\chapter{Einleitung} \subsection{Drei Kontexte} Der Briefwechsel zwischen Rudolf Carnap (1891--1970) und Otto Neurath (1882--1945) ist ein Schlüsseldokument zur Geschichte des logischen Empirismus, der hier in seinem Entstehungskontext illustriert wird.\footnoteM{Vgl. Hegselmann, ,,Die Korrespondenz zwischen Otto Neurath und Rudolf Carnap aus den Jahren 1934 bis 1945 -- ein vorläufiger Bericht``; Tuboly/Cat, ,,Editorial Introduction``; Carnap/Neurath, ,,The 1940--1945 Neurath-Carnap Correspondence``, sowie Dahms, ,,Rudolf Carnap et Otto Neurath``; Sandner, ,,Carnap und Neurath``; Cat, ,,Carnap and Neurath``, und Damböck/Friedl/Höfer, \textit{Ways of the Scientific World-Conception}.} Der logische Empirismus in seiner maßgeblich von Carnap und Neurath mit geprägten Gestalt ist, wie sich in diesen Briefen zeigt, nicht bloß ein ,,Wandeln auf den eisigen Firnen der Logik``,\footnoteM{Vgl. Verein Ernst Mach, \textit{Wissenschaftliche Weltauffassung}, 30.} sondern verfolgt in der ,,wissenschaftlichen Weltauffassung``, durchaus weltzugewandt, lebensreformerische und politische Zielsetzungen; er entwirft auch eine neue, undogmatische Form von Empirismus, die sich auf fallible Befunde über Wahrnehmungen bzw. wahrnehmbare Gegenstände und ihre Eigenschaften in der Gestalt von Protokollsätzen stützt. Wegweisend dafür wirkten eine Reihe von philosophischen und wissenschaftlichen Strömungen am Ende des neunzehnten und am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, vom Empiriokritizismus (Ernst Mach, Richard Avenarius), Konventionalismus (Pierre Duhem, Henri Poincaré) und Neukantianismus (Hermann Cohen, Ernst Cassirer, Wilhelm Windelband, Heinrich Rickert) bis zur mathematischen Logik (Gottlob Frege, Bertrand Russell, Ludwig Wittgenstein) und den neuesten Innovationen in der Physik (Albert Einstein). Der logische Empirismus hatte maßgeblichen Anteil am sogenannten linguistic turn in der Philosophie, wobei Sprache, anders als in der analytischen Philosophie der natürlichen Sprache, nicht als ein vorgegebenes Naturprodukt, sondern als plan- und optimierbares Medium gesehen wird. Im Briefwechsel von Carnap und Neurath wird die Art und Weise deutlich, wie sich diese Weltsicht von vorangegangenen Strömungen ableitet und abgrenzt, und es werden, etwa in der Auseinandersetzung mit Wittgenstein, Karl Popper, Alfred Tarski und Russell, die Verzweigungen und Brüche erkennbar, die diese philosophische Strömung im Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts häufig zur negativen Kontrastfolie werden ließen. Wurde der logische Empirismus wahlweise für seine ahistorische Haltung, seinen dogmatischen Reduktionismus, seine künstliche Trennung von Entdeckungs- und Begründungszusammenhang oder seinen dezisionistischen Positivismus kritisiert,\footnoteM{Der Reduktionismus-Vorwurf findet sich, gemeinsam mit der Behauptung, der logische Empirismus lasse nur rein analytische und rein synthetische Urteile zu, in Quine, ,,Two Dogmas of Empiricism``; ahistorisch und einer künstlichen Trennung zwischen Entdeckungs- und Begründungszusammenhang verpflichtet ist dieser Empirismus für Kuhn, \textit{The Structure of Scientific Revolutions}; einen dezisionistischen Positivismus mit der Konsequenz der vollständigen Irrationalität aller menschlichen Entscheidungen diagnostizieren Horkheimer, ,,Der neueste Angriff auf die Metaphysik``, sowie Putnam, \textit{The Collapse of the Fact/Value Dichotomy}.} so zeigt dieser Briefwechsel als Quellensammlung, dass keines der angeblichen Dogmen von den Hauptvertretern dieses Empirismus uneingeschränkt vertreten wurde. Dagegen werden Ansprüche sichtbar, sich von älteren dogmatischen Spielarten eines auf dem absolut Gegebenen fußenden Positivismus zu verabschieden und ein auf Empirie und Rationalität gestütztes Denken mit Sozialismus zu kombinieren. Mindestens so wichtig wie die Innenansicht dieser Korrespondenz als Dokument zur Geschichte des logischen Empirismus ist ihre Außenperspektive als Manifestation radikaler Antimetaphysik, die in ihrer heißen Phase den Namen ,,Philosophie`` nurmehr als Schimpfwort gelten ließ.\footnoteM{Vgl. S.\,\pagerefcn{boesephilosophie}, wo Neurath zur \textit{Logischen Syntax} anmerkt: ,,Ich hoffe, daß das üble Wort ,Philosophie` nicht mehr darin vorkommt.`` S.\,\pagerefcn{eklealteperson} spricht Neurath vom ,,verdreckten Namen einer eklen alten Person``.} Gnadenlos rodet der logische Empirismus das Gestrüpp traditioneller philosophischer und theologischer Denkweisen, räumt den ,,metaphysischen und theologischen Schutt der Jahrtausende`` aus dem Weg\footnoteM{Verein Ernst Mach, \textit{Wissenschaftliche Weltauffassung}, 29.} und setzt an dessen Stelle die Wissenschaft als einzige verbindliche Instanz. Der Briefwechsel zwischen Carnap und Neurath identifiziert diese Philosophen als Pioniere der auf Wissenschaft gegründeten Lebensweise, in einer von Irrationalität und Totalitarismus dominierten Zeit. Die jüngste Geschichte zeigt, dass diese Auseinandersetzung bis jetzt andauert. Wenn Intellektuelle heute Demokratie und Wissenschaft als Existenzbedingungen der menschlichen Kultur ansehen,\footnoteM{Vgl. Douglas, \textit{The Rightful Place of Science}; Hartl/Tuboly, \textit{Science, Freedom, Democracy}; Oreskes, \textit{Why Trust Science?}; Pinker, \textit{Enlightenment Now}, und Collins/Evans, \textit{Why Democracies need Science}.} dann besteht die historische Herausforderung darin, zu erklären, warum dies im vorigen Jahrhundert anders gewesen ist, warum sich unter geistigen Arbeiter*innen auf allen Seiten des politischen Spektrums nicht die Moderne und die Aufklärung, sondern -- mindestens zeitweilig -- die Antimoderne und die Gegenaufklärung durchgesetzt haben und warum die wissenschaftliche Weltauffassung in den Wirren der Zeit vielfach an mit ihr unvereinbaren Gegenentwürfen gescheitert ist. Für diese erst zu schreibende intellektuelle Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts können seltene Glanzlichter von Moderne und Aufklärung wie der hier publizierte Briefwechsel oder auch die Tagebücher Carnaps als Quellen dienen.\footnoteM{Carnap, \textit{Tagebücher} (TB).} Der dritte Gesichtspunkt schließlich, der den Briefwechsel zwischen Carnap und Neurath bedeutsam erscheinen lässt, ist ein im engeren Sinn biografischer, der diese Briefe als literarische Produkte individueller Lebenswelten identifiziert, in denen sich die großen Brüche und Innovationen des zwanzigsten Jahrhunderts manifestieren: Krieg und Faschismus im Negativen, Wissenschaft und Sozialdemokratie auf der positiven Seite. Es geht um die Interferenz der Denk- und Schreibweisen zweier Antipoden, deren gemeinsames Projekt der Antimetaphysik und der wissenschaftlichen Weltauffassung bei einigen biografischen Parallelen -- gemeinsame Wiener Jahre und spätere Emigration -- von markanten charakterlichen und kulturellen Unterschieden umrahmt wird. Der neusachliche Advokat des Rationalen Carnap, mit seiner präzisen, aber eben auch sachlichen, zurückhaltenden und mitunter kühlen Ausdrucksweise, die seine kulturelle Herkunft aus einem protestantisch-pie\-tis\-tischen Milieu erkennen lässt. Der große Planer und Aufklärer Neurath, der in überbordendem Stil subtile Pointen gleichermaßen hervorzaubert wie wenig differenzierte Rundumschläge; dessen Emotionalität sich im Kontext als liebende Umarmung ebenso entladen kann wie als persönlicher Übergriff. Das Spannungsverhältnis zwischen der rationalen Sachlichkeit Carnaps und dem ebenso jüdischen wie Wienerischen Witz des selbst erklärten Elefanten im Porzellanladen Neurath prägt diesen Briefwechsel. Eine Doppelconférence, in der Neurath den Ton angibt, während Carnap die Rolle des vernünftigen Korrektivs übernimmt und gelegentlich einfach die des Spielverderbers. Wie im Briefwechsel Neurath von Beginn an die treibende Rolle einnimmt -- der erste Brief ist eine ebenso charmante wie direkte Freundschaftsanfrage an den zuvor Unbekannten --, prägt er den wechselvollen Verlauf ihrer Kommunikation als Lokomotive. Es handelt sich um eine von großen Gefühlen getragene Freundschaft, nicht um den unverbindlichen Austausch zweier zufällig Geistesverwandter. Wie in vielen emotionalen Beziehungen sind die Rollen ungleich verteilt, ist das Verhältnis genuin asymmetrisch; und wie viele intensive Freundschaften durchlebt auch diese schwere Krisen, deren größte am Ende unaufgelöst bleibt. \subsection{Der biografische Hintergrund} %\subsection{Die Wiener Zeit (1923--1931)} Als Rudolf Carnap sich im Jahr 1924 dazu entschloss, auf Anregung Moritz Schlicks die Habilitation in Wien zu versuchen -- ein Entschluss, der sich als prägend für seine Karriere wie auch für die Entwicklung des Wiener Kreises erweisen sollte\footnoteM{Für ein Panorama der reichen Debattenkultur im Wiener Kreis siehe Stadler, \textit{Studien zum Wiener Kreis}; Limbeck-Lilienau/Stadler \textit{Der Wiener Kreis}, sowie Uebel/Limbeck-Lilienau, \textit{The Routledge Handbook of Logical Empiricism}.} --, lag die erste Kontaktaufnahme Neuraths bereits ein Jahr zurück (Brief \refcn{1923-10-19-Neurath-an-Carnap}); ein erstes Treffen hatte im Sommer 1924 am Rande des Esperanto-Kongresses in Wien stattgefunden (TB 8. u. 11.\,8.\,1924). Neurath stammte aus Wiener bürgerlichen Verhältnissen,\footnoteM{Zur Biografie siehe Sandner, \textit{Otto Neurath}, sowie zur frühen Zeit Uebel, \textit{Vernunftkritik und Wissenschaft}.