcn{leutnant}), und mit Privilegien wie einem ,Burschen` und einem eigenen Pferd ausgestattet~-- gelangt Carnap erst Ende April 1916, diesmal nach Frankreich. Bis zum endgültigen Abzug von der Front im Sommer 1917 verbringt er große Teile seiner Zeit an verschiedenen Schauplätzen der Westfront im Stellungskrieg und erlebt den Gaskrieg, verlustreiche Kämpfe in der Gegend von Douaumont im Oktober 1916 und die ,Schlacht am Winterberg` Anfang Mai 1917, bei der er eine (offenbar leichte) Verwundung am Kopf davonträgt. Die Erlebnisse zwischen April 1916 und Sommer 1917 führten bei Carnap zu einem Kriegstrauma, das in den 1950er-Jahren ein Thema seiner Psychoanalyse sein wird (TBA 13.\,II., 15.\,V. u. 7.\,VII.\,1953, 25.\,XI. u. 10.\,XII.\,1954). Das Traumatische des Erlebten wird jedoch im Tonfall des Tagebuchs kaum sichtbar. Im Gegenteil erscheinen die Schilderungen, etwa in dem nachträglich im Krankenrevier verfassten Bericht von den Kämpfen am Winterberg (TB~18) martialisch, teils zynisch. Merkwürdig isoliert dagegen die Bemerkung am 18.\,XI.\,1916: ,,die Tage von ,Douaumont` haben tiefe Spuren zurückgelassen.`` Von dieser Andeutung abgesehen ist im Tagebuch kaum etwas von den Ängsten, den Problemen \tboneA{47} mit Vorgesetzten, dem Schock angesichts schwerer Verwundung und Tod zu erkennen, alles Dinge, die Carnap vierzig Jahre später in der Psychoanalyse thematisiert.{\looseness1\par} Wenige Wochen vor Carnaps Zug an die Westfront, Anfang April 1916, kehrt Elisabeth Schöndube aus Mexiko zurück. Ein Treffen vor der Reise an die Front misslingt. Die Verlobten treffen einander daher erst Ende August 1916 in Jena, dreieinhalb Jahre nach der letzten Begegnung vor Elisabeths Abreise nach Mexiko. Die Begegnung im Kreis von Carnaps Familie wird von ihm in ungewöhnlicher tabellarischer Form darstellt (TB~25.\,VIII.\,\hbox{--}\,2.\,IX.\,1916). In tagelangen Gesprächen und Spaziergängen finden die Verlobten nicht zueinander und beschließen am 31.\,VIII.\,1916, die Verlobung zu lösen. Nur das Insistieren von Carnaps Mutter~-- sein ,,Tod wäre nicht so schlimm`` wie das Lösen der Verlobung~-- lässt sie den Entschluss revidieren. Die nächsten Treffen finden erst wieder im März und Juni 1917 in Wiesneck statt, bald darauf, am~27.\,VIII., ist die Hochzeit. Warum die Verlobten zunächst diese Beziehung auflösen wollten, wird aus dem Tagebuch nicht klar. Sicher ist, dass sich die Verlobten in der langen Phase der Trennung entfremdet hatten. Die zwei Jahre des Studiums in Jena, im Serakreis und in der Freischar, hatte Carnap ohne die Braut verbracht; und auch in der Zeit der Heimaturlaube während des Krieges hatte er für ihn wichtige Kontakte gepflegt, zu den Familien Czapski, Arends und Räuber. Carnaps Beziehungen zu Helene Czapski und Margret Arends könnten mehr als bloß freundschaftlich gewesen sein. Seine erotische Phantasie ging um 1916 vielleicht in eine andere als die von Verlobter und Mutter anvisierte Richtung (Abb.~\refcn{mutterundchacha}). Insgesamt war Carnaps erste Ehe also eine dem damaligen Zeitgeist entsprechend von den Eltern, vor allem der Mutter Carnaps, forcierte Verbindung. Die unschuldige Verbrüderungsepisode zweier unreifer Menschen (TB~31.\,VII.\,1912\diaryref{TB-31-VII-1912}) zog nicht ein tieferes Kennenlernen nach sich, sondern erst jahrelange Entfremdung und dann eine im protestantischen Reagenzglas gestiftete Ehe: überkommene Moralvorstellungen statt freier Entscheidung. Carnaps soziales Verhalten im militärischen Kontext war, soweit es sich aus den Tagebüchern rekonstruieren lässt, distanziert kameradschaftlich. Er war hilfsbereit, engagiert und ehrgeizig, stolz auf die Verleihung des Eisernen Kreuzes (TB~24.\,IX.\,1916\diaryref{TB-24-IX-1916}). Über die gesamte Kriegszeit blieb Carnap enthaltsam, und zwar sowohl hinsichtlich Alkohol und Nikotin als auch in sexueller Hinsicht. Es liegt nahe, dass er im Zusammenhang damit von seinen Kriegskameraden mitunter als Außenseiter wahrgenommen wurde. Andererseits beteiligte sich Carnap durchaus an diversen harmloseren Scherzen und fand das eine oder andere Mal auch zu Gesprächen, die über den engen Horizont des Barackengeplänkels hinausgingen, so etwa der Austausch mit dem Soldaten Mitteldorpf am 18.\,III.\,1915, \tboneA{48} der in der visionären, für das ganze spätere Leben Carnaps zutreffenden Selbsteinschätzung kulminiert:{\tolerance500\par} \begin{quotation} Ich bin kein Propagandist (siehe Abstinenz); glaube auch, der Allgemeinheit zu dienen (ich denke für mich ,dem Objektiven`), indem ich meiner Befähigung entsprechend nicht Menschenbeeinflussung, sondern wissenschaftliche Arbeit leiste. (TB~18.