\brief[Neurath an Carnap, \ekll{Den Haag,} 15.~Januar 1940]% {Otto Neurath an Rudolf Carnap, 15. Januar 1940}{Januar 1940}\labelcn{1940-01-15-Neurath-an-Carnap} \selectlanguage{ngerman} \anrede{Lieber Carnap,} \haupttext{\cutcn{kaum war mein Telegramm an Dich abgegangen, kam auch schon Dein Brief an, dessen Empfang ich durch Telegramm bestätigte. Die Verträge will ich bald abfassen und fertigen lassen. Alles geht seinen gemessenen Gang, unser Verlag erledigt alles ebenso wie in Friedenszeiten -- ohne Übereilung. Ich werde demnächst zusammenhängend allen berichten. MISES ist erschienen, KELSEN in letzter Korrektur, GOMPERZ in letzter Korrektur, Verträge mit HEMPEL \& OPPENHEIM, STRAUSS signiert, für WAISMANN bereitliegend, warte nur auf seine Antwort, bin seit Kriegsbeginn ohne Nachricht. HEFT 4 des JOURNAL ist draußen, Heft 5/6 folgt soeben. An die Enzyklopädiemitarbeiter habe ich gekabelt und geschrieben. Tinbergen wird bald fertig sein. NUR BIOLOGIE ist schwierig. MAINX wird es wohl nicht machen, da er beim Militär sein muß. Also wen soll man nehmen? Ich kabelte diesbezüglich an Morris, annehmend, daß Du in seiner Nähe seist.} Die Sache Norwegen war nicht so dringend, nur eine der Vorsichtsmaßregeln, die man eben so nimmt. Ich hoffe, einiges in dieser Richtung tun zu können. Bisher sind die Norweger aber ablehnend. Man weiß eh nicht, wie es mit Norwegen stehen wird in einiger Zeit. Ich übrigen bin ich, wie immer, nicht fürs Übereilen eingenommen. Natürlich kann man auch mal damit schief fahren, aber wer einigemale sich übereilt, fährt auch leicht schief. Ich bin daher auch dafür, alles hier zu drucken, solange es irgend geht, die Änderung des Erscheinungsortes ist nicht zeitraubend, man kabelt der PRESS und bittet sie einzuspringen. Der Verlag STOCKUM ist ungewöhnlich nett und angenehm. Ich finde, es ist allerhand, daß sie in diesen schwierigen Zeiten so viel neue Verträge abschließen. Aber es sind eben schwer zu erschütternde Holländer. Hier gibts immer von Zeit zu Zeit ,,politische Spannungen``, z.\,B. seit gestern. Belgien hat seinen Generalstab für den Kriegsfall aufgestellt und Phase ,,D`` eintreten lassen. Hier ist ja längst mobilisiert und daher wurden nur neue Urlaube gesperrt, die alten aber nicht mal eingezogen. Seit wir hinter dem Inundationsgebiet leben, fühlt man sich ohnehin wesentlich sicherer, da Überraschungen schwer möglich sind. Wir sind sozusagen auf einer sehr großen Insel. Du wirst ja Photos in den Zeitungen und im Film von den inundierten Flächen gesehen haben. Es macht einen umfangreichen Eindruck. Es lebt sich idyllisch weiter, und da die Welt so traurig ist, sucht man Zuflucht in Lektüre, Schachspiel, Schreiben, Musik hören, ja wir haben sogar uns von Freunden vorsingen lassen und mitgesungen, zum Teil Volkslieder. Holl\ekl{ändische} Freunde lesen uns 700 Jahre holl\editor{ändische} Poesie vor. Mein Buch über TOLERATION AND PERSECUTION\fnEE{Zu diesem unvollendet gebliebenen Buchprojekt Neuraths siehe Sandner, ,,The German Human Climate and Its Opposite``, 78, sowie das Manuskript ,,Tolerance and Persecution`` (ON~207/K.88).} wird wohl interessant werden. Eben habe ich den Aufsatz für den FREEDOM-Sammelband fertig, \neueseite{}\zzz ARGUMENTATION AND ACTION,\fnEE{Unveröffentlicht gebliebenes Aufsatzprojekt. Siehe die Typoskripte ,,Argumentation and Action`` (ON 198/K.39--K.41).} den Du ja bald gedruckt wirst lesen können. Ich hoffe, nun auch bald mit den FOUNDATIONS OF THE SOCIAL SCIENCES fertig zu werden. Gut Ding braucht Weile. Ich bin ziemlich überlastet, da ja auch sehr viel für ISOTYPE zu tun ist. Wir bereiten eben eine zweite Tuberkuloseausstellung für USA vor.\fnEE{Es ist unklar, ob dieses Projekt noch durchgeführt werden konnte. Zur ersten Tuberkuloseausstellung in den USA 1936 siehe Kraeutler, \textit{Otto Neurath}, 158ff.