} sein Vater, der Nationalökonom Wilhelm Neurath (1840--1901), war ein sozial engagierter Wissenschaftler mit Affinitäten zur Weltsicht Ernst Machs. Schon während seines Studiums der Staatswissenschaft und Philosophie in Wien und Berlin setzte Neuraths Publikationstätigkeit ein, gleichzeitig engagierte er sich gemeinsam mit seiner ersten Frau Anna Schapire (1877--1911) in der Frauenbewegung. In Berlin prägte ihn die geisteswissenschaftliche Tradition in der Gestalt des Soziologen und väterlichen Freundes Ferdinand Tönnies (1855--1936). Die von materieller Not überschattete Berliner Zeit endete mit einer Dissertation über antike Wirtschaftsgeschichte.\footnoteM{Neurath, ,,Zur Anschauung der Antike über Handel, Gewerbe und Landwirtschaft``.} Zurück in Wien nahm Neurath nach dem einjährigen Militärdienst eine Stelle als Lehrer in einer Handelsakademie an und untersuchte 1911--1913 in ausgedehnten Forschungsreisen die sozialen und ökonomischen Verhältnisse in den Balkanstaaten. In Wien traf er sich zu regelmäßigen Diskussionen mit den Mathematiker-Geschwistern Hans und Olga Hahn -- Letztere wurde nach dem Tod Anna Schapires Neuraths zweite Frau -- und dem Physiker Philipp Frank, eine oft als Erster Wiener Kreis bezeichnete Diskussionsrunde.\footnoteM{Vgl. Haller, ,,Der erste Wiener Kreis``, sowie Limbeck-Lilienau, ,,The First Vienna Circle and the Erlangen Conference``.} Während des Ersten Weltkrieges diente Neurath in der Wirtschaftsabteilung des Kriegsministeriums, entwickelte im Zuge dessen seine Ideen zur Kriegswirtschaftslehre, habilitierte sich 1917 in Politischer Ökonomie an der Universität Heidelberg, unterstützt durch Max Weber,\footnoteM{Siehe Dahms/Neumann, ,,Sozialwissenschaftler und Philosophen in der Münchener Räterepublik``.} und nahm 1917 an den Lauensteiner Tagungen zur Zukunft Deutschlands nach dem Kriege teil.\footnoteM{Siehe Werner, \textit{Ein Gipfel für Morgen}, sowie Werner, \textit{Gruppenbild mit Max Weber}.} Nach Kriegsende übernahm Neurath als Leiter des Zentralwirtschaftsamts eine wichtige Rolle in der Münchener Räterepublik, die er als Gelegenheit ansah, seine radikal planwirtschaftlichen Ideen der ,,Vollsozialisierung`` umzusetzen.\footnoteM{Siehe Dahms, ,,Otto Neurath, Max Weber und die Revolution von 1919 in Bayern``.} Das Scheitern der Räterepublik führte zu einer Anklage wegen Beihilfe zum Hochverrat und zur Verurteilung zu 18 Monaten Haft. Nach einem halben Jahr nach Österreich abgeschoben, verlor Neurath die Heidelberger Privatdozentur und durfte bis Mitte der zwanziger Jahre nicht mehr nach Deutschland einreisen. Zurück in Wien wurde er bald zu einem der Schlüsselrepräsentanten des Roten Wien und einem intellektuellen Weggefährten des Aus\-tro\-marxismus. Seine Tätigkeit in der österreichischen Siedlungsbewegung mündete 1924 in die Gründung des später sogenannten \textit{Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum} Wien. Die in diesem Rahmen aufkeimende bildpädagogische und sozialreformerische Mission sollte bis zum Lebensende Neuraths im Zentrum seiner Aktivitäten stehen. Während Neurath es also schon zu einigem Gewicht als Politiker, Pädagoge und Sozialreformer gebracht hatte, so verlief Carnaps Leben bis zum Zeitpunkt ihrer ersten Begegnung weniger öffentlichkeitswirksam: Zehn Jahre jünger als Neurath, hatte er den Großteil des Ersten Weltkriegs im Felde zugebracht.\footnoteM{Zur Biografie vgl. Damböck, ,,Einleitung [Band 1]``, ,,Einleitung [Band 2]`` sowie Carus, \textit{Carnap and Twentieth Century Thought}.} Aus einem Ronsdorfer Fabrikantenhaus stammend -- der Vater Johannes Sebulon Carnap (1826--1898) betrieb eine Bandweberei -- verbrachte Carnap die Kindheit, nach dem frühen Tod des Vaters, in Barmen (wie Ronsdorf heute Stadtteil von Wuppertal). Ab 1910 folgte das Studium der Physik und Philosophie in Jena und Freiburg, wo Carnap unter anderem Vorlesungen bei Frege und Rickert besuchte. Prägend war für ihn einerseits das familiäre Umfeld. Hier zu nennen ist neben der intellektuellen Mutter Anna Carnap (1852--1924) -- sie verfasste eine umfangreiche Biografie ihres Vaters -- vor allem eben dieser Großvater selbst: der Pädagoge Friedrich Wilhelm Dörpfeld (1824--1893), dessen nonkognitivistische Ethik Carnap zum Teil vermittelt durch die Mutter übernahm;\footnoteM{Heidelberger, ,,Between Pietism and Herbartianism`` sowie Damböck, ,,Carnap's Noncognitivism and His Views on Religion``.} daneben auch noch der Bruder der Mutter, Wilhelm Dörpfeld (1853--1940), bedeutender Archäologe, der mit Heinrich Schliemann an der Ausgrabung Trojas gearbeitet hat und als Architekt Erbauer des Hauses war, das die Carnaps ab 1910 in Jena bewohnten. In Jena und Freiburg stand Carnap unter dem Einfluss der deutschen Jugendbewegung und jugendbewegter Gruppen wie dem Serakreis um den Jenaer Verleger Eugen Diederichs und den Freideutschen, deren Jugendtag auf dem Hohen Meißner Carnap 1913 besuchte und mitorganisierte.\footnoteM{Vgl. Damböck/Sandner/Werner, \textit{Logischer Empirismus, Lebensreform und die deutsche Jugendbewegung}, sowie Werner, \textit{Moderne in der Provinz}, 231--307.} Die Jugendbewegung stand für eine lebensreformerische Haltung, die Ablehnung von Alkohol, Nikotin und den Duell-Ritualen der Studentenverbindungen, Gleichberechtigung von Frauen, Zuwanderern und Minderheiten, einer Haltung aber auch, die in den radikalen lebensreformerischen Modernismus des Wiener Kreises mündete; gleichzeitig erwies sich die Jugendbewegung als Quelle der Politisierung. Im Krieg diente Carnap bis 1917 als Frontsoldat, danach als Mitarbeiter einer Funktechnikabteilung; aus dem anfänglichen Kriegsbefürworter und Anhänger der Idee des Krieges als ,,naturnotwendiges Kräfteausmessen der sich ins Gehege kommenden wachsenden Völker`` (TB~22.\,9.\,1916\diaryref{TB-22-9-1916}) entwickelte sich in dieser Zeit ein Pazifist und Sozialist. Das unterbrochene Studium konnte Carnap erst 1920 abschließen; 1921 folgte die Promotion mit seinem ersten Buch \textit{Der Raum}, und erst 1923, unmittelbar vor der Kontaktaufnahme durch Neurath, entschloss sich Carnap, aktiv eine akademische Karriere voranzutreiben: Die Hyperinflation hatte das Familienvermögen aufgezehrt und damit den davor favorisierten Plan vereitelt, ein Leben als Privatgelehrter zu führen. Hintergrund für die Kontaktaufnahme durch Neurath in Brief~\refcn{1923-10-19-Neurath-an-Carnap} war der gemeinsame Freund Franz Roh, Kunsthistoriker und Vordenker der Neuen Sachlichkeit, den Carnap aus der Jenaer Jugendbewegung kannte und Neurath aus der Münchener Zeit: Roh hatte nach dem Zerfall der Räterepublik dem steckbrieflich gesuchten Freund für einige Zeit in seinem Haus Zuflucht geboten.\footnoteM{Vgl. Dahms, ,,Neue Sachlichkeit in the Architecture and Philosophy of the 1920s``, und ,,Rudolf Carnap et Otto Neurath``, sowie Dahms/Neumann, ,,Sozialwissenschaftler und Philosophen in der Münchener Räterepublik``.} Carnap war vom ersten Treffen an durch die Persönlichkeit Neuraths gefesselt, der den neuen Freund, auf einer Welle des Erfolges und einer Vielzahl von aufkeimenden politischen und sozialreformerischen Projekten schwimmend, in seinen Bann zog, herumreichte und für die eigenen Ideen begeisterte. Neurath sah das in Carnap schlummernde intellektuelle Potential und animierte ihn erfolgreich, seine Fähigkeiten in den Dienst der als gemeinsam erkannten politisch-lebensrefor\-merischen Sache zu stellen. Dass aus dem eher selbstgenügsamen Privatgelehrten der Freiburger Jahre ein engagierter Philosoph wurde, verdankt sich zum Teil der motivierenden Aktivität Schlicks, der Carnap zur Habilitation brachte und ihn 1926 freundlich in den Wiener Kreis einführte, vor allem aber ist es dem wegweisenden Einfluss Neuraths geschuldet. Dennoch waren die gemeinsam verbrachten Zeiten schon in Carnaps Wiener Jahren rar. Neurath verkehrte nie regelmäßig im Wiener Kreis, zu sehr war er von diversen Aktivitäten im Roten Wien beansprucht und seit den späten 1920er-Jahren auch von vielen Reisen, die seine sozialreformerischen Projekte und namentlich seine Methode einer auf Piktogrammen basierten Bildstatistik (ISOTYPE) in die Welt hinaustrugen. Umgekehrt verbrachte Carnap nur fünf Jahre in Wien und war in den ersten drei Jahren dieser Zeit von einer 1926 diagnostizierten Tuberkuloseerkrankung beeinträchtigt, die ausgedehnte Kuraufenthalte nötig machte. Obwohl also eigentlich nur kurz, war die gemeinsame Wiener Zeit für beide von nachhaltiger Wirkung. Richtig eng wurde die Freundschaft zwischen Carnap und Neurath ohnehin erst ab 1928. Das lässt sich im Briefwechsel dem 1929 erstmals zu findenden vertraulichen ,,Du`` entnehmen. Bis 1928 war Neurath für Carnap mehr ein faszinierendes Kuriosum und Carnap für Neurath eine Persönlichkeit mit Potential, dessen Ausschöpfung noch ausstand. Carnap trat in die Sozialdemokratische Arbeiterpartei ein (Brief~\refcn{1928-Ende-September}), hielt programmatische Vorträge am Bauhaus, zu Themen wie ,,Wissenschaft und Leben`` oder ,,Missbrauch der Sprache``,\footnoteM{Siehe (\href{https://doi.org/10.48666/807581}{RC 110-07-49}) und (\href{https://doi.org/10.48666/807860}{RC 110-07-43}).} und er hatte maßgeblichen Anteil am Text des Manifests des Wiener Kreises \textit{Wissenschaftliche Weltauffassung}.