\,III.\,1915\diaryref{TB-18-III-1915}) \end{quotation} \noindent In mancher Hinsicht ist Carnaps Lebensweise in dieser Zeit nicht unähnlich derjenigen des ebenfalls durch ein umfangreiches Kriegstagebuch hervorgetretenen, fast gleichaltrigen Ernst Jünger.\fnE{Jünger, \textit{Kriegstagebuch}.} Während jener aber Nationalist und Kriegsapologet war und blieb und in den 1920er-Jahren zu einem zentralen Repräsentanten der konservativen Revolution avancierte, illustriert Carnaps Tagebuch von ganz ähnlichem Ausgangspunkt aus eine in die Gegenrichtung verlaufende Entwicklung. Der bereits erwähnte Vortrag ,,Religion und Kirche`` von 1911 ist das Produkt akzidenteller geistiger Aktivität. Systematischer begann Carnap seine Gedanken erst ab dem Frühjahr 1916 zu ordnen, zunächst motiviert durch eine offenbar in der Familie Carnaps diskutierte völkische Propagandaschrift des Geistlichen Paul Le~Seur.\fnE{Carnap, ,,An Pastor Le~Seur``. Vgl.~auch Carus, ,,Einleitung zu Carnap`` sowie ders., ,,Die religiösen Ursprünge des Nonkognitivismus bei Carnap``.} Der von Carnap verfasste (nur im privaten Rahmen zirkulierende) ,,offene Brief`` an Le~Seur gibt der Hoffnung den Ausdruck, dass die ,,Kultur``, die ,,sich noch zu schwach erwiesen hat, um dies Unheil [den~Krieg,~C.\,D.] für alle Völker abzuwehren``, einst stark genug werden könnte, dass ,,die Kriege wirklich aufhören``~(5). Zwar sieht Carnap, durchaus idealistisch, ,,Kultur`` als ,,den Geist``, der in ihren ,,materialen oder idealen`` ,,Gütern Fleisch geworden ist``. Aber er weigert sich gleichzeitig, den Einzelnen als bloßes Verrichtungsorgan eines vorgegebenen Geistes zu sehen: \begin{quotation} [I]ch stehe nur als natürliches Wesen in dem Kausalnexus. Als ethisches Wesen bin ich selbst dagegen frei entscheidendes Subjekt meiner Handlungen. (18) \end{quotation} \noindent Carnaps Lektüre in dieser Zeit blieb nach wie vor eher auf Militaria und gängige Kriegsliteratur beschränkt sowie auf zeitgenössische Prosa und Klassiker wie Goethe oder Shakespeare. \pagebreak Philosophisches (in seinem späteren Sinn) hat Carnap, \tboneA{49} in der gesamten Epoche von 1908 bis Ende~1919, vor allem Folgendes gelesen: Die Kritiken und die Prolegomena Kants, ein paar Texte von Frege, etwas an Fach\-literatur zur Mathematik und Physik, vor allem aber die naturwissenschaftlich orientierten Philosophen und philosophisch orientierten Physiker (in chronologischer Reihenfolge des Auftauchens in den Leselisten): Theodor Ziehen, Ernst Haeckel, Emil du Bois-Reymond, Ernst Mach, Wilhelm Ostwald, Gustav Theodor Fechner, Hermann Ebbinghaus, Henri Poincaré, Wilhelm Wundt, Philipp Frank, Carl Stumpf, Max Planck, Hermann von Helmholtz, Max von~Laue, H.A.~Lorentz, Albert Einstein, Hermann Minkowski, Moritz Schlick, Josef Petzoldt, Paul Natorp. Die einschlägige Lektüre Carnaps erfolgte in dieser Zeit stets nebenbei~-- im Zentrum standen Belletristik und Sachbücher. Es fällt aber auf, dass nach der wohl weitgehend durch das Studium bedingten Lektüre einschlägiger Texte in den zweieinhalb Jahren von Herbst 1913 bis Frühjahr 1916 kein einziger der genannten Autoren in den Leselisten auftaucht. Erst im August 1916 beginnt Carnap sich wieder für die naturwissenschaftlich orientierte Philosophie zu interessieren, liest Mach, Helmholtz, Poincaré, ein Ansatz, den er ab Herbst 1917 weiter verfolgt. Die Lektüre\labelcn{physikimkrieg} im Sommer 1916 war ausgelöst durch Diskussionen Carnaps mit Wilhelm Flitner und Erich Gabert über ,,Reduktion in der Physik``, die ihren Ausgangspunkt bei Goethes \textit{Farbenlehre} nahmen.\fnE{Vgl. TB~6.\,VII.\,1916\diaryref{TB-6-VII-1916} und die dortigen Hinweise.} Den Vorwurf von Flitner und Gabert, die Auffassung, dass mechanische Vorgänge ,,realer sein soll[en], als die Farbe``, die der ,,erlebende Mensch`` sieht, sei eine ,,erkenntnistheoretische Ungeheuerlichkeit`` weist Carnap zurück: \begin{quotation} Da [\ldots] die \textit{Physik} die Aufgabe hat, die Naturvorgänge möglichst einfach zu beschreiben, so ist es zweifellos für sie ein großer Fortschritt, wenn es ihr z.B. gelungen ist, die akustischen Phänomene als reine Bewegungsvorgänge darzustellen.\fnE{Carnap an Flitner, 8.\,VII.\,1916 (\href{http://doi.org/10.48666/807600}{RC~115"~03"~14}).