\brief[Neurath an Carnap, \ekll{Den Haag,} 10.~April 1940]% {Otto Neurath an Rudolf Carnap, 10. April 1940}{April 1940}\labelcn{1940-04-10-Neurath-an-Carnap} \anrede{Lieber Carnap!} \haupttext{\cutcn{Ich sende Dir nun den Vertrag in drei Ausfertigungen mit drei verschiedenen Transportmöglichkeiten. Bitte sende mir zwei davon auf zwei verschiedenen Wegen zurück. Da der Verlag sehr großzügig Vertrag nach Vertrag schließt und druckt, habe ich ein allgemeines Vertragsschema aufgebaut, das ich nicht gern fallweise ändere (Quieta non movere!), aber Du bekommst ja Honorar und hast das Recht, bis 50 Stück zum halben Preis zu kaufen und kannst Menschen angeben, denen wir Rezensionsexemplare senden sollen. Gomperz ist mit Imprimatur im Druck. Kelsen ist in letzter Korrektur. Strauss, Hempel-Oppenheim, Waismann -- Verträge sind gezeichnet, ebenso Carnap. Weiteres folgt. Ich hoffe, Dein Manuskript kommt bald, möglichst in zwei Kopien auf zwei Wegen.} Ich habe gewartet, um Dir über Reach\IN{\reach} schreiben zu können (Vertrag teilte ich Dir durch Cable mit, damit Du weißt, daß alles in Ordnung ist). Die Engländer schrieben so ausweichend -- nun habe ich aber eben in einer englischen Zeitschrift gelesen, daß Flüchtlinge nicht mehr zugelassen werden. Also da ist nichts zu machen. Folglich bleibt nur übrig, daß man ihn nach USA bringt -- der sicherste Weg ist, glaube ich, jetzt über Italien. Er müßte dort eben irgendwie\fnA{\original{irgend wie}} unterkommen. Schließlich ist er der ,,letzte`` von denen, die uns nahestehen aus diesem Gebiet. Tu, was Du kannst. Du kannst ja über seine Begabung aus unmittelbarer Erfahrung sprechen und seine Unterbringung plausibel machen. Wenn Du was weißt, kable mir, ich schreibe dann an ihn, was nötig ist. Alles ist ja jetzt schwierig geworden. \cutcn{Es ist nicht leicht, die Adresseninformation zu organisieren. Ich habe mir sorgsam überlegt, was Du schreibst. Ich glaube, man wird nur fallweise einige von uns, die es dringender angeht, auf dem laufenden zu halten suchen. Das Versenden von ,,Listen`` geht kaum -- es wäre z.\,B. für jemanden in Deutschland unter Umständen peinlich, wenn die Zensur die Liste durchsieht, die Gelehrte in Feindländern umfaßt, dazu viele Emigranten usw. usw. Der Empfänger hat so was nicht gern. Die Post wird jetzt fast durchgehend zensuriert. Z.\,B. bekomme ich die engl\ekl{ische} und die deutsche Post immer zugeklebt mit dem Streifen der Zensurbehörde usw. usw. Dazu kommt, daß die Situation sich so rasch ändert. So ist doch jetzt Norwegen ,,kriegführend``. Andererseits ist es unter ,,deutschem Schutz``. \neueseite{}\zzz Überlege, wie schwierig es ist, eine Liste zusammenzustellen, die weder der englischen Zensur noch der deutschen unter Umständen mißfällt. Scholz würde sich nicht freuen, Listen zu bekommen, aber auch Skandinavier würde das eher bedrücken. Wir wissen noch nicht, wie der Postverkehr mit Schweden sein wird, ob er nur via deutsche Zensur möglich sein wird, oder ob es wieder direkte Flugzeuge geben wird. Zunächst sind sie mal eingestellt bis auf weiteres. Lindenbaum war via Schweden erreichbar -- ob jetzt noch, \editor{ist} zweifelhaft geworden. Ajdukiewicz war via Bialostock -- Lindenbaum Mann -- mit Lindenbaum Frau in Wilna in Kontakt telegraphisch. Er hat einige Zeit noch in Lemberg gelesen. Jetzt fehlen Nachrichten, kein Brief kam von ihm etc. So sieht in der Praxis der Adressenschatz aus, auf den es ankäme. Die emigrierten Freunde melden sich ohnehin. Ich glaube aber, daß es gut wäre, wenigstens einem Teil von uns eine Information über Adressen von Fall zu Fall zu geben. Ich will Dir bald darüber schreiben. Ob ENRIQUES, der doch alle seine Stellungen verloren hat, der seine Zeitschrift verloren hat usw., gern eine Liste bekommt, ist zweifelhaft. Es ist nicht einmal gut, wenn zu viele seine Adresse wissen, da nicht alle sich klar machen, daß ausländische Briefe in manchen Fällen ein ungutes Licht auf jemanden werfen können. So ist eben die Welt momentan. Ich könnte Dir eine Reihe von Personen aus Deiner Liste nennen, von denen ich weiß, daß sie lieber keine Briefe bekommen und vorziehen, sehr mittelbar zu schreiben. Es eilt nicht mit dem Prospekt für Bd. III--VIII. Es genügt, wenn wir im Herbst damit fertig sind. Erfreulich, daß die ersten beiden Hefte weiter gedruckt werden mußten. Die holländische Übersetzung von Modern Man, die im Januar erschien, ist schon vergriffen, gestern schickte ich Korrekturvorschläge für den Weiterdruck ab. All unsere Arbeiten gehen gut weiter. Ich habe sehr interessante neue Sache für USA zu bearbeiten bekommen. MENTAL HYGIENE. Fein. Im übrigen läuft alles weiter. Tuberkulose, Compton, A. Knopf (Vorbereitung meines neuen Buchs). Das JOURNAL OF UNIFIED SCIENCE geht gut weiter. Alles hat aber, wie ich feststellen muß, ein verlangsamtes Tempo. Schwer, im einzelnen die Ursache zu finden. So scheinen z.\,B. die Drucker Arbeiter bei der Armee zu haben und drucken langsamer usw. Ich z.\,B. bekomme manche Bücher schwieriger. Mein Beitrag für die Enzyklopädie ist weitestgehend vorbereitet. Aber einige Punkte müssen noch präziser werden. Man kann aber jetzt nicht einfach nach London fahren wie sonst und im British Museum was nachsehen. Man muß Auftrag geben, etwas zu exzerpieren usw. usw. Lästig. Usw. Aber das VOLUMEN der Tätigkeit ist wesentlich größer. Die Menschen lesen offenbar jetzt gern, so wie sie nach der Statistik hier z.\,B. mehr -- Blumen kaufen als sonst. Mir wäre lieb, wenn Du zum Prospekt einiges sagen wolltest. Die Monographien der ersten Bände werden ja jetzt gut weitergehen -- Rougier versprach, Beitrag bald zu senden. Er war auch durch den Krieg gehemmt, wie so viele. Von Jørgensen werden wir vielleicht jetzt schwerer etwas bekommen. Abwarten. Es FEHLT eigentlich nur der Biologe. Der Vorschlag von Morris, GERARD, scheint mir nicht genügend \glqq sicher\grqq. Was ich von ihm gelesen habe, ist nicht überzeugend in unserem Sinne, und die Information eines Fachmanns geht dahin, daß er vorwiegend mit Spezialarbeiten beschäftigt war. Ich hoffte sehr, Du würdest\fnA{\original{werdest}} ihn kennen und mir mehr über ihn sagen können. Ich hoffe, daß Du und Morris Santillana und Zilsel durchsehen werdet\fnA{\original{werden}}. Die Technik des Enzyklopädieherausgebens während großer Kriege muß auch erst erlernt werden. Diderot und d'Alembert hatten es schlechter als wir, das kann ich Dir versichern. \neueseite Ich