\footnoteM{Vgl. Uebel, ,,Zur Entstehungsgeschichte und frühen Rezeption von \textit{Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis}``.} Der deutliche politische Tenor dieser Schrift ist allerdings eher Neurath zu verdanken, der noch zum Schluss die Präzisierung einforderte, ,,dort wo wir von den Massen reden, die kritisch sind, irgendwo das Wort ,sozialistisch` ein[zu]fügen`` (Brief~\refcn{1929-08-27-N-an-C}). Damit war das Programm definiert: Es ging -- grosso modo dem Geist des Austromarxismus entsprechend -- um nichts weniger als eine neue Grundlegung des Sozialismus, und zwar ohne Metaphysik, das heißt, ohne kruden Realismus und ohne dialektischen Materialismus, nur dem Reformgeist der wissenschaftlichen Weltauffassung verpflichtet. Schlick, dessen antimetaphysische und wissenschaftliche Einstellung sich mit Carnap und Neurath im Einklang befand, lehnte gleichwohl die explizit politische Ausrichtung dieses Projektes ab, weshalb sich im Jahr 1930 zwei Derivate des Wiener Kreises kurzzeitig etablierten, in denen es dezidiert politisch zuging. Das war zum einen der an Montagen abgehaltene gelegentlich so genannte Neurath-Zirkel, zur Ausarbeitung eines Marxismus ohne Dogmen und ohne ,,marxistische Ethik``.\footnoteM{Vgl. Damböck, ,,Carnap's Noncognitivism: Paths and Influences``, Abschnitt 4.} Die zweite Parallelaktion zum Wiener Kreis war die von Else Frenkel-Brunswik initiierte und von Carnap geleitete Studiengruppe für wissenschaftliche Zusammenarbeit, wo unter anderem sozialwissenschaftliche Methoden (Statistik) und die Psychoanalyse diskutiert wurden.\footnoteM{Vgl. Stadler, \textit{Studien zum Wiener Kreis}, 382f., sowie Jahoda, ,,Im Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum``.} Trotz dieser gemeinsamen Aktivitäten waren Carnap und Neurath schon 1930 nur noch Teilzeit-Wiener. Neurath wegen seiner unausgesetzten Reisetätigkeit, Carnap, weil für ihn Wien nur eine akademische Zwischenstation darstellte: Als unbesoldeter Privatdozent musste er nach einer Professur im Ausland Ausschau halten, was ihn schließlich 1931 nach Prag führte. An der von reaktionären, antisemitischen und erzkatholischen Kräften dominierten Universität Wien bestanden keine Aussichten.\footnoteM{Vgl. Taschwer, \textit{Hochburg des Antisemitismus}.} Das bedeutete auch, dass man die logisch-empiristische Bewegung aus politischen Gründen auf ein internationaleres Niveau heben musste. Die von Carnap und Neurath noch 1929 und 1930 verteidigte Idee einer wissenschaftlichen Weltauffassung mit gleichermaßen empiristischen wie sozialistischen Bestandteilen wurde im proto-faschistischen Klima der frühen 1930er-Jahre immer mehr zu einer unrealistischen Vision. Um den Faschismus zu bekämpfen, reichte die wissenschaftliche Einstellung alleine nicht aus. Zudem war die politische Agitation grundsätzlich ein Problem, solange Teile des logisch-empiris\-ti\-schen Netzwerks in Ländern aktiv waren, die dabei waren, im Faschismus zu versinken. Ohne die Perspektive, Europa endgültig den Rücken kehren zu können und zu wollen, war eine offene politische Stellungnahme in dieser Zeit akademischer Selbstmord. So bezog Carnap erst ab dem Zeitpunkt öffentlich Stellung, als er erkannt hatte, dass eine akademische Karriere für ihn in Europa nicht zu erreichen war. In dem Vortrag ,,Philosophie -- Opium für die Gebildeten`` etwa bekämpfte er die Metaphysik als Waffe reaktionärer Kräfte, die uns vom rationalen Denken abbringen möchten.\footnoteM{Siehe Carnap, ,,Philosophie -- Opium für die Gebildeten`` (\href{http://doi.org/10.48666/807585}{RC~110-08-17}), sowie \textit{Scheinprobleme in der Philosophie und andere metaphysikkritische Schriften}, ,,Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen``, und ,,Logic``.} Zunächst jedoch brachten diese politischen Faktoren das Netzwerk um Carnap und Neurath zu dem Ergebnis, theoretische Diskussionen auf eine mehr akademische Ebene zu heben. Dafür gab es Organe wie die Zeitschrift \textit{Erkenntnis} und Buchreihen wie die \textit{Schriften zur Wissenschaftlichen Weltauffassung} und \textit{Einheitswissenschaft}, später die \textit{Encyclopedia of Unified Science}, und es gab internationale Tagungen: 1929 in Prag, 1930 in Königsberg, dann 1934 wiederum Prag, 1935 bis 1939 nacheinander Paris, Kopenhagen, erneut Paris, Cambridge (UK), Cambridge (Mass.), gefolgt von einer letzten internationalen Tagung 1941 in Chicago, an der allerdings weder Carnap noch Neurath teilgenommen haben.\footnoteM{Zu den Tagungen des Netzwerks siehe Stadler, \textit{Studien zum Wiener Kreis}, 376--436. Vgl. Dahms, ,,Internationale Philosophie-Kongresse in der Zeit des Nationalsozialismus``.} Zirkelaktivitäten gab es weiterhin: Der Wiener Kreis existierte bis zu Schlicks Ermordung im Jahr 1936 (durch einen politisch fanatisierten ehemaligen Studenten\footnoteM{Vgl. Edmonds, \textit{The Murder of Professor Schlick}, Kapitel 15, sowie Stadler, \textit{Studien zum Wiener Kreis}, 922--961.}), und auch in Carnaps neuer Heimat Chicago wurden jahrelang kreisartige Aktivitäten betrieben, in deren Zentrum Carnap und Charles Morris standen;\footnoteM{Vgl. Stadler, ,,History and Philosophy of Science``, 49--53.} noch in Harvard, wo Carnap das akademische Jahr 1940/41 verbrachte, kam kurzfristig eine Art wissenschaftsphilosophischer Zirkel zustande, wenn auch mit begrenztem Erfolg, wie Carnap beklagt: ,,about the philosophers there is not much to say, they were very friendly toward me personally but not much in the way of discussion happened, except with Quine with whom I discussed frequently`` (Brief~\refcn{1941-06-05-Carnap-an Neurath}). Insgesamt war die aktivste Phase des Wiener Kreises die Zeit bis zu Carnaps Weggang 1931; 1934 bedeutete schließlich mit der erzwungenen Emigration Neuraths und dem plötzlichen Tod von Hans Hahn eine Zäsur: Der Zirkel bekam immer mehr den Charakter einer -- wie Ernest Nagel ironisch bemerkte -- ,,congregation with the members singing in chorus with Schlick``.\footnoteM{Ernest Nagel an Rudolf Carnap, 5.\,1.\,1935 (\href{https://doi.org/10.48666/807884}{RC 029-05-16})} Für den hier edierten Briefwechsel haben alle diese Faktoren aber den Vorteil, dass sich die Diskussion, die in der intensiven Phase von 1926 bis 1930 vor allem in Zirkeln, Salons, Vortragssälen und Kaffeehäusern stattfand, immer mehr in schriftlichen Kanälen bewegte, nicht zuletzt im brieflichen Austausch.\bigskip \noindent Zur richtigen Einordnung der diesen Briefwechsel ab 1930 prägenden Konflikte ist es wichtig zu sehen, dass diese sich kaum auf politische Fragen erstrecken. Zwar bezichtigt Neurath Carnap am Ende des Rückfalls in die Metaphysik und unterstellt ihm geradezu eine Preußische Geisteshaltung mit Affinität zu autoritärem Pflicht-Denken (Brief~\refcn{1945-09-24-Neurath-an-Carnap}), aber diese Vorwürfe beschränken sich auf charakterliche Diagnosen und ändern nichts an dem zwischen Carnap und Neurath bestehenden politischen Konsens. Stoff für Konflikte lag dagegen auf zwei Ebenen bereit. Auf der theoretischen Ebene steigerte sich die Skepsis Neuraths gegenüber der Bedeutung rein logischer Untersuchungen; die zu Beginn der dreißiger Jahre von Carnap aufgegriffene Semantik lehnte er von Anfang an ab; umgekehrt betonte Carnap zusehens die Autarkie seiner Arbeit. Entzündeten sich die Spannungen zwischen Neurath und Carnap also durchaus an sachlichen Fragen, so gingen sie, einmal entfacht, in mehreren sich steigernden Episoden ins Persönliche. Signifikant sind dafür nicht zuletzt soziologische Gesichtspunkte. So erfolgreich Neurath mit seinen musealen und bildpädagogischen Aktivitäten auch war, es stellte doch eine Kränkung dar, dass ihm jedwede akademische Karriere nach dem Verlust der Heidelberger Dozentur verwehrt blieb: in Wien, in Prag (wo er als Nachfolger Carnaps im Gespräch war) und noch am Ende seines Lebens in Oxford. Carnap, obwohl selbst in Chicago in einer unsicheren Position -- bis Mitte der 1940er-Jahre gewährte man ihm nur befristete Verträge -- wurde doch von Neurath als der Erfolgreichere wahrgenommen. Wenn Neurath also Carnap, gelegentlich in einem Atemzug mit seinem Schwager Hans Hahn, des ,,Bonzentums`` bezichtigt (S.\,\pagerefcn{bonzehahn}), so steht im Hintergrund eben diese Spannung: der nie wirklich von der Scientific Community aufgenommene Neurath gegen den (zumindest von Neurath als solcher gesehene) Paradeakademiker Carnap. Die sozialen Rollen kehren sich im Verlauf des Briefwechsels geradzu um. Als Carnap 1926 nach Wien kam, stand Neurath mitten im beruflichen Leben als Organisator und Reformator im Roten Wien, der über einen ganzen Stab von Mitarbeiter*innen verfügte und zunehmend auch international aktiv wurde. Mit dem Austrofaschismus begann für Neurath eine Zeit der beruflichen und wirtschaftlichen Unsicherheit. Jenseits der organisatorischen und finanziellen Möglichkeiten des Roten Wien und mangels jeder akademischen Verankerung war Neurath im holländischen Exil auf Geldmittel aus Publikationsverträgen angewiesen, die jedoch immerhin noch ausreichten, neben seiner Frau Olga Neurath und Marie Reidemeister\footnoteM{Zu dieser Dreiecksbeziehung siehe Sandner, \textit{Otto Neurath}, 185--187.