} \end{quotation} \noindent Eine Reduktion aller Phänomene auf die einfachere Sprache der Physik scheint Carnap also wissenschaftlich ebenso möglich wie wünschenswert. Bis zu der von ihm schließlich ab 1930 eingenommenen physikalistischen Weltsicht war der Weg trotzdem noch weit. Auch ist die Debatte über Physik im Sommer 1916 nur eine Episode~-- Carnap endigt mit eher kritischen Bemerkungen über philosophierende Physiker (,,selbst so ein tüchtiger Kopf wie Mach erregt hier oft mein Kopfschütteln``), empfiehlt aber die Lektüre von Poincaré, Natorp oder\linebreak \tboneA{50} Wundt.\fnE{Carnap an Flitner, 29.\,VIII.\,1916 (\href{http://doi.org/10.48666/807606}{RC~115"~03"~19}).} Immerhin nimmt er aus der Zeit im Sommer 1916 die Bekanntschaft mit Einsteins Relativitätstheorie (vgl. die Leselisten) mit, wie er sich später (mit falscher Datierung auf das Jahr 1917) erinnert: \begin{quotation} Even during the war, my scientific and philosophical interests were not entirely neglected. During a quiet period at the Western Front in 1917 I read many books in various fields~[\ldots] At that time I became acquainted with Einstein's theory of relativity, and was strongly impressed and enthusiastic about the magnificent simplicity and great explanatory power of the basic principles. (SCH,~10) \end{quotation} \noindent Diese Interessen verfolgte Carnap in Berlin im Jahr 1918 weiter und schrieb dort Rundbriefe zur Relativitätstheorie an seine Freunde.\fnE{Vgl. ,,Rundbrief über Relativitätstheorie`` (\href{http://doi.org/10.48666/807611}{RC~081"~22b}).} Allerdings wurde die Wissenschaftsphilosophie (als akademische Tätigkeit) erst 1920 zu einem konkreten Berufsziel Carnaps. Er hatte zwar, wie er in der Autobiografie schreibt, schon vor dem Krieg die vage Idee verfolgt, einst Universitätslehrer zu werden, ,,but I had not decided whether in philosophy or in physics``. (SCH,~10) In den Vordergrund drängte sich nach dieser naturwissenschaftlichen Episode im Sommer 1916 wieder die zusehends kritisch empfundene Lebenssituation. Nach dem Kriegstod von Heinz von Rohden im Juni 1916 schreibt Carnap an Flitner: ,,Keinem Kameraden hier hab ich auch nur erzählen können, daß ein Vetter von mir gefallen ist. [\ldots] es fehlt, will mir scheinen, bei denen so vollständig der Begriff des wertvollen Menschen.``\fnE{Carnap an Flitner, 20.\,VII.\,1916 (\href{http://doi.org/10.48666/807614}{RC~115"~03"~15}).} Die Distanz zum sozialen Umfeld im Krieg wird in den Tagebüchern kaum sichtbar, Carnap artikuliert sie aber gegenüber Freunden. Das Empfinden der Isoliertheit bedeutet gleichzeitig eine immer dis\-tanziertere Haltung zum Krieg, der zusehends als sinnloses Unheil empfunden wird. Noch drängender werden aber die Sorgen um die eigene Zukunft nach dem zu erwartenden Ende des Krieges. Kurz vor den schließlich zum Ende seiner Laufbahn im Feld führenden Kämpfen am Winterberg schreibt Carnap an Flitner im April 1917: \begin{quotation} Was wird die Aufgabe unseres engeren Kreises sein, und was innerhalb dieser meine eigene? Bei beiden Fragen bedrückt mich oft die Unabgeschlossenheit meines Studiums.~[\ldots] Diese Gedanken bedrücken mich oft so sehr, daß ich sie verjagen muß und zur gegenwärtigen, \pagebreak doch so wenig befriedigenden \tboneA{51} Wirklichkeit zurückkehre, oder auch zu Gegenständen (durch Bücher), an die ich rein sachlich, ohne Beziehung auf meine Gegenwart und Zukunft denken kann.~-- Früher hat mir das wenig Kummer gemacht; man sagte sich: wer weiß, ob man den Frieden überhaupt erlebt [\ldots]. Jetzt ist das anders; alles spricht vom Frieden~[\ldots] Du verstehst vielleicht, daß ich manchmal~[\ldots] mit gemischten Gefühlen an den ,,Ausbruch des Friedens`` denke?\fnE{Carnap an Flitner, 13.\,IV.\,1917 (\href{http://doi.org/10.48666/807818}{RC~081"~48"~02}).} \end{quotation} \noindent Das für seine Jugendzeit charakteristische Tatmenschentum Carnaps war zu Ende. Resultat der Erkenntnisse~-- trübe Gegenwart und ungewisse Zukunft, vier Jahre in einem sinnlosen Krieg verloren~-- war eine nachhaltige Politisierung. \subsection{Kriegsende und Revolution. Berlin, Jena, Wiesneck (1917\hbox{--}1919)}\labelcn{sec:intro.C.4} Am 27.\,VIII.\,1917 findet die Hochzeit Carnaps mit Elisabeth Schöndube statt (Abb.~\refcn{hochzeit}). Nur einen Tag zuvor ist Carnap von der Westfront nach Hause gekommen. An diesem Tag hört er auf, das umfangreich beschreibende Kriegstage\-buch weiter zu führen. In den folgenden Monaten der jungen Ehe artikuliert er sich nicht im Tagebuch. Am Ende dieser Phase wohnen die Carnaps in Berlin (Carnap zumindest in der ersten Zeit noch nachtsüber in der Kaserne). Statt der von Carnap angestrebten Ausbildung zum Flieger~-- er hatte sich bereits am 26.