hoffte, mit Kaila jetzt direkt in Kontakt zu kommen -- ich wartete, bis die normalen Beziehungen in Finnland wiederhergestellt seien -- und nun ist erst recht alles wieder unübersehbar geworden. Ich will aber, sobald ich irgend einen Weg sehe, mich über seine Absichten zu informieren oder mit Næss und Jørgensen wieder in Kontakt zu treten, allen schreiben. An sich wäre doch sein Buch für die Library geeignet. Wenn wir auch nicht zu viele Bände rasch nach einander bringen können. Ich packe jetzt meist Sachen erst dann intensiver an, bis die Gesamtsituation jeweils klarer ist (d.\,h. heller oder schwärzer) -- es ist wahrscheinlich schwer, Dir diese Art von europäischer Einstellung zulänglich zu übermitteln. Einerseits ununterbrochene, brave Arbeit, andererseits Hinschielen auf die Gefahrenherde. Und deren sind nicht wenig. Solange ich von Kaila nicht weiß, daß er in aktionsfähiger Lage ist, wollte ich Næss und Jørgensen nicht in Bewegung setzen. Die Diskussion des Kongresses soll in der Form von ADDITIONS (also locker und unverbindlich, keineswegs vollständig) gedruckt werden. Ich warte nur, bis ich die korrigierten Abzüge von der Druckerei kriegen werde. Jetzt haben wir endlich Heft 5/6 von Bd. 1939/40 fertig. Dann kommt der Kongreß dran, der in Heft 1, Bd. 1940/41 zu erscheinen beginnt. Ich nehme an, daß die Versendung der Texte an die Diskutierer bald möglich ist. Der OSLO-Kongreß ist jetzt recht unwahrscheinlich geworden. Næss und ich hatten aber schon begonnen, die Grundlinien zu besprechen. Einige Skandinaven hatten Kommen zugesagt. Auch von hier wären wohl manche gekommen. Engländer und Franzosen wollte ich bald fragen. Ich wartete nur, was die erwartete ,,Frühjahrsoffensive`` bringen werde. Das wissen wir nun. Aber wir wollen abwarten, was mit Skandinavien weiter passiert. Schreib Deine SEMANTICS-Hefte, wie es Dir behagt. Es wird uns allen eine Ehre sein, sie mit vielen oder wenigen Worten in der LIBRARY zu drucken. Die Berechnung der Heftezahl hängt ja auch davon ab, ob der Satz sehr teuer ist, ein Heft ist ungefähr 40 Seiten, Gomperz mit 86 Seiten wird Heft 8--9. Es sind wohl ca. 480 englische Worte auf einer Seite. Aber zerbrich Dir darüber nicht den Kopf. Du hast ja Hefte der Sammlung. Die MONOGRAPH SERIES sieht genau so aus, wie die frühere Sammlung EINHEITSWISSENSCHAFT. Nur sind die Herausgeber jetzt Carnap, Frank, Jørgensen, Morris, Neurath und oben steht LIBRARY OF UNIFIED SCIENCE Formerly: Einheitswissensch\editor{aft} -- Unified Sc\editor{ience} --Sc\ekl{ience} Unitaire MONGRAPH SERIES No. -- \noindent Und unten steht W. P. VAN STOCKUM \ldots Chicago, Illinois, USA The University of Ch\editor{icago} Pr\editor{ess} \noindent Jetzt weißt Du alles Wissenswerte über diese Sammlung. Du findest ja die Anzeige in THE JOURNAL OF UNIFIED SCIENCE, Annonceneinlage. Der IALA\fnE{International Auxiliary Language Association.