} auch die Mitarbeiter Gerd Arntz und Josef Scheer (samt deren Familien) finanziell über Wasser zu halten. Zwar gelang es Neurath, sein Institut für bildpädagogische Arbeiten (auch durch die 1936/37 in den USA geknüpften Verbindungen) wieder in besseres Fahrwasser zu bringen, doch schon bald musste er wieder bei Null anfangen: Nach der dramatischen Flucht vor den im Mai 1940 die Niederlande überfallenden Nationalsozialisten in einem Rettungsboot über den Kanal und der monatelangen Internierung als ,,enemy refugee`` auf der Isle of Man\footnoteM{Vgl. Sandner, \textit{Otto Neurath}, 262--270, sowie Tuboly, ,,United by Action: Neurath in England``.} waren in der Kriegszeit die verbleibenden Mittel aus Publikationsverträgen und Filmproduktionen gerade genug für ein einfaches Leben zu zweit. Otto und Marie Neurath (die Heirat erfolgte 1941, Olga Neurath war bereits 1937 verstorben) akklimatisierten sich rasch und identifizierten sich mit dem britischen Lebensstil des pragmatischen ,,muddling through`` (Brief~\refcn{muddlingthrough} und~\refcn{1942-12-22-Neurath-an-Carnap}). Beruflich waren diese Jahre nicht erfolglos, die bildpädagogischen Arbeiten wurden fortgesetzt und auch in Filmprojekten angewendet. Diese positiven beruflichen Aspekte und das von Neurath immer wieder betonte persönliche Glücksempfinden kontrastieren aber mit Neuraths Rolle als akademischer Randfigur und mit dem im Briefwechsel mit Carnap häufig erkennbaren Frust Neuraths über den Gesamtzustand der Wissenschaft und der Philosophie, unter Einschluss so gut wie aller Denker des logischen Empirismus. Carnap, auf der anderen Seite des Ozeans, empfand zwar subjektiv sein Los nicht immer als angenehm -- er litt unter Rückenproblemen ebenso wie unter der Isolierung an der University of Chicago\footnoteM{Vgl. Carnap, \textit{Intellectual Autobiography}, 39--43.} --, sein sozialer Status war dennoch als Professor an einer renommierten Universität ein anderer als der des am Rande des Oxforder Wissenschaftsbetriebs stehenden De-facto-Privatgelehrten Neurath. Die in den hier dokumentierten Konflikten immer wieder auftauchende Diskussion über Neuraths von Carnap als mitunter kaum verständlich und so gut wie immer mangelhaft ausgearbeitet diagnostizierten Texte (eine Diagnose, der Neurath in Teil\-aspekten durchaus zustimmte) muss ebenso vor diesem Hintergrund gesehen werden wie die immer wiederkehrende Hypersensibilität Neuraths betreffend die seiner Auffassung nach mangelnde Bezugnahme Carnaps auf Neurath'sche Quellen. Carnap entwickelte spätestens in seiner Zeit in den USA eine schriftstellerische Praxis, die der wechselseitigen Qualitätskontrolle verpflichteten akademischen Publikationskultur entsprach. Texte mussten einen bestimmten formalen Aufbau aufweisen; Bezugnahmen auf die jeweils aktuelle Forschungsliteratur waren obligatorisch; und eine ins Detail gehende rationale und konsistente Argumentation war erforderlich. Die Produkte dieser Kultur sind, das kann man gerade anhand von Carnaps Texten aus der Zeit nach 1935 überprüfen, nicht immer leicht verdaulich und unterhaltsam. Gleichwohl sah es Carnap als unumgängliche Konsequenz seiner antimetaphysischen Grundhaltung, Philosophie stilistisch an gängige wissenschaftliche Standards anzupassen, und forderte dies auch von seinen Mitstreitern. Neurath verstand in dieser Hinsicht unter Antimetaphysik etwas grundlegend anderes. Ihm kam es bei der Überwindung veralteter philosophischer Denkweisen nicht auf die Anpassung an akademische Maßstäbe des Publizierens an, sondern auf die Formulierung von wissenschaftlichen Ideen in einer (zumindest nach seiner eigenen Auffassung) gemeinverständlichen Sprache, jenseits des ihm zusehends problematisch erscheinenden Expertenjargons.\footnoteM{Vgl. Neurath, \textit{Visual Education}, 254--259.} Resultat war die Verwendung einer Ausdrucksweise, in der auf technische Termini zugunsten notorisch unterdeterminierter ,,Ballungen`` verzichtet wird. Neuraths Texte sind dadurch eingängiger und einem breiteren Publikum zugänglicher als die spröden Arbeiten Carnaps. Aus dem selben Grund waren sie für Carnap, aber auch für Schlick, Hans Reichenbach und andere Repräsentanten des logisch-empiristischen Netzwerks nur in Ausnahmefällen und nur nach umfangreichen und häufig schmerzhaften Korrekturprozessen akzeptabel. Neurath verstieß gegen akademische Gepflogenheiten und brüskierte seine Mitstreiter dadurch. \nichtdrucken{Allerdings gab es in der Haltung gegenüber Neurath durchaus Unterschiede zwischen Reichenbach und Schlick auf der einen und Carnap auf der anderen Seite. Während die ersten beiden jede Abweichung vom akademischen Stil unter allen Umständen verbieten wollten, und zwar aus den gleichen Gründen, weil sie nur so eine Möglichkeit sahen, die wissenschaftliche Weltauffassung von bloßer ,,Begriffsdichtung`` zu unterscheiden, betrachtete Carnap das ,,dichterische`` Sprechen als ebenso legitim wie politisch bedeutsam,\footnoteM{Carnap, ,,Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache``, 237--241.} nur forderte er bei jedem Text sozusagen die Angabe einer entsprechenden Kennzeichnung als entweder wissenschaftlich oder gemeinverständlich und er forderte weiters, die akademischen Kanäle -- also die Zeitschrift \textit{Erkenntnis} und die Reihen des Netzwerks -- von Texten frei zu halten, die an eine breite Öffentlichkeit adressiert sind: letztere sollten allgemeinverständlichen Reihen wie den \textit{Veröffentlichungen des Vereines Ernst Mach} und nichtakademischen Publikationen und öffentlichen Vorträgen vorbehalten bleiben. Während Schlick und Reichenbach unter dem Panzer der Humorlosigkeit Neuraths Schreibstil weitgehend ablehnten, anerkannte Carnap Neuraths Talent für die Prägung griffiger Formulierungen. Dies führte, vom \textit{Aufbau}-Vorwort bis zu ,,Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen`` und zum Vorwort zu \textit{Logische Syntax der Sprache}, wo Formulierungen zum Teil direkt von Neurath stammen (Briefe \refcn{1933-04-04-Carnap-an-Neurath}, \refcn{1933-04-06-Neurath-an-Carnap} u. \refcn{offenerozean}), zu stilistischen Anleihen. Nur konnte und wollte Neurath nicht einsehen, dass der dem öffentlichen Intellektuellen gebotene polemische Witz dem akademischen Philosophen plötzlich verboten sein sollte. Kritisierte Carnap an Neurath also konkret dessen Mangel an Präzision, so bezieht sich Neuraths Kritik zumindest bis Mitte der 1930er-Jahre vorwiegend auf unzureichende Referenzen Carnaps, die Neuraths Input zu seinen Theorien herausstreichen. Auch diese Konfliktlinien hängen zum Teil mit der unterschiedlichen sozialen Rolle zusammen, die von den Freunden eingenommen wurde. Während Carnap insistierte, dass die formale Nennung von Namen und Referenzen als Quellenangaben ausreichen -- so selbstverständlicher Usus in akademischen Texten -- schwebte Neurath eher so etwas wie die Gestaltung von Aufsätzen in Dialogform bzw. geradezu als öffentlicher Briefwechsel vor (Brief ???). So weit reichte der Humor allerdings bei Carnap nicht. Er insistierte auf die Einhaltung akademischer Ausdrucks- und Umgangsformen und stieß den Freund dadurch immer wieder vor den Kopf.} Die den hier veröffentlichten brieflichen Austausch prägenden und am Ende dominierenden Konflikte erwiesen sich dennoch über die gesamten 1930er-Jahre immer als reparabel. Man konnte sich noch so sehr über Wochen und Monate in brieflichen Kontroversen verlieren, es genügte ein einmaliges persönliches Treffen und der Austausch in familiärer Atmosphäre führte dazu, dass man sich wieder bestens verstand (Brief \refcn{konfliktbrief}f.). Gerade in den ersten Chicagoer Jahren Carnaps traten die Konflikte sogar in den Hintergrund. Was die Spannungen in den 1940er-Jahren aufleben und schließlich eskalieren ließ, war auch dem Umstand geschuldet, dass die persönlichen Treffen (die auch nach der Emigration Carnaps in die USA stattfanden: 1936, 1937, 1939) als soziales Heilmittel durch den Krieg unmöglich gemacht wurden. Neurath sah Metaphysik und ,,Absolutismus`` innerhalb des eigenen Lagers im Erstarken und Carnap antwortete auf Neuraths harsche Kritik zusehends unwillig und verletzt. Neuraths lange erwarteten Beitrag zur Enzyklopädie fand Carnap so mangelhaft, dass er sich weigerte, dafür als Herausgeber zu zeichnen (Brief~\refcn{1944-10-07-Carnap-an Neurath}). Neurath reagierte tief getroffen. Vollends zur Tragödie wird dieser Briefwechsel aber durch Neuraths unerwarteten Tod, der einen dramatischen Schlusspunkt hinter seine letzten bitteren Briefe setzt. \subsection{Philosophische Debatten} %\subsubsection{Vom \textit{Aufbau} zum Physikalismus} Neben dem im vorigen Abschnitt charakterisierten Einfluss auf seine antimetaphysische Grundhaltung liegt die stärkste Prägung der Philosophie Carnaps durch Neurath in dessen maßgeblicher Rolle beim Übergang vom erkenntnistheoretischen \textit{Aufbau}-Pro\-gramm zum Physikalismus.\footnoteM{Thomas Uebel hat in vielen seiner Publikationen diese Entwicklung rekonstruiert und dokumentiert. Siehe etwa Uebel, \textit{Empiricism at the Crossroads}, ,,Neurath's Influence on Carnap's \textit{Aufbau}`` und ,,Was bedeutet Carnaps ,Reinigung` der Erkenntnistheorie{?}``.} Ideen des Marburger Neukantianismus und der Phänomenologie Husserls aufgreifend, entwirft der \textit{Aufbau} unter dem Eindruck von Frege und Russell eine Konstitutionstheorie der Begriffe\footnoteM{Für eine Darstellung dieser Entwicklung und Literaturhinweise zum \textit{Aufbau} siehe Damböck, ,,Die Entwicklung von Carnaps \textit{Aufbau} 1920 bis 1928``.