\,VII.\,1916 zur Fliegertruppe gemeldet, war schließlich im Juli 1917, nach dem dritten Gesuch, als tauglich erklärt worden (25.\,VII.) und hatte im August tatsächlich die Fliegerausbildung in Chimay begonnen (ab 12.\,VIII.)~-- war Carnap nun in Berlin, bei der Tafunk\labelcn{tafunkwien} (Technische Abteilung der Funkertruppen), gelandet, die von seinem Jenaer Physik-Professor Max Wien geleitet wurde (Abb.~\refcn{tafunk}). Warum Carnap nun doch Wiens Angebot gefolgt war, in diese Truppe im Hinterland einzutreten, das er noch im Dezember 1916, eben wegen der Hoffnung auf die Fliegerei, ausgeschlagen hatte (vgl. TB~14., 16., 22.\,XII.), geht nicht aus dem Tagebuch hervor. Die Aussichten auf Familienleben mögen ebenso eine Rolle gespielt haben wie eine fortschreitende Desillusionierung in Sachen der Sinnhaftigkeit des Krieges. Jedenfalls hat Carnap den Entschluss nicht bereut. Statt der Aussicht auf Heldentum (und -tod) bot sich in der Metropole Berlin ein reiches intellektuelles Leben. Neben dem sporadischen Dienst in der Funkabteilung des Jenaer Professors~-- seine Aufgaben waren das Testen von Funkapparaten sowie die Betreuung der Bibliothek der Abteilung~--\fnE{Elisabeth Carnap an unbekannten Empfänger, 4.\,X.\,1917 (\href{http://doi.org/10.48666/807618}{RC~025"~85"~84}).} \pagebreak blieb genügend Zeit für den häu\-\tboneA{52}figen Besuch von Theater- und Konzertabenden sowie regelmäßige Aktivitäten im Umfeld der Freideutschen. Diese über die Zeit Carnaps in Berlin (November 1917 bis Dezember 1918) verteilten freideutschen Aktivitäten waren intensiv, wie das Tagebuch illustriert. Im Frühjahr und Herbst 1918 gab es phasenweise mehrmals pro \mbox{Woche}, nach der Revolution und dem Ende der Kriegstätigkeit Carnaps (16.\,XI.), über zwei Wochen tägliche Treffen: Vorträge, Diskussionsabende, häufig bei den Carnaps, oft in größerer Runde von bis zu 10 oder 12~Personen. Obwohl Carnap das Stadtleben wenig geschätzt hat~-- ein Zug, der ihm später blieb, der Großstadtlärm war nie seine Sache --, profitierte er in seinem Jahr in Berlin von dem dortigen weltoffenen Klima und der revolutionären Aufbruchstimmung. Die Weltanschauung, die sich herauskristallisierte, war links, pazifistisch, und zwar in einem dezidiert anti-nationalistischen Sinn, was sich in einem Geburtstagsbrief Carnaps an seine Mutter vom März 1918 zeigt, der dem Wunsch Ausdruck verleiht, ,,daß ein baldiger Friede uns die Früchte dieser argen Zeit bringen \mbox{würde}``:{\tolerance500\par} \begin{quotation} Wir glauben nicht mehr, daß es nur auf den Erfolg \uline{unserer} Seite ankommt. Wir haben erlebt, daß die Schicksale der Kulturvölker zu sehr untereinander verknüpft sind, als daß nicht die Zerstörung des einen alle anderen schädigen würde. Unser Ziel ist deshalb heute (u. das verstehen wir unter den Früchten der Opfer), daß ein Zusammenleben der Völker zustandekomme, das jedem sein Recht und seine Entwicklungsmöglichkeit gibt u. dadurch, zugleich mit der allgem. Erkenntnis der genannten Verknüpfung (der ,,Solidarität`` der Völker), dahin wirkt, die Möglichkeit (noch nicht die unbedingte Gewißheit) eines dauernden Friedens zu geben.\fnE{Rudolf an Anna Carnap, 2.\,III.\,1918 (\href{http://doi.org/10.48666/807620}{RC~025"~09"~51}).} \end{quotation} \noindent Carnaps politisches Engagement entwickelte sich schrittweise, von einer noch quasi religiösen Ebene im Jahr 1917~-- Carnap und Flitner planten die Gründung eines eher weltlich-intellektuell ausgerichteten Protestantenklosters mit sozialen und pädagogischen Zielsetzungen (TB~18.\,II.\,1917\diaryref{TB-18-II-1917})\fnE{Dazu Werner, ,,Mit den blanken Waffen des Geistes``.}~-- über ein im Jahr 1918 entwickeltes politisches Engagement, das sich ,,nicht als Parteiprogramm, sondern von ethischer u.~philosophischer Grundlage aus`` verstand,\fnE{Rudolf an Anna Carnap, 14.\,XI.\,1918 (\href{http://doi.org/10.48666/807622}{RC~025"~09"~50}).} bis hin zur explizit parteipolitischen Verpflichtung: Carnap trat am 1.\,VIII.\,1918 der USPD bei, einer ideologisch in der Mitte zwischen (demokratischer) Sozialdemokratie und (antidemokratischem) Kommunismus angesiedelten Partei.\fnE{Siehe das Mitgliedsbuch (\href{http://doi.org/10.48666/807642}{RC~018"~09"~04}).}\vspace{-2mm}\pagebreak \tboneA{53} Die erste Hälfte des Jahres 1918 nützte Carnap zur Versendung ,,politischer Rundbriefe``,\labelcn{rundbriefe} ,,nur im kleineren Kreis (40~Leute, nur persönl. Bekannte)``.\fnE{Rudolf an Anna Carnap, 14.\,XI.