} will ich also liebevoll entgegenkommen. Ganz wie Du rätst. Schade, daß Du nicht da bist, hätte Dich gern vieles gefragt über wissenschaftliche Sprache. Die SOCIAL SCIENCES sind ein gutes Demonstrationsobjekt, weil sie so armselig sind. Da ist man schon mit Bescheidenem zufrieden. Das Wenige, was man erreichen kann, ist aber auch in den anderen Wissenschaften ähnlich vorhanden, nur redet man dort davon weniger, weil man so viel Feines hat -- wozu von den Mondgebirgen viel reden, wenn man Finsternisse berechnen kann und Parallaxen. Jetzt wird aber die FREUNDLICH-Sache aktuell. Ich rate ernsthaft, daß Frank mit Dir und Morris eine Einleitung vorschlagen, die Freundlich gern schreiben wird. Nicht zu viel. Schließlich hat Frank mit ihm die Sache \neueseite{}\zzz doch in Prag besprochen gehabt. Ich fand das Manuskript stark darstellend und weniger reflektierend, aber wie ich schon in Chicago betonte, ich halte das nicht für so schlimm. Der Charakter der einzelnen Hefte ist nicht so einheitlich. Im Laufe der Auflagen wird das besser werden. Und mir scheint, daß es gut ist, wenn die Cosmology auftritt, weil sie zum Unterschied von der Physik deutlicher zum Bewußtsein bringt, daß Tatbestände festgestellt werden -- das tut meiner Meinung nach die Physik auch, nur sind ,,zufällig`` die Tatbestände wenig lokalisiert usw., sondern mehr durch Korrelationen bestimmt -- man könnte das auch als einen ,,Mangel`` beschreiben. Ein wenig geschieht das in meinem Beitrag für die Enzyklopädie. Man kann Tatbestände räumlich-zeitlich-qualitativ fixieren oder nur einen Teil davon genauer, anderes unbestimmt usw. usw. Vielleicht sehe ich das in einer Weise, die weniger fruchtbarer ist als die anderer. Aber so seh ichs halt und reasonable ists sicher. Aber, daß eine kleine Einleitung gut wäre -- sicherlich. Es wäre mir lieb, wenn die Anregung für Einleitung zu mir käme, damit ich auch noch was dazu sagen kann. Wie wir das Mskpt versenden, wollen wir dann überlegen.} Draußen scheint die Sonne -- aber die Meteorologen vermuten, daß Nachtfrost kommt. Das Weltgeschehen erfahren wir in Fetzen durch das Radio. Was eigentlich passiert, ist unklar -- wie im Weltkrieg. Daß es auch den Führenden damals oft unklar gewesen, zeigen die historischen Analysen, z.\,B. der Marneschlacht. Mit Sorge denke ich an Paul\IN{\neurathsohn} und Freunde in Schweden und an die anderen in Dänemark und Norwegen.\fnEE{Am 9.~April begann der deutsche Überfall auf Dänemark und Norwegen.} Es dauert immer einige Zeit nach solchen Erschütterungen, bis man weiß, wie Kontakte herzustellen. Sobald ich was weiß, will ich Dir schreiben. Bitte verständige auch Du mich, wenn Du aus Skandinavien Nachrichten bekommst. Es wäre ja durch Zufall möglich, daß Du leichter etwas erfährst als ich. So sieht die Welt aus. Und wir sitzen hier auf der künstlichen Insel und informieren uns über Inundationen durch Clausewitz\IN{\clausewitz} und moderne Autoren.%\fnEE{Indundationen durch Clausewitz usw ???} Schreib mal ausführlich. Das ist jetzt sehr angenehm -- wirklich. Grüß alle guten Freunde und Bekannten von mir. Gibts denn gar keine neuen Separatabzüge? Was macht Deine Gesundheit? Mit guten Grüßen an Euch zwei beide} \grussformel{Dein\doned{\\\editor{Otto Neurath}}} \hspace{2cm}\includegraphicscn[width=6cm]{Grafiken/Elefant-13.png}{} \grafik{Platzhalter Grafik: Elefant} \ebericht{Brief, Dsl., 4 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/847077}{ON 222}; Briefkopf: msl.\original{10.\,IV.\,1940}; statt schriftlicher Signatur Zeichnung eines Elefanten.}