} Was ich von der Situation denke? In der ganzen Welt unerfreulich bis obenhinaus, aber da Descartes\IN{\descartes} oben auf dem Weißen Berg mitgekämpft hat, Hobbes\IN{\hobbes} Revolutionen und Kriege mitmachte, Grotius\IN{\grotius} in Haft war, während man seinen Freund sogar köpfte, Leibniz\IN{\leibniz} usw. usw. ähnliche Zeiten mitmachten, so scheint das eben zu gehen, und die Musen scheinen auch während solcher Unruhe singen zu können, und Apoll dirigiert. Die Hauptsache ist, daß man eben noch irgendwie\fnA{\original{irgend wie}} mit VITAL STOICISM durchkommt. Na, vorläufig treff ich das noch. Aber Freunde machen einem Sorgen. Man kann sehr schwer Nachrichten bekommen. Man muß, wenn man aus dem Ausland schreibt, manchmal geradezu fürchten, jemandem zu schaden. Im allgemeinen schreiben wir nur Leuten, wenn man uns drum bittet, etwa an die Eltern von Strauss\IN{\straussmartin}, Ichheiser\IN{\ichheiser} usw. Wir haben keine Information über ,,a few dozens`` oder ,,100 people``, wie Du meinst. Entweder jemand ist ,,drin`` -- dann weiß man fast nichts, oder er ist ,,draußen``, dann meldet er sich im allgemeinen bei seinen Freunden früher oder später. Aber ich will einmal zusammenstellen, was man weiß, und rundsenden, wenn es genug ist. Bitte frag mal konkret, dann will ich sehen, was man weiß, was nicht. Z.\,B. aus Polen so gut wie keine Nachrichten, jedenfalls nicht über unsere Freunde. Wohl aber betrübliche Nachrichten über Verfolgungen und Hinrichtungen von Intellektuellen. Ich werde MORRIS\IN{\morris} bitten, daß er überall die engl\editor{ische} Fassung unserer Annoncen unterbringt. All das kommt jetzt in Gang. Ich hatte so viel aufzuarbeiten nach meiner stark verzögerten Heimkunft. Paul\IN{\neurathsohn} ist noch immer in technischer Ausbildung, er hofft, im Herbst sich Intellektuellerem widmen zu können. Abwarten. Olgas\IN{\neuratholga} Schwester Louise\fnEE{Louise Fraenkel-Hahn.}\IN{\fraenkelhahnlouise} ist in Paris gestorben (vor einiger Zeit operiert), nun sitzt der Mann (Maler) einsam in Paris. Einige Zeit war er irgendwo konfiniert, bis er wieder auf freien Fuß kam. Von Rose Rand\IN{\rand} hast Du ja direkt Nachricht, ich nehme an, auch von Martin Strauss\IN{\straussmartin}. Unser Ing. Strauß\IN{\straussing} aus Wien\fnEE{Sigmund Strauß.} ist jetzt auch in London. \cutcn{Den IALA-Leuten werde ich schreiben. Wenn sie die Kongreßpublikation kaufen wollen, ist das doch nur zu begrüßen. In der nächsten Nummer, Nr.~1 von 1940, beginnt der Kongreß zu erscheinen. Ich sende Dir Briefdurchschlag, wenn ich schreibe.} MODERN MAN IN THE MAKING hatte eine gute Presse in USA -- jetzt kommen schon die Briefe von amerikanischen Schulkindern, die allerlei fragen, Briefmarken haben wollen und einen von mir gezeichneten Elephanten. Na ja. Die holländische Über\-setzung\fnEE{Die niederländische Übersetzung von Neurath, \textit{Modern Man in the Making}, erschien unter dem Titel \textit{De moderne mensch ontstaat}.} ist eben ausgedruckt und wird sogar vom Chef des stat\editor{istischen} Amtes von Amsterdam, Univers\editor{itäts}dozent, eingeleitet. So wird man ,,hoffähig``. Auch sonst fungiere ich hier als Vertreter einer ,,klassisch`` gewordenen Opposition, werde von den normalen philosophischen Gesellschaften eingeladen, mich zu äußern -- was sogar honoriert wird, wenn auch bescheiden. So wurstelt man sich weiter durch dieses irdische Jammertal, dessen Jämmerlichkeit man an den angenehmen Ausschnitten abmißt, die einem zur Verfügung stehen. Mögen Sie Dir und Ina\IN{\ina} reichlich im neuen Jahr beschieden sein. Mit Grüßen von mir und Mieze\IN{\reidemeistermarie} an Euch zwei beide } \grussformel{Dein\\\editor{\ekll{Otto Neurath}}} \ebericht{Brief, Dsl., 2 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/847042}{ON 222}; Briefkopf: msl. \original{15.~Jan. 1939}, hsl. korrigiert zu \original{1940}; ohne Signatur.}