\,1918 (\href{http://doi.org/10.48666/807622}{RC~025"~09"~50}). Ausführlich zu den Rundbriefen vgl. Werner, ,,Youth and Politics at the End of the Great War``.} Hintergrund waren erkannte Meinungsverschiedenheiten mit alten Freunden aus der Jugendbewegung wie Flitner, die in der entstehenden politischen Ausdifferenzierung eher in die konservative Richtung tendierten und den Krieg, wie Carnap noch 1916, weiter als ,,naturnotwendiges Kräfteausmessen der sich ins Gehege kommenden wachsenden Völker`` sahen~-- ,,\uline{wir} sind das wachsende Volk, können nicht stehenbleiben, sondern müssen um uns greifen`` (TB~22.\,IX.\,1916\diaryref{TB-22-IX-1916}). Der Krieg hatte den ursprünglichen Sinn der Meißner-Formel~-- jeder soll sich seine eigenen Werte schaffen und diese Autonomie von allen anderen fordern~-- ad absurdum geführt. Werte konnten nicht mehr frei gewählt werden, sondern man musste sich darüber verständigen, sie diskutieren, um Konflikte katastrophalen Ausmaßes künftig zu verhindern. Bis zur November-Revolution war dabei die Losung Carnaps und seiner Freunde, einen umfassenden Konsens anzustreben, der die Deutschen untereinander und mit allen anderen Völkern auf der Grundlage gemeinsamer Werte in Frieden einen sollte. Um dieses Ziel zu erreichen, sah sich Carnap in einer privilegierten Position, da er als Verantwortlicher für die Bibliothek der Tafunk Zugang zu ausländischen Zeitungen hatte, die der Öffentlichkeit durch die Zensur vorenthalten wurden. Er nützte diese Stellung, um in den Rundbriefen Material zu verteilen, das den Krieg aus der Perspektive verschiedener Nationen darstellte, um so die seiner Auffassung nach zu wenig bekannten Ereignisse sichtbar zu machen, \begin{quotation} [\ldots], die mir die wichtigsten zu sein scheinen, weil in ihnen sich die Kräfte zeigen, die aus dem chaotischen Atomismus der Welt einen Kosmos gestalten werden, die in der Völkersoziologie eine organisch geordnete Gemeinschaft an Stelle der Anarchie setzen werden. In der unbedingten Überzeugung, dass diese Kräfte in der Menschheit stärker sind als die divergierenden Gegenkräfte~[\ldots], sehe ich das Geschehen der Gegenwart an und sehe darin die Geburtswehen einer neuen Zeit. (\href{http://doi.org/10.48666/807624}{RC~081"~14"~07}) \end{quotation} \noindent Das Hauptproblem war zunächst, auf eine Entscheidung zum Frieden zu drängen. ,,So steht heute die Front: die friedensgewillten Völker aller Länder gegen die Kriegsparteien.``~(ebd.) Carnap strebte mit den Rundbriefen an, die Personen in seinem Umfeld für die Gruppe der Friedensgewillten zu gewinnen, mit den Mitteln der Information (internationale Zeitungen) und des Arguments \pagebreak(kriegs\-kriti\-\tboneA{54}sche Schriften, von Kant bis Friedrich Wilhelm Förster). Das Unternehmen, noch im Sommer in intensiven und teilweise protokollierten Debatten in Bayrisch-Zell mit Flitner und Roh fortgesetzt,\fnE{,,Notizen aus dem Gespräch mit Flitner und Roh in Bayrisch-Zell, 30.\,6.\,18`` (\href{http://doi.org/10.48666/807629}{RC~081"~46"~67}). Vgl. (TB~30.\,VI.\,1918\diaryref{TB-30-VI-1918}). Vgl. Werner, ,,Freundschaft|Briefe|Sera-Kreis``, 118\hbox{--}124.} misslang. Bis zum Herbst war kein Konsens erzielt. Im September verbot die Militärführung schließlich Carnap ,,die Versendung von Rundbriefen jeder Art`` (\href{http://doi.org/10.48666/807626}{RC~081"~14"~03}, TB~22.\,X.\,1918\diaryref{TB-22-X-1918}). Es bot sich jedoch eine neue Gelegenheit zur Diskussion, in der Gestalt einer Zeitschrift, die der spätere SED-Funktionär Karl Bittel,\labelcn{bittelrundbriefe} ebenfalls unter dem Titel \textit{Politische Rundbriefe}, herausgab.\fnE{Die ersten (und vermutlich einzigen) 55~Nummern der Zeitschrift, die zwischen 1.\,X.\,1918 und Ende 1919 erschienen sind, finden sich mit vielen Lektüremarkierungen im Nachlass Carnaps (\href{http://doi.org/10.48666/807635}{RC~110"~01}).} Im Oktober, in der ersten und vierten Nummer der Zeitschrift, erschien ein kurzer Text Carnaps, ,,Völkerbund~-- Staatenbund``. Die ebenfalls im Oktober entstandene Fortsetzung dieses Textes, ,,Deutschlands Niederlage``, blieb unveröffentlicht, möglicherweise, weil die mit Kriegsende und Revolution sich Anfang November 1918 überstürzenden Ereignisse den Inhalt obsolet machten.\fnE{Vgl. neben diesen Texten Damböck, ,,Einleitung zu Rudolf Carnap``.