}, die sich auf ,,Erlebnisse``, also auf eine ,,eigenpsychische Basis`` stützt (\S\S\,58, 64, 67). Neurath war mit vielen Gesichtspunkten dieses ehrgeizigen und im Kern einheitswissenschaftlichen Projektes einverstanden. Der Empiriokritizismus, dem sich der Erste Wiener Kreis verschrieben hatte, fußte wie Carnaps \textit{Aufbau}-Projekt auf funktionalen Beziehungen anstatt dem traditionellen Substanz-Akzidenz-Schema: ,,[D]ie einfachsten Tatsachen``, so Mach, ,,sind an sich immer unverständlich [\ldots] Verstehen besteht eben im Zerlegen``.\footnoteM{Mach, \textit{Die Geschichte und die Wurzel des Satzes von der Erhaltung der Arbeit}, 31.} Ebenfalls ganz d'accord war Neurath mit der Idee, eine Konstitutionstheorie monistisch aufzubauen, nicht dualistisch oder pluralistisch. Es ,,gibt`` nur eine Art von Entitäten und wir führen jede Aussage, jeden Begriff, jedes Ding auf diese eine Art zurück. Auch dass es, wie Carnap betont, keinen Unterschied gibt zwischen Dingen und Begriffen (\S\S\,1--5), war ganz im Sinne von Neuraths empiriokritizistischer Philosophie. Gleichfalls in Übereinstimmung sah sich Neurath mit der von Carnap gewählten Auffassung von ,,Verstehen``. Es geht nicht um ,,Einfühlung``, also ein intuitives Erfassen des Denkens und Wollens der anderen, sondern um eine Rekonstruktion, die nur auf dem Verhalten und der Gehirnphysiologie der anderen fußt sowie auf der Annahme, dass alle menschlichen Subjekte analog funktionieren.\footnoteM{Vgl. Uebel, ,,Neurath on Verstehen``, sowie Damböck, ,,Is There a Hermeneutic Aspect in Carnap's \textit{Aufbau}?{}``.} Nicht einverstanden war Neurath hingegen mit der konventionalistischen Haltung Carnaps: Der \textit{Aufbau} proklamierte, dass ein Begriffssystem zwar monistisch sein muss -- nur so kann die Einheit der Wissenschaft erzielt werden --, aber er stellte es den Konstrukteur*innen eines solchen frei, welche Art von Entitäten man als ,,Basis`` ansetzt. Ein eigenpsychisches System, das sich auf ,,meine Erlebnisse`` stützt, ist demnach eine Option, ein physikalistisches, das auf wahrnehmbaren Dingen und deren Eigenschaften aufbaut, eine andere. Neurath kritisierte die Idee einer eigenpsychischen Basis jedoch grundsätzlich. Meine und deine Erlebnisse sind zwar unbestreitbar wissenschaftlich relevant. Empirisch fassbar und damit wissenschaftlich adressierbar werden sie aber erst durch ihre raumzeitlichen Repräsentationen, also einerseits die entsprechenden neuronalen Vorgänge, andererseits die Gesten, Verhaltensweisen, sprachlichen Äußerungen (Protokolle), durch die wir Erlebnisse zum Ausdruck bringen. Die dem \textit{Aufbau} zugrundeliegenden Elementarerlebnisse und Ähnlichkeitserinnerungen hingegen sind für sich genommen keine empirischen Qualitäten. Um Erlebnisse wissenschaftlich zu thematisieren, muss man entweder auf Befunde darüber durch psychologische Versuchspersonen setzen (die im Experiment ihre Erlebnisse artikulieren) oder -- was in den 1930er-Jahren allerdings noch reine Utopie war -- auf entsprechende Messungen neuronaler Zustände. Genau diese Position übernahm Carnap in den frühen 1930er-Jahren. Viele der späteren Konflikte zwischen Carnap und Neurath fußen in der (rückblickend gesehen wohl unbegründeten) Angst Neuraths, Carnap könnte in die alte phänomenalistische bzw. solipsistische Denkweise zurückfallen. Bestärkt wurde diese Angst nicht zuletzt durch Äußerungen Dritter, wie Schlicks Beiträge zur Protokollsatzdebatte, Poppers Erkenntnistheorie, Tarskis Arbeiten zum Wahrheitsbegriff oder Russells \textit{An Inquiry into Meaning and Truth}. %\subsubsection{Die Protokollsatzdebatte} Der Physikalismus, also die Idee, dass sich die Wissenschaft empirisch nur auf fallible Befunde über sinnlich wahrnehmbare Ereignisse stützen kann -- d.\,h. das an der physikalischen Wirklichkeit, was der menschlichen Erfahrung zugänglich ist --, wurde die gemeinsame Grundlage der Philosophien von Carnap und Neurath. Verfestigt wurde dieser neue empiristische Ansatz in der sogenannten Protokollsatzdebatte.\footnoteM{Für einen Überblick siehe Damböck, \textit{Der Wiener Kreis}. Zur Entwicklung der Protokollsatzdebatte in all ihren Details siehe Uebel, \textit{Empiricism at the Crossroads}.} Protokollsätze (manchmal auch Basissätze genannt) sind Aussagen über wahrgenommene raumzeitliche Sachverhalte. Aus Theorien generierte Prognosen sind der Bestätigung bzw. Widerlegung durch Protokollsätze zugänglich. Theorien selbst haben in der Regel nicht den Charakter von Protokollen, weil sie zu abstrakt sind: Die Theorie, dass die Sonne alle 24 Stunden aufgeht, kann immer wieder in entsprechenden Sonnenaufgangsprotokollen erhärtet werden; sie selbst ist aber kein einzelnes Protokoll, sondern -- im einfachsten Fall -- eine unbegrenzt lange Verknüpfung von solchen (also Aussagen über alle Sonnenaufgänge an allen Tagen der Vergangenheit und Zukunft). Protokollsätze bilden die empirische Basis der Wissenschaft, weil es Sätze dieser Art sind, die Theorien überhaupt erst überprüfbar machen. Unbestritten war im Wiener Kreis die Auffassung, dass Protokollsätze selbst fallibel sein müssen, weil man Halluzination, Irrtum und Betrug nie ausschließen kann. Wie Protokollsätze jedoch konkret formuliert werden sollen, darüber gingen die Meinungen auseinander. Schlick stützte sich in seinem Vorschlag zur Protokollsatzdebatte auf ,,Konstatierungen``, also subjektive Erlebnisse, in denen (danach wieder fallible) Protokolle in absoluter Weise mit der Wirklichkeit verknüpft werden.\footnoteM{Schlick, ,,Über das Fundament der Erkenntnis``, 94--99.} Diese Hintertür zu den Erlebnissen machte Schlicks Haltung für Carnap und Neurath inakzeptabel. Aber auch die Vorschläge der beiden, die den Physikalismus strikt vertraten, gingen auseinander. Neurath postulierte eine komplexe Satzform, die neben dem protokollierten Sachverhalt auf die protokollierende Person Bezug nimmt und das ,,Sprechdenken`` dieser Person: \begin{quotation} \textit{Ottos Protokoll um 3 Uhr 17 Minuten: [Ottos Sprechdenken war um 3 Uhr 16 Minuten: (Im Zimmer war um 3 Uhr 15 Minuten ein von Otto wahrgenommener Tisch)].}\footnoteM{Neurath, ,,Protokollsätze``, 207\,/\,GphmS 580.} \end{quotation} \noindent Sinn dieser verschachtelten Anlage ist, dass man bestimmte Protokollsätze auch dann aufrecht erhalten kann, wenn Teile der Struktur umformuliert werden müssen: ,,Man kann den Satz: ,Die Menschen sahen im 16. Jahrhundert feurige Schwerter am Himmel` beibehalten, während man den Satz ,Am Himmel waren feurige Schwerter` schon streichen würde.``\footnoteM{Neurath, ,,Pseudorationalismus der Falsifikation``, 362\,/\,GphmS 642.} Es geht also darum, die Akeptanzbedingungen bzw. die möglichen Irrtumsquellen (für den Protokollsatz als ganzen) zu bestimmen. Wir können im Nachhinein verstehen, was die Mystiker des 16. Jahrhunderts dazu brachte, metereologische bzw. astronomische Phänomene als feurige Schwerter zu interpretieren: ihre Berichte sind nicht falsch, aber korrekturbedürftig. ,Gestrichen` werden müssen nur gänzlich faktenfreie Lügen und Irrtümer. Aber selbst hier lässt der Kontext das Motiv erkennen und der gestrichene Protokollsatz bleibt gleichwohl eine Aussage, die in ihrem Kontext eine bestimmte Funktion erfüllt (etwa als manipulativer Propagandasatz). Protokollsätze sind ,,komplexe, wenig saubere Sätze -- ,Ballungen`{}`` und bilden nur als solche ,,das Grundmaterial der Wissenschaften``.\footnoteM{Ebd.} Neuraths Standpunkt ist der des Sozialwissenschaftlers und Historikers, der grundsätzlich jedes schriftliche Zeugnis als bedeutungsvoll betrachtet und auch Lügen und den ,,glossogonen Unsinn`` (S.\,\pagerefcn{glossogon}) der Metaphysik als Werkzeuge der politischen Manipulation semantisch erschließt. Dass selbst gänzlich sinnlose und als falsch gestrichene Aussagen zwar rational und wissenschaftlich unhaltbar sind, aber dennoch wichtige Teile des historischen Textbestandes darstellen und dass auch eine reformierte Wissenschaftssprache zwar wohl auf Lügen und Metaphysik verzichtet, nicht aber auf ,,unpräzise Ballungen`` ungefährlicher Art, sind zwei Spielarten des Neurath'schen Holismus: ,,Es gibt keine tabula rasa. Wie Schiffer sind wir, die ihr Schiff auf offener See umbauen müssen, ohne es jemals in einem Dock zerlegen und aus besten Bestandteilen neu errichten zu können.``\footnoteM{Neurath, ,,Protokollsätze``, 206\,/\,GphmS 579.} Carnap hatte keine Einwände gegen diese holistische An\-schau\-ung. Allerdings schien ihm Neuraths Vorschlag zur Konstruktion von Protokollen aus pragmatischen Erwägungen unnötig kompliziert und aus logischen Gründen fragwürdig. Der nach Formalisierung der Wissenschaften strebende Carnap war insgesamt weniger an der Erfassung der ganzen historischen Wahrheit über die Wissenschaften interessiert, sondern suchte ein möglichst praxistaugliches ,,Rahmenwerk`` für den physikalistischen Aufbau der Wissenschaften in ihrem jeweiligen Status quo. Protokolle mussten einfach nur die entsprechenden wahrnehmbaren Dinge und ihre wahrnehmbaren Eigenschaften adressieren, ohne auf die Details der Protokollierung einzugehen. Die Spreu vom Weizen zu trennen war im Übrigen eine Sache der Wissenschaft, nicht der Philosophie: ,,[D]ie Protokollsätze aufzustellen, ist Sache des beobachtenden, protokollierenden Physikers``.\footnoteM{Carnap, \textit{Logische Syntax der Sprache}, 244.} Zwar gibt es Irrtum, Halluzination und Betrug in der Wissenschaft, aber wir vertrauen darauf, dass es den Wissenschaftler*innen (ohne Handreichung durch die Philosophie) gelingt, eine brauchbare Datenmenge zu liefern, die so abgesichert ist, dass sie nachträglich nicht mehr revidiert werden muss. Carnap dachte dabei zunächst buchstäblich daran, dass man die Wissenschaft als absolute Instanz akzeptieren könnte: Ausreichende Standards vorausgesetzt liefern uns die Protokollsätze verlässliche Aussagen über die raumzeitliche Wirklichkeit, zu denen wir unsere Theorien in Beziehung setzen. Später gelangte er zu der Überzeugung, dass ein solcher Absolutismus, selbst wenn er nicht aus der Philosophie, sondern aus der Wissenschaft kommt und nur aus pragmatischen Erwägungen angenommen wird, inakzeptabel ist. Auch die Sätze einer wissenschaftlichen ,,Dingsprache``\footnoteM{Carnap, ,,Ueber die Einheitssprache der Wissenschaft``.} können immer nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit gelten, es ist also unumgänglich, ,,sämtliche Begriffe der Wissenschaftssprache in das ,schwebende Netz` zu legen, nicht nur die abstrakten der theoretischen Physik. Dann bleibt kein ,fester Felsen`, keine unerschütterlichen Protokollsätze.`` (TB~2.\,9.\,1940\diaryref{TB-2-9-1940}) In gewisser Hinsicht sind die von Carnap und Neurath ausgearbeiteten Vorschläge zur Protokollsatzdebatte arbeitsteilig und komplementär.\footnoteM{Vgl. zu den folgenden Ausführungen vor allem Uebel, ,,The Bipartite Conception of Metatheory``, und ,,Intersubjective Accountability``.} Um 1930 kümmerte sich Neurath um die Sozialwissenschaften, Carnap um die Psychologie. Insgesamt betrachtete Neurath die Wissenschaft in der externen Perspektive, wie sie sich den Sozialwissenschaften erschließt; Carnap thematisierte die Wissenschaft in ihrem Status quo in der Innenansicht, als mit formallogischen Methoden -- paradigmatisch in Mathematik und Physik vorgegeben -- zu konstruierendes Rahmenwerk für Entscheidungen. Gleichwohl werden hier zwei sehr verschiedene Perspektiven an die Wissenschaft angelegt, die unterschiedliche Herangehensweisen an Sprache erkennen lassen. Neurath war nicht gegen das Planen von Sprachen. Aber das war für ihn eine ,,Kunst``, keine wissenschaftliche Angelegenheit, sondern eine Frage der sozialen Praxis.\footnoteM{Neurath, ,,Universal Jargon and Terminology``, 128--134\,/\,GphmS 902--905. Zu Carnaps und Neuraths unterschiedlichen Sichtweisen auf Plansprachen vgl. z.\,B. die Briefe 212, 216, 217.} Redeweisen und Wörter, die nicht empiristisch, sondern metaphysisch wirken, galt es zu sanktionieren, um menschliche Entscheidungen transparent zu machen. Hingegen lehnte Neurath die Idee grundsätzlich ab, Sprachen per Festsetzung zu entwerfen. Seine ,,Ballungen`` bedeuten ein Bekenntnis zur historisch gewachsenen Sprache, dort wo Carnap (aber etwa auch Tarski) nicht nur jeden Spielraum für Neubildungen und innovative Konstruktionen sieht, sondern auch die Überzeugung vertritt, dass eine wissenschaftliche Sprache dadurch verbessert werden kann, dass man sie sozusagen im logischen Reagenzglas aus präzisen Definitionen aufbaut. Das bedeutet für Carnap zum einen die Einführung des ,,logischen Toleranzprinzips``.\footnoteM{Carnap, \textit{Logische Syntax der Sprache}, 44f.} Solange wir formal präzise vorgehen, können wir in der Wissenschaft absolut jede Sprachkonstruktion diskutieren: Jede Restriktion des ,,offene[n] Ozean[s] der freien Möglichkeiten``\footnoteM{Carnap, \textit{Logische Syntax der Sprache}, VI.} hemmt den Fortschritt. Und es bedeutet, dass eine zentrale wissenschaftliche Aufgabe in der ,,rationalen Rekonstruktion`` bzw. in der ,,Explikation`` besteht: Ersetzen von vagen, nicht vollständig bestimmten Begriffen durch klar und präzise definierte, die sich einer vollständig formalisierten Sprache bedienen.\footnoteM{Carnap, \textit{Aufbau}, \S\,100, und \textit{Logical Foundations of Probability}, Kapitel~1.} Neurath hingegen war hinsichtlich der Möglichkeiten der Rationalität skeptischer als Carnap. Hochwissenschaftliche Sprache mit präzisen Termini kann es nach Neurath nur in einigen eng begrenzten theoretischen Gebieten geben. Durch die Verbindung mit ,,unsauberen`` Protokollsätzen dringen Vagheit und Mehrdeutigkeit in den Bau der Wissenschaft ein, ohne dass dies vermeidbar oder grundsätzlich problematisch wäre. Den Anfang bildet immer die Alltagssprache, aus der durch Elimination metaphysischer Bestandteile ein in den jeweiligen natürlichen Sprachen brauchbarer ,,Universaljargon`` entsteht. Diese gereinigten Alltagssprachen lassen sich ineinander übersetzen\footnoteM{Neurath, ,,The Orchestration of the Sciences by the Encyclopedism of Logical Empiricism``, 503\,/\,GphmS 1004.} und konstituieren Wissenschaft als ,,internationale Folklore``: ,,What we call science may be regarded as the typical branch of arguing which human beings of all nations, rich and poor, have in common.`` Astronomie, Anatomie, Geographie, Freud und Leid sind international, Theologie, Metaphysik und Gesetze sind nur lokal.\footnoteM{Zitate und Paraphrasen von Neurath, \textit{Visual Education}, 251f.} Die Enzyklopädie war von Neurath in diesen späten Überlegungen intendiert als das Medium einer als internationale Folklore von metaphysischen Schlacken befreiten Wissenschaft und sollte so als Grundlage der Demokratie fungieren. Expert*innen, Carnap eingeschlossen, konnten dazu nur dann etwas beitragen, wenn sie bereit waren, die Verbindungen zwischen Fach- und Universaljargon aufrechtzuerhalten. Carnap dagegen verstand die Enzyklopädie als ein eher innerwissenschaftliches Organ, dessen universeller Jargon die Logik sein sollte, also eine Universalsprache, die alle Wissenschatler*innen der Zukunft sprechen (kaum aber die Durchschnittsmenschen). In dieser logisch gereinigten Universalsprache ist die präzise und konsistente Explikation von Begriffen möglich und die interdisziplinäre Kommunikation, respektive Übersetzung von einer wissenschaftlichen Diktion in eine andere. Der Konflikt war vorprogrammiert, weil Carnap hartnäckig einen den Universaljargon als reduzierte Alltagssprache ad absurdum führenden Logikjargon sprach, Neurath hingegen stets der Alltagssprache und ihren ,,unpräzisen Ballungen`` verpflichtet blieb. Die in den letzten Briefen der hier vorgelegten Korrespondenz überdeutlich werdenden Konfliktlinien ändern jedoch nichts an dem potentiell arbeitsteiligen Charakter der beiden Forschungsprogramme von Carnap und Neurath. Eine im Universaljargon formulierte Enzyklopädie stellt dem Einzelnen wissenschaftliche Fakten zur Verfügung und ermöglicht es, informierte Entscheidungen zu fällen: mündige, nicht durch Propaganda und Desinformation getrübte Urteile. Genau diesem Ziel diente aber auch Carnaps Philosophie, namentlich in ihrer Entwicklung nach Neuraths Tod. Einerseits arbeitete Carnap die ,,nonkognitive`` Komponente in menschlichen Entscheidungen heraus: die von emotionalen Aufwallungen ungetrübte individuelle Einstellung, die meine Werturteile leiten soll.\footnoteM{Carnap, ,,Replies and Systematic Expositions``, 999--1013, und ,,Value Concepts (1958)``.} Andererseits ging es um die Art und Weise, wie diese nonkognitiven Einstellungen mit wissenschaftlichem Faktenwissen und rationalem Denken korrespondieren. Es ging Carnap um das Studium kausaler Konsequenzen einer Handlungsoption (wollen wir diese immer noch, wenn wir all ihre Implikationen kennen?), um Konsistenzüberlegungen (sind meine Präferenzen untereinander kompatibel?) und um das Setzen von Prioritäten (welche Maßnahme ergreifen wir wann in welcher Intensität? wie verteilen wir die vorhandenen Ressourcen?).\footnoteM{Vgl. Richardson, ,,Carnapian Pragmatism``; Carus, ,,Carnapian Rationality``, sowie Damböck, ,,Carnap's Noncognitivism: Paths and Influences``.} Eine Konzeption, die in ihrer Orientierung an der Entscheidungspraxis des Einzelnen und der Zurückweisung überindividueller Werte durchaus Neuraths Sympathien hätte erwecken können. \subsection{Zur Edition} \subsubsection{Zur Geschichte und zum Kontext dieser Edition} Als in den späten 1970er-Jahren die historische Auseinandersetzung mit dem Wiener Kreis und dem logischen Empirismus begann, war eines der ersten Projekte das einer Edition des Briefwechsels zwischen Carnap und Neurath.\footnoteM{Siehe Hegselmann, ,,Die Korrespondenz zwischen Otto Neurath und Rudolf Carnap aus den Jahren 1934 bis 1945 -- ein vorläufiger Bericht``.} Rainer Hegselmann bereitete gemeinsam mit Marie Neurath und Henk Mulder getrennte deutsch- und englischsprachige Editionen vor, die sich allerdings nur auf den Bestand der im Neurath-Nachlass zu findenden Briefe ab 1934 stützen konnten. Trotz umfangreicher Vorarbeiten -- die Manuskripte, einschließlich deutsch- und englischsprachiger Versionen/Übersetzungen aller für die Edition vorgesehenen Briefe befinden sich heute am Institut Wiener Kreis -- kam die Edition nicht zustande, hauptsächlich weil sich Hegselmann seit den 1990er-Jahren anderen philosophischen Themen gewidmet hat. Auch im Rahmen der ebenfalls zu Beginn der 1980er-Jahre begonnenen Neurath-Edition wurde der Briefwechsel unberücksichtigt gelassen. Die Edition umfasst (mit ganz wenigen Ausnahmen) nur die publizierten Texte Neuraths und wurde erst 2022 -- also über 40 Jahre nach Beginn -- abgeschlossen.