} In den beiden Texten vom Oktober 1918 drängt Carnap weiter auf einen umfassenden Konsens in Wertfragen: \begin{quotation} Mir wenigstens scheint es so, als seien wir uns nicht nur einig in dem Glauben an die objektive Geltung auch der politischen Werturteile und Forderungen, sondern auch in weitem Umfang einig über den Inhalt der Forderungen. Soweit das noch nicht der Fall ist, haben wir die wichtige und dringende Aufgabe, durch Aussprache und besonders auch durch diese Rundbriefe auf Uebereinstimmung in den politischen Grundsätzen hinzuarbeiten.\fnE{Carnap, ,,Deutschlands Niederlage``,~5n1.} \end{quotation} \noindent Die ,,objektive Geltung`` ist hier im Sinne von ,,Übereinkunft aller Menschen`` gemeint. Der Unterschied zu den Rundbriefen des Frühjahrs 1918 liegt in einer Verschiebung des Fokus von der privaten Ebene der Ablehnung des Krieges als einer Lebenseinstellung zur im engeren Sinn politischen Ebene. Carnap räumt die Kriegsschuld der Deutschen ein, macht sich aber für einen Friedensschluss stark, der auf ,,schwere Bedingungen`` und ,,wirtschaftliche Bedrückung auf Jahre hinaus`` verzichtet. Statt dieses ,,Ententefriedens`` verteidigt Carnap den ,,Wilsonfrieden`` auf der Grundlage des Vierzehn-Punkte-Programms des US-amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson. \tboneA{55} Diese Ideen werden auch im November 1918\labelcn{revolution} nicht aus den Augen verloren. Die internationale Perspektive der Diskussionen der Monate davor~-- Politik als Völkerverständigung~-- wird aber, in Kriegsende und Revolution, von der nationalen überlagert: Politik wird als eine Angelegenheit der \textit{eigenen} Gesellschaft erkannt. Welche Verfassung~-- demokratisch oder autokratisch?~-- sollte sich diese geben? Was waren die primären Ziele, in wirtschaftlicher Hinsicht und in Fragen von Unterricht und Ausbildung? Hier erwies sich mehr noch als in der zuvor diskutierten internationalen Frage~-- eine Verständigung auf den Weltfrieden war zwar zu diesem Zeitpunkt nicht möglich, aber doch denkbar~-- jede Vorstellung, die Menschheit in einem umfassenden Konsens zu vereinen, als illusorisch. Es war klar, dass man weite Teile des Bürgertums nicht für die in Carnaps freideutscher Berliner Gruppe immer unzweideutiger geteilten Ideale der Sozialdemokratie würde gewinnen können. Stattdessen wollte man im eigenen Umfeld der Freideutschen Jugend, deren schon vor 1914 dem Bürgertum gegenüber kritische Haltung weiter denkend, eine Umkehr zum Sozialismus propagieren. ,,Die Zeit des verschwommenen Sowohl-als-auch`` war vorüber.\fnE{Ahlborn et~al., ,,Aufruf an die Freideutsche Jugend``. Zu den Aktivitäten der Freideutschen in der Berliner Revolutionszeit vgl. erneut Werner, ,,Youth and Politics at the End of the Great War`` sowie vor allem Theilemann, \textit{Harald Schultz-Hencke und die Freideutsche Jugend}, 203\hbox{--}215.} Man musste sich erklären, nicht nur für oder gegen die Demokratie, sondern auch für eine der beiden sichtbaren politischen Alternativen: bürgerlich oder sozialistisch? Carnap und seine Berliner Freunde gründeten ,,am Revolutionstag, dem 10.~November 1918, eine ,Demokratisch-sozialistische Gruppe der Freideutschen Groß-Berlins`{}``,\fnE{Ahlborn et~al., ,,Aufruf an die Freideutsche Jugend``.} deren Aktivitäten in einem von Carnap mit verfassten und unterzeichneten ,,Aufruf an die Freideutsche Jugend`` kulminierten. Zu dem Motiv der Demokratie und der Völkerverständigung traten hier der Sozialismus und das Postulat der Überwindung der eigenen bürgerlichen Identität: ,,Freideutsche, glaubt nicht den Lockungen aus ,bürgerlichen` Kreisen, die euch weis machen, dort wolle man Volksgemeinschaft, Freiheit und ein Reich des Geistes.``\fnE{Ahlborn et~al., ,,Aufruf an die Freideutsche Jugend``.} Die Diagnose, ,,daß der Sozialismus der folgerichtige Ausfluß eures Freideutschentums ist`` und dass darin ,,das Erlebnis des Hohen Meißners~[\ldots] Gemeingut der ganzen deutschen Jugend werde``, wurde propagandistisch lanciert, in der Hoffnung, die Freideutschen als Flügel der USPD aufstellen zu können (Bürgerliche mussten dann eben die Freideutschen verlassen).{\tolerance500\par} Die Strategie\labelcn{fuehrertag} der Berliner Freideutschen, ihre ganze jugendbewegte Gruppe ins Feld der Sozialdemokratie zu holen, ging nicht auf. Max Bondy brandmarkte den ,,Aufruf`` \pagebreak in der folgenden Nummer der \textit{Freideutschen Jugend} als ein ,,Doku\-\tboneA{56}ment des Abfalls``. Bei der unter Beteiligung Carnaps stattgefundenen ,,Ersten Tagung sozialistischer Studentengruppen Deutschlands`` (TB~11.\,\hbox{--}\,18.\,IV.\,1919) und dem im Vorfeld abgehaltenen ,,Freideutschen Führertag`` scheiterte das Vorhaben, die Freideutschen für die Sozialdemokratie zu gewinnen, endgültig.