\footnoteM{Die schon früher publizierten Bände erschienen unmittelbar vorher in einer Neuauflage.} Im Fall Rudolf Carnaps wurde zwar unmittelbar nach dessen Tod die Produktion von deutsch- und englischsprachigen Werkausgaben diskutiert, mit der Umsetzung dieser Pläne konnte jedoch ebenfalls erst in jüngster Vergangenheit begonnen werden: mit dem ersten Band der \textit{Collected Works} und den ersten beiden Bänden einer Tagebuchedition.\footnoteM{Carnap, \textit{Early Writings}; \textit{Tagebücher 1908--1919}; \textit{Tagebücher 1920--1935}.} Letztere ist Teil eines größeren, im Meiner Verlag angesiedelten Vorhabens, das textkritische Editionen von Dokumenten aus dem Nachlass von Carnap erarbeitet und im Zuge dessen auch eine Briefedition projektiert ist. Erste Teile dieser Briefedition sind in der Gestalt von Faksimiles und Transkriptionen bereits online in der Datenbank VALEP (\href{https://valep.vc.univie.ac.at/}{valep.vc.univie.ac.at}) verfügbar.\footnoteM{Carnap, \textit{Wissenschaftlicher Briefwechsel}, DOI: \href{https://doi.org/10.48666/885181}{10.48666/885181}.} Als erster gedruckter Band erscheint die vorliegende Auswahledition. Diese wiederum kann sich nicht nur auf die Vorarbeiten von Hegselmann aus den 1980er-Jahren stützen, sondern vor allem auf die mittlerweile von Adam Tamas Tuboly und Jordi Cat erstellte Edition der englischsprachigen Briefe zwischen Carnap und Neurath aus den 1940er-Jahren.\footnoteM{Carnap/Neurath, ,,The 1940--1945 Neurath-Carnap Correspondence``, sowie Tuboly/Cat, ,,Editorial Introduction``.} Tuboly und Cat haben ihre Transkriptionen der vorliegenden Edition zur Verfügung gestellt; entsprechend profitierten sowohl der Text- als auch der Anmerkungsteil dieser Edition von deren Arbeit. \subsubsection{Gesamtbriefwechsel und Auswahl} Der gesamte Briefwechsel zwischen Carnap und Neurath umfasst knapp 600 Briefe, Postkarten und Telegramme, wobei etwas mehr als zwei Drittel von Neurath stammen. Eine (nach dem gegenwärtigen Forschungsstand) vollständige kritische Transkription ist zugänglich via VALEP\footnoteM{Carnap/Neurath, \textit{Briefwechsel}, DOI: \href{https://doi.org/10.48666/872268}{10.48666/872268}.}. In dieser Transkription ist jeder Brief von einem kurzen editorischen Bericht begleitet, der u.\,a. über den Archivort informiert und einen Link zu den ebenfalls auf VALEP liegenden Faksimilies enthält (in den meisten Fällen ist auch ein beim Absender verbliebener maschinenschriftlicher Durchschlag erhalten). Das ergibt ein Textkorpus, das als Ge\-samt\-edition im Format der philosophischen Bibliothek mindestens den doppelten Umfang wie die vorliegende Ausgabe hätte. Wir haben uns aus pragmatischen und inhaltlichen Erwägungen für die Erstellung einer Auswahledition entschieden, die mit einem Band das Auslangen findet und sich auf die konzise Dokumentation der intellektuellen wie auch der persönlichen Beziehung zwischen Carnap und Neurath fokussiert. \nichtdrucken{in Folge für die Erstellung einer Auswahledition entschieden. Ausschlaggebend dafür war einerseits das Bestreben, mit einem Band das Auslangen zu finden, andererseits die noch viel schwerer wiegende Einsicht, dass es nicht nötig ist, auf einer vollständigen Ausgabe zu bestehen. Im Gegenteil sind wir der Überzeugung, dass es für eine konzise Dokumentation der intellektuellen wie auch der persönlichen Beziehung zwischen Carnap und Neurath eher von Vorteil ist, wenn die Interessierten nicht vom gesamten Material überflutet werden, insbesondere, wenn dieses in erheblichem Maße organisatorischen und editorischen Fragen gewidmet ist, die naturgemäß nur für Spezialist*innen von Interesse sind. In diesem Abschnitt soll daher zuerst einmal der Gesamtbriefwechsel und die Auswahlkriterien für die vorliegende Edition beschrieben werden.} In der gemeinsamen Wiener Zeit hat der Briefwechsel mehr den Charakter von Ergänzungen zu den regelmäßigen Begegnungen und findet auch fast ausschließlich in den Perioden statt, in denen einer der beiden verreist ist. Mit Carnaps Weggang nach Prag im Herbst 1931 dreht sich dieses Verhältnis geradezu um: Der Austausch findet nun primär in der Korrepondenz statt, die persönlichen -- meist recht kurzen -- Treffen sind Ergänzung. Die Prager Zeit Carnaps bildet den Schwerpunkt dieser Korrespondenz: Fast 250 Briefe stammen aus dieser nur wenig mehr als vier Jahre währenden Phase. Freilich ist das nicht nur den intensiv geführten philosophischen Debatten, in dieser Zeit vor allem über Protokollsätze und Physikalismus, zu verdanken. Mit der Etablierung, Konstitutionalisierung und Internationalisierung der Bewegung des logischen Empirismus ist die Korrespondenz in zunehmendem Maße organisatorischen und editorischen Angelegenheiten gewidmet. Dazu zählt die Herausgabe der Zeitschrift \textit{Erkenntnis} (für die Neurath zumeist die umfangreichen Dokumentationen der Kongresse besorgte) oder der Reihe \textit{Einheitswissenschaft} ebenso wie der intensive Austausch unmittelbar vor der sogenannten \textit{Vorkonferenz} in Prag 1934 und dem \textit{Ersten Internationalen Kongreß für Einheit der Wissenschaften} in Paris 1935. Die zunehmende Institutionalisierung drückt sich auch darin aus, dass ein Teil dieser organisatorischen Korrespondenz in Form von Rundbriefen Neuraths an mehrere Empfänger geht: an ,,die Fünf`` (neben Carnap und Neurath: Frank, Reichenbach und Rougier) für Paris 1935; später an das eben dort gegründete ,,Organisationskomitee für Kongresse`` (neben Carnap und Neurath: Frank, Morris, Reichenbach, Rougier, Stebbing, J\o rgensen). Mit Carnaps Emigration in die USA zum Jahresende 1935 ändert sich der Status des Briefwechsels. Die philosophischen Debatten werden zwar fortgeführt und um neue Themen bereichert (vor allem Wahrheitsbegriff und Semantik), es überwiegen in dieser Phase aber organisatorische und editorische Fragen, vor allem zum Großprojekt der \textit{Encyclopedia of Unified Science}. Dem\-entsprechend spielt sich die Korrespondenz in noch stärkerem Ausmaß als zuvor in Form von Rundschreiben Neuraths ab, teils an mehr oder weniger offizielle Gremien (z.\,B. das ,,Enzyklopädiekomitee``; neben Carnap und Neurath: Frank, J\o rgensen, Morris, Rougier), teils an Morris, den dritten Herausgeber der Enzyklopädie, als weiteren Empfänger. Gegen Ende dieser Phase kommen mit der schwierigen Verlegung der \textit{Erkenntnis} in die Niederlande und neuen von Neurath gegründeten Schriftenreihen weitere organisatorisch-editorische Themen dazu. Viel Raum im Briefwechsel dieser Zeit nimmt auch die -- leider in einigen Fällen vergebliche -- Hilfestellung bei der Emigration der gemeinsamen wissenschaftlichen Freundinnen und Freunde ein. Bedingt durch die Rundbriefe, von denen oft mehrere mit der gleichen Post geschickt wurden, bleibt die Gesamtzahl der Briefe weiterhin sehr hoch (fast 250 in fünfeinhalb Jahren); der persönliche Kontakt reißt auch nicht völlig ab (von 1936 bis 1939 war Neurath insgesamt viermal in den USA, im Sommer 1937 Carnap in Europa). Die organisatorischen Angelegenheiten kommen in der letzten Phase, die mit Neuraths Flucht nach England im Mai 1940 beginnt, kriegsbedingt fast völlig zum Stillstand. Die Briefe werden seltener, aber tendenziell länger. Inhaltliche Themen werden wieder ausführlicher diskutiert, zuerst zum wiederholten Male anhand von Popper, dann ausführlich im Anschluss an Russells \textit{Inquiry into Meaning and Truth}. Dem folgt die Fortsetzung der Aussprache über Semantik anhand von Carnaps \textit{Introduction to Semantics}, wobei sich bald herausstellt, dass die Kontroverse grundsätzliche Einstellungen betrifft. Die aufkeimenden persönlichen Konflikte werden weiter befeuert durch Carnaps Weigerung, für Neuraths lange erwarteten Beitrag zur Enzyklopädie als Herausgeber zu zeichnen. Ob die zunehmenden Antagonismen und Spannungen hätten aufgelöst werden können, bleibt aufgrund von Neuraths plötzlichem Tod unbeantwortet.