\fnE{Zu den Jenaer Treffen vgl. Dahms, ,,The German Youth-Movement`` sowie Theilemann, \textit{Harald Schultz-Hencke und die Freideutsche Jugend}, 234\hbox{--}253 und Steinmetz, \textit{Geschichte der Universität Jena}, 533\hbox{--}542.} ,,Die Jenaer Tage sind Zeugnis, daß die Freideutsche Jugend nah ihrem Untergang ist``, diagnostizierte Karl Bittel verärgert nach tagelangen fruchtlosen Debatten.\fnE{Siehe 38. \textit{Politischer Rundbrief}, 137 (\href{http://doi.org/10.48666/807635}{RC~110"~01}).} Dieses Scheitern war, im Rückblick, wenig überraschend: in allen Gruppen der Jugendbewegung waren bürgerliche, in den 1920er-Jahren in eine konservative Richtung tendierende Denkweisen in der Mehrheit. Die Freideutschen auf die Seite der USPD zu ziehen, war damit ein von vornherein zum Scheitern verurteilter Plan. Welche Haltung Carnap in der Jenaer Debatte eingenommen hat, bleibt unklar. Er verzichtete in den folgenden Jahren auf die Unterzeichnung politischer Manifeste und Aufrufe. Seine politischen Überzeugungen blieben aber zeitlebens, dem ,,Aufruf`` von 1919 entsprechend, sozialistisch, volksbildnerisch, demokratisch, mit einer gewissen Bereitschaft, radikalere Spielarten des Marxismus zu unterstützen. Dennoch hat Carnap, wie viele andere seiner Zeitgenossen, in den Entwicklungen nach der November-Revolution den Entschluss gefasst, seine politischen Überzeugungen künftig nur noch intern sichtbar zu machen. Einmal in der Debatte mit Gleichgesinnten: Andersdenkenden konnte man, so die Überzeugung des späteren Carnap, nur durch ,,Erziehung`` beikommen, weniger durch eine Argumentation auf Augenhöhe;\fnE{Vgl. etwa TB~14.\,I.\,1959\diaryref{TB-14-I-1959}: ,,Ich betone, nicht die gegenwärtigen Emotionen werden im Werturteil ausgedrückt, sondern Abwägung der Konsequenzen, wie Dewey betont hat.~[\ldots] wenn alle faktischen Fragen beglichen sind [\ldots] dann können doch Wertunterschiede bestehen; dann bleibt nur übrig, education.``} dann in einer den eigenen politischen Überzeugungen gerecht werdenden Lebensführung, die aber auf öffentliche politische Stellungnahmen weitgehend verzichtete.\fnE{So etwa betont Carnap in (SCH,~82\,f.), nicht parteipolitisch aktiv gewesen zu sein und politische Diskussionen eher privat zu führen. Der von ihm dort formulierte ,,scientific humanism`` ist eine Kompromisshaltung, die den Spagat aus Politik als privater Angelegenheit und Vorleben der eigenen politischen Überzeugungen versucht.} Im Dezember 1918 übersiedelten die Carnaps nach Jena. Dort beschloss Carnap, sich vor einer eventuellen Promotion auf das Staatsexamen zum Lehramt an Höheren Schulen vorzubereiten (in Physik und Philosophie), das er im Frühjahr 1920 absolvierte. Bis 1920 erwog Carnap auch eine berufliche Laufbahn als Leh\-\tboneA{57}rer ,,an freien Schulen, Volkshochschulen u.dergl.``.\fnE{Carnap an die Serafreunde, 7.\,XI.\,1920 (\href{http://doi.org/10.48666/807778}{RC~081"~47"~01}).} Im April und Mai 1919 unterrichtete er auch an der neu gegründeten Volkshochschule Jena (TB~1.\,IV.\,1919\diaryref{TB-1-IV-1919}). Im August 1919 übersiedelte die junge Familie~-- die erste Tochter Annemarie wurde am 31.\,X.\,1918 geboren (Abb.~\refcn{elisabethannemarie})~-- schließlich nach Wiesneck, das von da ab bis zur Übersiedlung nach Wien im Frühjahr 1926 Carnaps Lebensmittelpunkt wurde. In dem dortigen Umfeld war Carnap mit seinen in der November-Revolution gewonnenen politischen Überzeugungen relativ allein. Die Familie Schöndube war zwar sozialen Experimenten und volksbildnerischen Ideen gegenüber aufgeschlossen~-- Wiesneck beherbergte einen fortschrittlichen Landwirtschaftsbetrieb und in den frühen 1920er-Jahren die der Loheland-Pädagogik nahe stehende lebensreformerische Schwarzwaldschule Grete Schöndubes (siehe die Einleitung zu Band~2). Es war also keineswegs ein \textit{klein}bürgerliches Umfeld, in das sich die Existenz Carnaps hier verlagerte. Neue Ideen waren willkommen, die Jugendbewegung allgegenwärtig, konformistische Lebensentwürfe standen nicht zur Disposition. Dennoch teilte im Wiesnecker Mikroklima kaum jemand Carnaps sozialistische Ideen. Politische Spannungen waren die Folge und ein zeitweiliger Rückzug Carnaps ins Private. Die Ehe der Carnaps wurde zwar erst Ende 1929 offiziell geschieden, Konfliktpotential bestand aber schon um 1919. Man war, wie Carnap sich 1954 lapidar erinnert, ,,zu verschieden`` (TBA, 11.\,X.\,1954). Und das betraf die weltanschauliche und die persönliche Ebene zugleich. ,,Schwerwiegende Risse`` durchzogen die ,,Wirklichkeit``, von der hohen Politik über Wissenschaft und Philosophie bis in die familiären und freundschaftlichen Beziehungen \mbox{hinein}.