\medskip \noindent Die für diesen Band getroffene Briefauswahl ist in erster Linie an philosophisch-inhaltlicher, in zweiter Linie an biografisch-historischer Relevanz orientiert. Mit wenigen Ausnahmen sind damit auch keine Rundbriefe enthalten, die vorrangig Organisatorisches behandeln. Freilich enthalten auch diese ,,Dienstbriefe`` (Neurath) oft wichtige Details zur Entwicklung des Netzwerkes des Logischen Empirismus: Wer wurde wo warum wozu eingeladen oder eben nicht. Aber auch zahlreiche exklusiv zwischen Carnap und Neurath gewechselte Briefe, die ebenfalls solchen organisatorischen Fragen gewidmet sind, konnten hier nicht aufgenommen werden. Insgesamt wurden aus dem Zeitraum 1931 bis 1935 knapp die Hälfte aller Briefe ausgewählt, aus der Zeit von 1936 bis 1939 nur etwa ein Fünftel. Die Briefe aus der ersten (1923--1931) und letzten (1940--1945) Phase sind hingegen mit wenigen Ausnahmen vollständig abgedruckt. In der Auswahl sind auch die meisten der Briefe enthalten, die Ina Carnap, Olga Neurath bzw. Marie Neurath als (Mit-)Empfängerinnen oder Absenderinnen aufweisen. Das ,,Mitlesen`` dieser Briefe durch Carnap und Neurath war mehr oder weniger vorausgesetzt, zum Teil stellen diese Schreiben sogar integrale Teile der Korrespondenz zwischen Carnap und Neurath dar (aus demselben Grund ist hier ein Brief von Carnap an Morris (Nr. \refcn{1944-06-19-Carnap-an-Morris}) aufgenommen). Zudem erhellen diese Briefe den Anteil der Frauen in der Bewegung des Logischen Empirismus und bieten eine ergänzende Perspektive auf die Beziehung Carnap-Neurath. Ebenfalls mit abgedruckt wurden die von Neurath gelegentlich als Unterschriften\-ersatz oder einfach als Illustration den Briefen hinzugefügten Zeichnungen, die meist Elefanten zeigen, einmal auch ein ,,Drachengeflecht`` (Brief \refcn{1927-12-31-Nr}). Neuraths Zeichnungen (und manchmal die längere Abwesenheit solcher Zeichnungen) sind wichtige atmosphärische Indikatoren und zeigen auch die Entwicklung der Grundgestimmtheit des Autors, von der selbstbewussten Opulenz der Zeichnungen in Brief \refcn{1927-12-31-Nr} und \refcn{1930-12-20-Neurath-an-Carnap} zur Abstraktion des Elefanten als eine Art Floh mit Rüssel in Brief \refcn{1945-09-24-Neurath-an-Carnap}. Um möglichst alle wichtigen Teile der Korrespondenz hier aufnehmen zu können, erfolgten auch Streichungen innerhalb einzelner Briefe, wobei die Kriterien dieselben sind wie für die Nicht-Aufnahme ganzer Briefe. Diese unterdrückten Passagen sind hier durch ,,\cutcn{xxx}`` kenntlich gemacht. \subsubsection{Gestaltung} Auf textkritische Auszeichnungen wurde grundsätzlich verzichtet: Diese bleiben der kritischen Edition vorbehalten. Eingriffe in den Text erfolgen damit stillschweigend, bis auf wenige Fälle, in denen der Nachweis in den Endnoten erfolgt. Durchgehend den damaligen Standards entsprechend vereinheitlicht wurden aus technischen Gründen nicht benutzte Zeichen (,,ß``, Umlaut-Großbuchstaben). Typografisch korrekte Sonderzeichen ersetzen behelfsmäßige Zeichen (wie z.\,B. in: \L{}ukasiewicz, J\o{}rgensen, Næss). Alle anderen Eingriffe sind auf ein Minimum beschränkt: Behutsam korrigiert wurde die Verwendung von Satz- inklusive Anführungszeichen, insbesondere von Kommata\nichtdrucken{, wobei sich diese Art von Eingriff in den englischen Briefen auf ein absolutes Minimum beschränkt}. Konsequente Kleinschreibung in einigen Briefen (von Ina Carnap) wurde nicht beibehalten. Daneben wurde nur die fehlerhafte Schreibung einzelner Wörter korrigiert, nicht aber sprachliche Besonderheiten der Autoren. Ab 1940 verfassen Carnap und Neurath ihre Briefe auf Englisch. Grund dafür ist teilweise die amerikanische und britische Zensur, aber auch ein neu entwickeltes kulturelles Selbstverständnis und gleichermaßen die Identifikation mit der neuen Heimat wie die kritische Haltung zum im Nationalsozialismus versinkenden Mitteleuropa. Carnaps Englisch ist präzise, wenn auch nicht idiomatisch. Neurath hingegen verwendet die neue Sprache mit einer gewissen unbekümmerten Rücksichtslosigkeit. Wir haben keine Versuche unternommen, die Besonderheiten von Neuraths Englisch zu korrigieren. Die Hervorhebung durch Unterstreichung und Großblock wird wie in den Originalen wiedergegeben, Sperrung durch Kursivsetzung. Handschriftliche Unterstreichungen in maschinenschriftlichen Briefen sind nicht berücksichtigt (da in den meisten Fällen wohl vom Empfänger stammend). Die Absatzformatierungen sind weitgehend an die Originale angelehnt, sanft angepasst wurden bei Bedarf Aufzählungen, Tabellen und dgl., immer vereinheitlicht sind Gestaltung der Anrede und der Grußformel. Der Anmerkungsapparat setzt sich aus drei Bestandteilen zusammen. In den \emph{Endnoten} werden vor allem Zitate und indirekte Referenzen nachgewiesen und kontextualisierende Erläuterungen geliefert. Die im Briefwechsel naturgemäß fast immer unvollständig zitierte Literatur ist dort nicht nachgewiesen, wenn diese sich leicht und unmissverständlich mittels des Literaturverzeichnisses identifizieren lässt. Bei Verweisen auf Schriften Neuraths wurden die Seitenzahlen der Originalpublikationen durch die in der Neurath-Gesamtausgabe ergänzt (für die dafür verwendeten Siglen siehe unten). Nachlassdokumente wurden in allen Fällen, wo dies möglich war, in VALEP verfügbar gemacht und können entweder direkt über die elektronische Fassung dieses Buches durch Anklicken der entsprechenden Links in den Endnoten oder in VALEP unter Verwendung der Such- und Filterfunktion aufgerufen werden. Das \emph{Literaturverzeichnis} umfasst alle in den Briefen und in den Endnoten erwähnten Publikationen, nicht aber Nachlassstücke, die nur in den Endnoten referenziert sind. Das \emph{Personenregister} führt alle im Haupttext der Briefe vorkommenden Personen an, nebst Lebensdaten, Betätigungsfeld und geeigneten Querverweisen (bei Spitznamen oder Referenzen auf Personen über deren Vornamen). In den Brieftiteln ist auch der Absendeort angegeben; ist dieser nicht explizit im Brief angeführt, aber mit hinreichender Sicherheit erschließbar, ist diese Angabe durch eckige Klammern markiert, ansonsten erfolgt die Angabe ,,o.\,O.``; desgleichen ist auch vermerkt, wenn es sich nicht um einen Brief im engen Sinn, sondern um eine andere Art von Korrespondenzstücken (Postkarte, Telegramm) handelt. Fehlende Brief-Unterschriften sind in eckigen Klammern ergänzt.\medskip \subsubsection{Abkürzungen und Siglen} Von den Briefautor*innen verwendete Abkürzungen wurden stillschweigend ergänzt. Davon ausgenommen sind: Gängige Abkürzungen, die in einem aktuellen Wörterbuch (\textit{Duden}, \textit{Oxford Dictionary}) aufgeschlüsselt sind; einige wenige Fälle, in denen die Erklärung mittels eines Kommentars erfolgt; Abkürzungen für Währungen (z.\,B. ,,frcs``); die häufig verwendeten Abkürzungen für ,,Manuskript/e`` (Ms, MS, MSe, Mskpt/e) und das ebenfalls oft verwendete ,,NB`` (,,Nachbemerkung`` bzw. ,,Nota bene``). Personennamen, die ebenfalls sehr oft (nach der ersten vollen Nennung) nur noch mit Anfangsbuchstaben geschrieben sind, wurden stillschweigend ergänzt, außer in den wenigen Fällen, in denen sich die Abkürzungen anderen als ökonomischen Gründen (etwa der Zensur) verdanken bzw. in denen eine Unklarheit bestehen bleibt. In den Endnoten finden folgende Siglen Verwendung (vollständige Angaben zu den Publikationen im Literaturverzeichnis): \begin{tabbing} RC-UCLA*\quad\=bla\kill GbpS\>Neurath, \textit{Gesammelte bildpädagogische Schriften}\\ GössS\>Neurath, \textit{Gesammelte ökonomische, soziologische}\\\> \textit{und sozialpolitische Schriften}\\ GphmS\>Neurath, \textit{Gesammelte philosophische und}\\\> \textit{methodologische Schriften}\\ Var\>Neurath, \textit{Gesammelte Schriften. Ergänzungsband.}\\\> \textit{Varia -- Verstreute Schriften}\\ ON\>Nachlass Otto Neurath, Wiener-Kreis-Archiv,\\\> Noord-Hollands Archief, Haarlem\\ RC\>Rudolf Carnap Papers, Archives of Scientific\\\> Philosophy, University of Pittsburgh Library \\\> System\\ RC-UCLA\>Rudolf Carnap Papers, University of California at\\\> Los Angeles, Charles E. Young Research Library,\\\> Special Collections Department, Manuscript\\\> Collection No. 1029, Rudolf Carnap\\ TB\>Carnap, \textit{Tagebücher}\\ \end{tabbing} \noindent Die Initialen ,,RC`` und ,,ON`` werden von den Briefautoren gelegentlich auch zur Signatur benutzt (von Neurath öfters geschrieben als ein ,,N`` in einem Kreis); eine Verwechslungsgefahr scheint nicht gegeben. \subsection{Danksagungen} Diese Edition ist zwischen 2018 und 2024 im Rahmen von drei FWF-Projekten entstanden, an den Universitäten Graz (P31159, durchgeführt von Johannes Friedl und Ulf Höfer) und Wien (P31716, P34887, durchgeführt von Christian Damböck). Zur Mitarbeit konnten Adam Tuboly, Josef Pircher und Lois M. Rendl gewonnen werden; ihnen verdanken sich Transkriptionen der Briefe (Pircher, Tuboly), Arbeit am Namenregister und den Annotationen (Rendl) sowie die Recherche historischer Hintergrundinformationen (Tuboly). Der Dank der Herausgeber gilt, neben Josef Pircher und Lois M. Rendl, vor allem denjenigen, die seit den 1980er-Jahren umfangreiche Vorarbeiten zur Erstellung dieser Edition geleistet und deren Früchte vollständig und selbstlos diesem Projekt zur Verfügung gestellt haben: Jordi Cat, Rainer Hegselmann und Adam Tuboly. Philipp Leon Bauer, Anna Brożek, Christoph Limbeck-Lilienau und Günther Sandner danken wir für Hilfestellung bei einzelnen Punkten der Kommentierung, Limbeck-Lilienau und Hans-Joachim Dahms für Kommentare zu dieser Einleitung. Außerdem danken wir den Archivinstitutionen, aus denen die hier abgedruckten Briefe stammen: dem Vienna Circle Archive am Noord-Hollands Archief in Haarlem (Neurath Nachlass), der Charles E. Young Research Library der UCLA (Carnap Teilnachlass), dem Hanna Holborn Grey Special Collections Research Center der University of Chicago (Unity of Science Movement Collection und University of Chicago Press Collection) und den den Hauptteil des Carnap-Nachlasses aufbewahrenden Archives of Scientific Philosophy am University of Pittsburgh Library System (bei Letzterem bedanken wir uns auch für die langjährige Betreutung durch Brigitta Arden, David Grinnell, Jason Rampelt und Ed Galloway). Wir bedanken uns bei Brigitta Arden und Brigitte Parakenings für die Erstellung von Trankskriptionen der in einigen Briefen enthaltenen kurzschriftlichen Randbemerkungen Carnaps. Schließlich gilt unser Dank dem Meiner Verlag und der hervorragenden Zusammenarbeit mit Jens Sören Mann in Fragen des Drucksatzes (teilweise in Zusammenarbeit mit Jens Dittmar, der den hier verwendeten \LaTeX-Stil programmiert hat) und mit Marcel Simon-Gadhof in allen editorischen Fragen.