\fnE{Vgl. Carnap, ,,Vom Chaos zur Wirklichkeit``,~1 (\href{http://doi.org/10.48666/807646}{RC~081"~05"~01}) sowie Damböck, \textit{Deutscher Empirismus},~198.}\labelcn{kriegende} \tboneA{58} \subsection{Bemerkung zum Bildteil dieses Bandes} Die hier im Auszug erfasste Sammlung von Fotografien im Nachlass von Carnap (vgl. den editorischen Anhang~\hyperref[sec:app.A.3.6]{A.3.6} und~\hyperref[sec:app.C.3]{C.3}) ergeben ein durchaus reichhaltiges Bild der ersten drei Lebensjahrzehnte des Sammlers. Dokumentarisch wertvoll sind vor allem die klassischen Szenen aus der Jugendbewegung unter Beteiligung Carnaps: der Aufbruch zur Sonnwendfeier mit Eugen Diederichs (Abb.~\refcn{sonnwende}), das Werkbundfest bei Naumburg (Abb.~\refcn{werkbundfest}), der Zug der Jenaer Freischar, mit Carnap an der Spitze (Abb.~\refcn{jenaleipzig}), das Treffen auf dem Hohen Meißner (Abb.~\refcn{meissner}), das Szenenbild aus ,,Eulenspiegels Heimkehr`` von Hans Rothe (Abb.~\refcn{eulenspiegel}).\fnE{Diese Fotografien liegen nicht nur im Carnap-Nachlass, sondern befinden sich in zahllosen Kopien in diversen Archiven und wurden aus diesem Grund schon mehrfach abgedruckt. Da sie im Fall Carnaps aber wieder einen neuen Kontext definieren und an der Biografie Carnaps Interessierten, sofern diese nicht auch die Literatur zur deutschen Jugendbewegung kennen, weitgehend unbekannt sein dürften, werden sie hier berücksichtigt.}\pagebreak Im Zentrum der Sammlung Carnaps stehen, v.\,a. in der Anfangsphase, aus Gründen der Fototechnik und des Zeitgeistes inszenierte Portraits von Carnap und Personen aus der Familie und dem Freundeskreis bzw. Gebrauchsfotografien, die dennoch häufig durch ihren dokumentarischen Wert bestechen. Die Portraits Carnaps (besonders Abb.~\refcn{neunzehnsieben}, \refcn{schneeschuh}, \refcn{leutnant}) zeigen eine stets ernst (in die Kamera) blickende Person; ein junger Mensch mit vollen Lippen; ein bemerkenswert kindliches Erscheinungsbild, noch zu Kriegsbeginn (Carnap war immerhin 24 Jahre alt); auf allen Fotos (anders als ab 1920) ohne Brille und bis 1915 bartlos, dann (bis 1923) mit Schnurrbart, nebst einer vollbärtigen Episode im Jahr 1919 (Abb.~\refcn{rudolfannemarie}). Komplexere Inszenierungen stellen die Aufnahmen um das Jahr 1908 dar, also aus der Zeit, aus der die ersten Tagebuchaufzeichnungen stammen. Einmal die Familie im Garten zur Pyramide aufgebaut, Carnap an der Spitze, die Mutter als Matriarchin an der Basis (Abb.~\refcn{pyramide}); dann mit Cello im Garten, neben dem geigespielenden Vetter Heinz von Rohden (Abb.~\refcn{cello}), auch hier mit dem ernsten Blick in die Kamera. Im selben Jahr auf dem Balkon des Hauses in Barmen, ein ungewohnter Blick, seitlich in die Kamera, fast verschmitzt, mit einem leisen Lächeln, einschließlich dandyhaftem Outfit als Buchmensch (Abb.~\refcn{carnapmitbuch}). Die dokumentarischen Fotografien zeigen Artefakte, vor allem Wohnhäuser: von der vom Vater in gotischer Strenge erbauten Ronsdorfer Fabrikantenvilla (Abb.~\refcn{inderkrim}) über das neubarocke Anwesen in Barmen (Abb.~\refcn{hausbarmen}) zum neoklassizistischen Bauwerk, das Wilhelm Dörpfeld für die Schwester in Jena geschaffen hat (Abb.~\refcn{hauskernberg}): Symbole der Verdichtung des bürgerlichen Wohlstands, aber auch der intellektuellen Verfeinerung. Die Fotografien enthalten wertvolle Schnappschüsse und \textit{decisive moments}. So das einzige erhaltene Bild von Carnap mit Mutter und Schwester, das spontan und komplex auf den Betrachter wirkt: Familienaufstellung im Garten mit Pavillon im Hintergrund (Abb.~\refcn{mojawola}); die stimmungsvollen Fotografien von Carnap und Friedrich von Rohden in deren Freiburger Wohnung (Abb.~\refcn{freiburgerker}, \refcn{freiburgzimmer}); die stilllebenhafte Szene einer Wanderung mit zwei Freunden: offenbar nicht Inszenierung, sondern frappierende Zufallskomposition (Abb.~\refcn{schlackl}); das Freiburger Freischargrüppchen um die zeitweilig ineinander verliebten Carnap und Lotte Ehrenberg (Abb.~\refcn{ehrenberg}); die spitzbübische Szene ,,beim Rothof`` mit Kurt und Wilhelm Flitner (Abb.~\refcn{rothof}); Margret Arends fröhliche Ankunft beim Treffen auf dem Hohen Meißner (Abb.~\refcn{arends}); oder das Bild Carnaps mit Strickjacke und Vollbart, im Kreis der jungen Familie: ein seltener Moment der Intimität (Abb.~\refcn{rudolfannemarie}).\vspace{-1mm} %%% Local Variables: %%% TeX-PDF-mode: t %%% mode: latex %%% TeX-master: "Tagebuecher_1908_bis_1919" %%% End: